laut.de-Biographie
Carla Bley
Die Komponistin, Pianistin und Organistin Carla Bley stößt seit jeher Jazz-Traditionalisten vor den Kopf. Mit ihren einfallsreichen Collagen, die kindlich-naive Melodien mit sowohl minimalistischen als auch wuchtigen Klängen zusammenführen, hat sie die Hörgewohnheiten radikal umgekrempelt.
Als Tochter eines Klavierlehrers und Kirchenorganisten erblickt Carla Bley am 11. Mai 1936 im ländlichen Oakland als Lovella May Borg das Licht der Welt. Schon mit drei Jahren setzt sie sich ans Klavier und schreibt im Anschluss ihre ersten Arrangements. Weiterhin singt sie als Kind in einem Kirchenchor. Mit fünfzehn bricht sie die Schule ab und arbeitet in einem Plattenladen. Dort taucht sie in die Jazz-Welt ein. Anschließend flüchtet sie aus dem gottesfürchtigen, strengen Elternhaus und zieht 1953 nach New York.
Dort verdient sie in Nachtclubs als Zigarettenmädchen ihr Taschengeld. Im Birdland trifft sie auf Paul Bley, der sie dazu ermutigt, sich als Musikerin und Komponistin zu betätigen. 1957 heiraten die beiden.
Im legendären Five Spot in New York besucht Carla Bley ein Konzert von Ornette Coleman. Sein atonales Spiel beeinflusst sie nachhaltig. 1958 kommt es zur ersten Aufnahme einer ihrer Nummern. "O Plus One" verewigt das Paul Bley Quartet auf der LP "Solemn Meditations". In den 60er-Jahren greifen dann unter anderem Jimmy Giuffre und Tony Williams auf die Arrangements der Amerikanerin zurück.
1965 tritt sie als einzige Frau in die Jazz Composers Guild ein. Ihr zweiter Ehemann, der Wiener Komponist und Trompeter Michael Mantler, gehört ebenfalls dieser Vereinigung an, die sich für bessere Arbeits- und Vergütungsbedingungen der einzelnen Mitglieder einsetzt. Nur wenige Monate hält der Zusammenschluss. Die avantgardistische Big Band der Guild, das Jazz Composers Orchestra, bestehend aus hochkarätigen Musikern der New Yorker Avantgarde wie Don Cherry, Roswell Rudd und Gato Barbieri, erhalten Carla Bley und Michael Mantler dagegen am Leben.
1966 bekommen die beiden die gemeinsame Tochter Karen Mantler, mittlerweile eine bekannte Organistin . Weiterhin kümmert sich Carla Bley mit der Vetriebsfirma, der Jazz Composers Orchestra Association (JCOA), selbständig um die Vermarktung ihrer Werke. Steve Swallow vermittelt sie schließlich an dem Vibraphonisten Gary Burton, der 1968 die großartige Jazz-Suite "A Genuine Tong Funeral" mit ihren Kompositionen einspielt.
Charlie Haden zeigt sich so beeindruckt von dieser Aufnahme, dass er sie für sein Liberation Music Orchestra, das man als "linke Eingreiftruppe des Jazz'" bezeichnet, als Schreiberin beauftragt. Ihre ambitionierte Jazz-Oper "Escalator Over The Hill" erscheint 1971 als Dreier-LP auf JCOA. Bis zur Fertigstellung dieser Platte benötigt sie jedoch rund drei Jahre.
Neben dem Jazz Composers Orchestra, das bis 1975 Bestand hat, beteiligen sich viele weitere Musiker wie Ex-Cream-Bassist Jack Bruce, Linda Ronstadt und Charlie Haden an der Scheibe, die Versatzstücke aus Free Jazz, Cabaret, Rock, Klassik und indischer Musik zu einem eigenständigen, surrealen Gesamtkunstwerk miteinander verbindet. Der Begriff Polystilistik existiert zu dieser Zeit noch gar nicht. Die Oper mit den Lyrics des Dichters Paul Haines besitzt deshalb musikhistorisch eine Ausnahmestellung.
Seit 1972 betreibt Carla Bley mit Michael Mantler mit WATT ein gemeinsames Label. Sie veröffentlicht zahlreiche Alben mit programmatischem Charakter in unterschiedlichsten Konstellationen, etwa "Dinner Music" (1977) und "Social Studies" (1981), auf der Plattenfirma. Zusätzlich hat sie die "Fictitious Sports"- Suite des Pink-Floyd-Drummers Nick Mason aus dem Jahre 1981 komponiert und mitproduziert.
1978 gründet sie die Carla Bley Band. Der Formation schließt sich Steve Swallow am E-Bass an, der seit 1985 mit ihr zusammenlebt. Er begleitet sie nun bei fast all ihren Konzerten. Nebenher hebt sie eine Vielzahl an großen und kleinen Ensembles aus der Taufe, die sie mit den besten Jazz-Virtuosen aus den USA und Europa besetzt. Sie kreiert somit einen unnachahmlichen Big Band-Sound, der ihr viele Kritikerpreise beschert.
Darüber hinaus kritisiert sie zunehmend politische Missstände. Auf "Looking For America" von 2003 verwirklicht sie angesichts des Terrors in New York am 11. September 2001 mit ihrer Big Band eine eigene Nationalhymne. Auf "Not In Our Name" von 2004 kooperiert sie wieder einmal mit Charlie Hadens Liberation Music Orchestra. Nach seinem Tod übernimmt sie die Leitung des Ensembles. Mit der Platte richtet sie sich gegen die kriegerischen Machenschaften des damaligen US-Präsidenten George W. Bush.
In den 10er-Jahren widmet sie sich mit Steve Swallow und Andy Sheppard wieder verstärkt ihrem Trio, das seit dem 1994er Album "Songs With Legs" existiert. Die drei nehmen für das Münchener Qualitätslabel ECM mehrere Scheiben auf, die beweisen, dass Bley auch mit über 80 kaum an Kreativität und Einfallsreichtum eingebüßt hat und immer wieder zu erstaunlicher Höchstform aufläuft. Anfang 2020 veröffentlichen die drei Ausnahmemusiker nach "Trios" (2013) und "Andando El Tiempo" (2016) mit "Life Goes On" die dritte Scheibe einer fortlaufenden Reihe. "Life Goes On" wird mit dem Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik für 2020 und einem Deutschen Jazzpreis 2021 ausgezeichnet.
Als Jazz-Musikerin betrachtet sich Carla Bley keineswegs, sondern als Komponistin und Arrangeurin. Statt auf Spontanität setzt sie auf kluge Ideen und Konzepte. Ihre oftmals humorvollen Kompositionen lassen sich nur schwer einer bestimmten Schublade zuordnen. Die Übergänge zwischen E- und U-Musik verlaufen bei ihr fließend.
2019 absolviert Bley ihre letzte Tour, die sie u.a. in die Elbphilharmonie nach Hamburg führt. Am 17. Oktober 2023 stirbt Carla Bley im Alter von 87 Jahren.
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