laut.de-Biographie
Clairo
"Sie sieht aus, als sei sie gleichzeitig 22 und sechs Jahre alt", kommentiert ein YouTube-Kommentar Claire Cottrill recht treffend. Die 1998 geborene Songwriterin aus Massachusetts könnte als beispielhafte Verkörperung des Soundcloud-Indies herhalten, irgendwie verwurzelt im ironischen Nihilismus der Kids, die ihr Coming-of-Age mit Frank Ocean und Tame Impala erleben, und trotzdem so pur und wohlwollend, so harmlos, wie die Welt Optimismus nur zulassen kann.
Dabei beginnt sie ihr Dasein als Avatar der Relatability so sinngemäß wie möglich: mit Song-Covern auf Facebook. Aufgewachsen mit Eltern in der Medien-Branche, laufen schon mit zehn Jahren David Bowie oder die Cocteau Twins um sie herum, als Teenager postet sie Direktvideos von Coverversionen auf Facebook. Erst mit dem Eröffnen eines Soundcloud-Accounts bemerkt sie, dass sie auch eigene Songs schreiben könnte.
Gesagt, getan. Die Internetplattform wird zu einem Tagebuch im Audioblog-Format, das ihr ermöglicht, vor kleiner Menge (unter tausend Klicks) herumzuexperimentieren. Ein paar Songs erscheinen, bevor sie das Medium wechselt. Mit einem radikal simplen DIY-Video bewegt sie sich in Richtung YouTube und veröffentlicht einen Track, der plötzlich alle Erwartungen sprengt.
"Pretty Girl" heißt ihr Bedroom-Pop-Hit, den niemand hat kommen sehen. Tausend Klicks, zehntausend, hunderttausend, schon ein Jahr später liegt die Single bei Klickzahlen im zweistelligen Millionenbereich. Die Nummer geht so viral, dass in der Indie-Community bald alle möglichen Erklärungen herhalten müssen. Ist sie der zufällige Darling des YouTube-Algorithmus'? Liegt es eigentlich an der Vetternwirtschaft des Vaters, der beim FADER-Label arbeitet?
Eine konkludierende Antwort findet sich nicht. Aufhalten sich Clairo von dem sich einstellenden Backlash auch nicht. Sie veröffentlicht mit "Flaming Hot Cheetohs" und "4EVER" weitere Singles, die in einer ersten EP namens "Diary001" münden.
Ein zweites "Pretty Girl" findet sich dabei zwar nicht, aber zumindest in der Szene ist die Aufmerksamkeit endgültig da und neue Kollaboratoren ergeben sich.
Allen voran klinkt sich Frank Ocean-Produzent Rostam ein und wird nach dem unterschriebenen Labeldeal Stammproduzent für folgende Projekte. Während sich Clairo in der Welt herumtreibt, Shows spielt und sich mit Billie Eilish oder Snail Mail anfreundet, geht 2019 das erste Album an den Start.
"Immunity" erzählt vom Ausprobieren neuer Identitäten mit subtiler Referenz an die eigene Autoimmunerkrankung. Thematisch singt Clairo nun von frisch gefundener Queerness, von verflossenen Liebschaften und den Holprigkeiten des Daseins.
Ob man sie als Künstlerin nun essentiell respektiert oder nicht, im Grunde hat die Konsistenz ihrer Musik ihr Recht gegeben. Selbst wenn sie nur ein Industrieprodukt wäre, ist sie kein falsch ausgesuchtes Industrieprodukt. Sie ist tatsächlich der Avatar der Relatability, mit allen positiven und negativen Seiten.
Wo vergleichbare Künstler ihren Mythos verdichten, ausführen oder mit weiteren Elementen aufladen, scheint Clairo bewusst ein recht weißes Blatt zu bleiben. Sie ist der Sims-Charakter der Popsänger, die feinfühligste Projektionsfläche. Sieht man sich die Scharen von Teenagern an, die sich ihr verbunden fühlen, kann es gar nicht so schlecht funktioniert haben.