laut.de-Biographie
Deichkind
Glaubt man der Legende, so fußt die Existenz von Deichkind auf einem Fernseh-Bericht über Landschaftsbau. Dieser, so heißt es, animiert zwei junge Herren, Philipp und Malte, dazu, sich rappenderweise zusammen zu tun. Die bittere Erfahrung: Hip Hop auf Platt kommt nicht so gut an. Zum Erfolg gehört einiges mehr.
Philipp und Malte unterwerfen sich einem Imagewechsel. Zusätzlich zu Goldkettchen und Rastazöpfen bringen seit 1999 Buddy und sein Akkordeon internationales Flair ins Spiel. Komplett wird die Truppe jedoch erst durch den eher im Background agierenden Soundtüftler Sebi und DJ Phono, der die Crew bei Live-Auftritten unterstützt.
Unüberhörbar stammen Deichkind aus dem hohen Norden. Eigentlich in der Gegend um Bergedorf ansässig, ziehen sie, um musikalisch etwas auf die Beine zu stellen, nach Hamburg. Die Anfänge dürfen getrost als "sehr steinig" in Erinnerung bleiben. Bei ihrem ersten Konzert werden sie noch mit "Tomaten beschmissen". Da ihr Berufsleben ähnlich erfolglos verläuft, wenden sie sich trotzdem wieder der Musik zu.
Mit ihrem ironischen Stil ecken Deichkind beim Publikum häufig an. Vor allem die Hip Hop-Szene macht es den drei MCs schwer, sich zu etablieren. Schon ihr Erscheinungsbild grenzt sie vom Gros der meisten Zuschauer ab, da sie ganz und gar nicht den typischen Rapper-Klischee mit Mütze und Kapuzenpulli entsprechen.
Das ändert sich erst mit der zweiten Maxi ein wenig. Mit "Kabeljau Inferno" liefern die Deichkinder einen genialen Kopfnicker-Song. Ihr Stil wird auch über die Grenzen der Hansestadt hinaus bekannt. Mit der erhöhten Popularität gestalten sich die Live-Auftritte zunehmend angenehmer.
Ein richtiger Durchbruch erfolgt 2000 mit der Single-Auskopplung "Bon Voyage", bei der Deichkind erstmals mit anderen Künstlern aus Hamburg ins Studio gehen. Den Refrain des Songs steuert Rapperin Nina bei. Ansonsten haben sie nach eigenem Bekunden nicht sonderlich viel mit dem Rest der erfolgreichen Hip Hop-Szene am Hut. Dennoch unterstützen auf der Debüt-LP "Bitte Ziehen Sie Durch" Dendemann von Eins Zwo und Nico Suave die Jungs.
2001 bleibt es ruhig um die Band, lediglich Tour-DJ Phono kehrt mit einem eigenen Longplayer auf die Showbühne zurück. 2002 steht dann endlich das zweite Album der Deichkinder in den Läden. "Noch 5 Minuten Mutti" glänzt mit allem, wofür Deichkind stehen: Die Texte, mal ernst, mal prollig, mal melancholisch, werden sämtlich mit einer großen Portion Humor und Ironie und mit reichlich Hörspiel-Skits kredenzt.
Lange verschwinden die Kinder vom Deich danach in der Versenkung, bis sie im Februar 2005 bei Stefan Raabs "Bundesvision Song Contest" mit dem recht elektronischen Brüller "Electric Superdance Band" antreten. Dem Publikum ist das gute Stück wohl ein wenig zu durchgedreht; die Nummer landet auf Platz 14. Doch den Auftritt in Silberanzügen, begleitet von schwabbel-bäuchigen Posaunisten, den wird so schnell niemand vergessen.
Über dem zugehörigen Album brütet man ein gutes Jahr; Mitte Mai 2006 wird es auf die Hörerschaft losgelassen. Wie nach "Electric Superdance Band" zu erwarten war, hat die Produktion mit Hip Hop nichts mehr zu tun. "Aufstand Im Schlaraffenland" huldigt dem Synthesizer und birgt Elektro- und Disco-Pop, der seine Wurzeln unüberhörbar in den 80ern hat. Die Band selbst nennt es Tech Rap - und läutet damit ihre wohl erfolgreichste Karrierephase ein.
