Porträt

laut.de-Biographie

Wolf Biermann

Systemkritiker, Stiefvater von Nina Hagen, Symbol für die Niedergang der DDR, Friedens-Aktivist, einer der berühmtesten deutschen Liedermacher, vielfacher Preisträger, Gitarrist, Dichter, in seinen Anfängen Kabarettist und Theaterautor: Zu Wolf Biermann fällt einem erst mal vieles ein, aber vielleicht nicht das eine entscheidende Lied. "Warte nicht auf bessre Zeiten" aus dem Jahr der Ölkrise 1973 ist, wenn man mal eines heraus greift, schon eine essenzielle Zusammenfassung des Biermann-Stils - skeptisch, manchmal lakonisch, kritisch, direkt, mit einer Vorliebe für Missstände, Probleme und alles Negative. Songs über Tod, Friedhof, Soldaten gehören zu seinem bevorzugten Repertoire.

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Für das Regime der DDR, in der er als Heranwachsender und junger Erwachsener beim Studium der Philosophie seinen Platz sucht, ist er schwer zu greifen. Das zeigt sich eindrucksvoll darin, dass ihm das SED-Regime vorwirft, sowohl Anarchist als auch Spießbürger zu sein - was sich recht widersprüchlich darstellt. Was aber 1976 als Argument zur "Ausbürgerung" benutzt wird, einem ungewöhnlichen, aber medienträchtigen Vorgang. Fritz Pleitgen, zu dieser Zeit ARD-Korrespondent in Moskau und kurz danach in Ost-Berlin, analysiert den Vorgang in einem gleichnamigen Buch 2001 rückblickend als "Anfang vom Ende der DDR."

Biermann versteht sich selbst weniger als Pessimist. Eher als Idealist, der die Gesellschaft in eine utopisch scheinende, aber doch mögliche bessere Zukunft führen und mit seinen Beobachtungen und Chroniken und scharfkantigen Formulierungen die Augen öffnen will. Ein moderner Barde, der die Musik als Mittel des Protests und der Bewusstseinsschärfung nutzt. Zwei seiner Alben enthalten Lieder für Kinder und richten sich an Schüler:innen. Auffallend viele Platten sind Live-Mitschnitte, umfassende Doppel-CDs. Biermann entfaltet sich vor Publikum.

Um die 30 Alben entstehen und erscheinen schon zu Anfang über westliche Labels und Medien wie CBS und Radio Bremen, ein Schlag ins Gesicht der SED. Die Stasi bezeichnet ihn als 'Objekt' und protokolliert sein intimes Verhältnis mit Eva-Maria Hagen, Ninas Mutter.

Für Gesamtdeutschland stellt er das Pendant und den Gegenpol zu Konstantin Wecker dar: Auf der einen Seite der bayerische Sozialist, der in den 2020ern mehr denn je seine politischen Ideale hoch hält und gegen Massentierhaltung, Waffenindustrie (in Bayern zahlreich vertreten), Ausbeutung, Fremdenfeindlichkeit und gegen den Neoliberalismus im Allgemeinen zu Felde zieht. Auf der anderen Seite der Merkel unterstützende Anti-Sozialist Biermann, ehemals sogar Befürworter: Da gibt es sein Lied "So oder so, die Erde wird rot", Bert Brecht als sein Vorbild, und den biographischen Fakt: Mit 16 zog er anno 1952 freiwillig in die DDR. In den Siebzigern hält er aber alle Revolutionen für gescheitert und bewertet - von Chile bis DDR - die entsprechenden Regime als verblendet. Sozialismus sei nicht mit Demokratie vereinbar, so sein harsches Fazit.

Aus dieser Haltung resultieren später auch seine Warnungen bezüglich des wiedervereinten Deutschlands. Da kritisiert er den Zuspruch für die AfD und für Sarah Wagenknechts Partei BSW in einem 'Zeit'-Interview, die "Erben des Hitlerschen Nationalsozialismus und des Stalinschen Nationalkommunismus" machten gemeinsame Sache.

"Das geht sein' sozialistischen Gang", ist ein Konzert in der West-BRD am 13. November 1976 überschrieben, der WDR überträgt es live aus Köln, es gibt einen Mitschnitt auf Platte. Drei Tage später verkündet das Politbüro in Ost-Berlin, Biermann seine Staatsbürgerschaft zu entziehen. Weitere drei Tage später läuft das Konzert im West-Fernsehen, viele in der DDR sehen es, vor allem auch viele, die Biermann bisher nie wahrgenommen hatten. Die SED schleudert damit einen Bumerang und schießt sich selbst ins Knie. So ist es zu verstehen, dass ab diesem Punkt klar war: Die DDR hat sich überlebt.

Nur ein einziges Mal erhält er für einen privaten Anlass eine Einreisegenehmigung in den 80er Jahren. Drei Wochen nach dem Mauerfall tritt Biermann im Dezember 1989 wieder auf östlichem Territorium auf, in Leipzig.