Gründungsmitglied Malte kehrt der Truppe noch im selben Jahr zwar den Rücken, einige Zeit später verlässt auch Buddy Inflagranti die bunte Truppe. Hinzu stoßen dafür der Bassist Porky Codex sowie der Hamburger Rapper Ferris MC, ein ausgewiesener Experte in Sachen Livedrecksauparty. Deichkind setzen ihren Kreuzzug wider den tierischen Ernst und die Konsumgesellschaft fort und spielen fröhlich einen Gig nach dem anderen als Vorbereitung auf ihr passend betiteltes Nachfolgealbum "Arbeit Nervt".
Völlig überraschend stirbt Bandproducer Sebi Hackert am 21. Februar 2009 in seiner Wohnung in Hamburg. Er wurde nur 32 Jahre alt. Nach dem Schock entscheidet sich die erfolgreiche Chaos-Truppe aber weiterzumachen und stellt drei Jahre später die Platte "Befehl Von Ganz Unten" in die CD-Regale. Zuvor kommt in Hamburg 2010 tatsächlich ein Theaterstück auf die Bühne: "Deichkind in Müll – eine Diskurs-Operette".
Immer wieder beweist die Band ihr Gespür für griffige Parolen: Songtitel wie "Leider Geil", "Bück Dich Hoch" oder "Like Mich Am Arsch" gehen in den alltäglichen Sprachgebrauch ein. Und die Platten verkaufen sich auch gut, "Befehl Von Ganz Unten" erreicht Platz zwei, "Niveau Weshalb Warum" (2015) sogar die Spitze der deutschen Albumcharts.
Deichkind bestechen aber in erster Linie durch ihre Live-Performance, weshalb DJ Phono zu jeder Tour auch mit einer neuen durchgeknallten Idee um die Ecke kommt: "Mit unserer Show wollten wir anfangs ja nur das alte Hip Hop-Image zerstören. Die Bühnenkluft wirkte dabei eher wie ein Schutzschild. Aus diesem Pool von Requisiten ist dann eine eigene Ästhetik geworden", so der Tour-DJ in einem Musikexpress-Interview.
Ferris MC hat 2018 trotzdem genug von der Gaudi. Er möchte sich auf seine Solokarriere konzentrieren und verlässt die Band. Ein halbes Jahr später erscheint sein Deutschrock-Album "Wahrscheinlich Nie Wieder Vielleicht".
Die Ex-Kollegen bleiben derweil ihrem Stil treu und werkeln am siebten Deichkind-Album. Für die im Frühling 2019 startende Promo-Kampagne engagieren sie Schauspieler Lars Eidinger als persönliches Maskottchen. Tintenfisch-mampfend stampft der für das Kollektiv in den Musikvideos zum kommenden Album durch Berlin und macht sich zum Affen. Und er ist nicht der einzige prominente Name, den Deichkind für "Wer Sagt Denn Das?" zu Krawall und Remmidemmi verführen. Unter anderem mischen auch Mark Forster, Till Lindemann, Das Bo und Olli Schulz mit.
Auf dem Reeperbahn Festival präsentieren Deichkind die neue Platte bei einem Guerilla-Gig, eine Woche später steht sie Ende September 2019 in den Läden. Musikalisch ist alles beim Alten, vielleicht mit ein paar Experimenten mehr. Textlich erlaubt man sich ein paar politische Spitzen. So soll es sein, findet auch die Truppe selbst: "Das ist genau der Glam, das ist Glam, das ist genau das, was ich mag, an Deichkind. Das ist genau das, was ich fühl'n will. Das ist das, was die Leute sehen woll'n. Das ist der Knallbonbon, Diggi!"
2023 ist es dann an der Zeit für ein neues Album. Mit den Tracks "In der Natur" und "Geradeaus" pieksen die Hamburger wieder mal wie mit einem Seziermesser in die dicke Wohlstandsschicht unserer kapitalistischen Gesellschaft. "Neues vom Dauerzustand" erscheint am 17. Februar 2023.
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