In der Nachwendezeit geht der Spannungspol Ost/West, Wolfs Dauerbrenner, verloren. Einen Plattenvertrag hat der in Hamburg Altona lebende Kreativkopf nicht mehr, verlegt aber seine Musik auf dem eigenen Label Lieder Produktion Altona. 1998 arbeitet er das Erbe des Schriftstellers und politischen Theatermachers Bertolt Brecht auf. Texten, denen Hanns Eisler, Komponist der Neuen Moderne und eine Zeitlang Autor im Tandem mit Brecht, keine Melodien verpasst hatte, schreibt Biermann welche, wie in "Orges Wunschliste".

Das Bühnenprogramm "Brecht, Deine Nachgeborenen" enthält teilweise Vorträge Biermanns über Brechts Leben, aber auch eigene Stücke wie Wolfs frühen Klassiker "Hugenottenfriedhof", setzt alles in eine Geschichte zusammen. Er geht schließlich auf die DDR-Nationalhymne ein, ein Auftragswerk des Politbüros mit der Musik von Hanns Eisler, und aufs 1990 diskutierte "Armut sparet nicht noch Mühe", eine Brecht-/Eisler-Nummer (bzw. ein Gedicht mit nachträglich beigefügter Melodie), die kurzzeitig als Kandidatin für die Nationalhymne nach der Wiedervereinigung gehandelt wurde. Die CD "Brecht, Deine Nachgeborenen" erscheint 1999.

Im selben Jahr fordert das Eingreifen der NATO und somit auch der deutschen Luftwaffe auf dem Balkan das Selbstverständnis der Bundesrepublik heraus. Im selben Jahr tourt Wolf Biermann begrüßt den ersten Kriegseinsatz deutscher Soldaten seit Hitler. Später spricht er sich auch für ein geschlossenes Anrücken der NATO 2003 im Irak aus, das die Regierung Schröder/Fischer ablehnt.

Immer öfter überrascht der einst kommunistisch geprägte Künstler damit, dass er sich im Unterschied zu den meisten anderen Liedermachern gar nicht so sehr der politischen Linken zugehörig fühlt. So nennt er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk 2012 Angela Merkel "dieses politische Genie" und provoziert zum 25. Jahrestag des Mauerfalls im Bundestag mit einer ordentlichen Diss-Rede gegenüber der Partei Die Linke.

Persönlich auf den Schlips getreten fühlt sich der Künstler, der selbst gerne austeilt, von einem Satz, den der Verlag Kiepenheuer & Witsch in einer Abhandlung über deutsche Nachkriegs-Literatur druckt. Wolf Biermanns Bedeutung wird in dem Buch klein geredet. Der Liedermacher gibt die beleidigte Leberwurst und trennt sich umgehend vom Verlag. 2016 erscheint bei der konkurrierenden Verlagsgruppe Ullstein/Propyläen seine knapp 600 Seiten starke Autobiographie. Sie ist auch als zehn CDs umfassendes Hörbuch erhältlich.

Der Kultur-Blog Perlentaucher fasst Wolfs überspannende Themen zusammen: "Er führt uns in die absurde Welt der DDR-Diktatur mit ihren Auswüchsen, aber auch ihren täglichen Dramen menschlicher Widerständigkeit. Und er erzählt von seinen in den Westen geschmuggelten, im Osten heimlich kursierenden Liedern, deren 'Verskunst, robuste Rhetorik und gewaltige Sprachkraft' Marcel Reich-Ranicki lobte."

Die Frankfurter Rundschau arbeitet in einer Bewertung des Buchs heraus, dass Biermann offenbar Feindbilder brauche, an denen er sich reiben und profilieren könne, lobt zugleich die Polemik und Volksnähe, mit der der Literat sein eigenes Leben beschreibt. Die Wochenzeitung Die Zeit nimmt besonders deutlich in dem Buch wahr, wie sich der Sänger mit seiner Abwendung vom Kommunismus und dem Thema des geteilten Deutschlands befasse. Hier attestiert der Rezensent, Wolf Biermann bereue - damals kurz vor seinem 80. Geburtstag - ausgiebig eigene Fehler. Der FAZ sticht ein anderer Aspekt heraus, nämlich die Familiengeschichte Biermanns im NS-Regime. Sein Vater Dagobert war Jude und starb im Konzentrationslager Auschwitz, als Biermann sechs war.

Aus Anlass seines 88. Geburtstags legt das Label Clouds Hill aus Biermanns Geburtsstadt Hamburg im November 2024 ein Tribute-Album mit Beteiligten aus deutsch(sprachig)em Chanson, Pop, Punk, Rap und Soul vor. Alligatoah, Bonaparte, Haiyti, Maxim und 18 weitere machen mit und sorgen für ein umfassendes "Wolf Biermann - Re:Imagined".

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