laut.de-Kritik
Das Kapitel Burton C. Bell findet ein würdiges Ende.
Review von Toni HennigIn den letzten Jahren spitzte sich die Lage bei Fear Factory nach ihrer großen Zäsur 2009, als Christian Olde Wolbers und Raymond Herrera die Formation verließen, immer weiter zu. Immer wieder gab es Meinungsverschiedenheiten, Rechtsstreitigkeiten um die Namensrechte und Besetzungswechsel.
Höhepunkt war der große Knall im September 2020, als Gitarrist Dino Cazares eine Crowdfunding-Kampagne ins Leben rief, um die Produktionskosten für ein neues Studioalbum zu decken, da er wieder die Namensrechte an der Band besitze, wie er später in einem Statement verriet. Sänger Burton C. Bell distanzierte sich umgehend von der Kampagne: "Das Werk ist seit 2017 fertig, Artwork inklusive. Das hier ist für Dinos Gerichtskosten. Ich habe mit diesem Beschiss nichts am Hut." Cazares wies die Vorwürfe zurück.
Nur zwei Wochen später verkündete Bell seinen Ausstieg aus der Formation und warf zudem drei "ehemaligen und gegenwärtigen" Mitgliedern unter anderem Geldgier vor. Zudem sorgten die Streitigkeiten zwischen Dino und Burton, die sich auch über die folgenden Monate erstreckten, und die Corona-Pandemie dafür, dass zwischenzeitlich nicht mehr klar war, ob die Platte überhaupt noch erscheint. Nun hat das Warten ein Ende. Mit "Aggression Continuum" steht Studioalbum Nummer zehn in den Läden.
Für das hat sich Dino wieder einmal die Dienste von Mike Heller gesichert, der die zuvor programmierten Drums neu einspielte. Zudem hat er erneut Mixer Andy Sneap und Rhys Fulber von Front Line Assembly mit ins Boot geholt. Der Letztgenannte zeichnet sich für das Programming von zwei Songs zuständig. Als Produzenten gewann Cazares Damien Rainaud, der in der Vergangenheit schon mit DragonForce zusammenarbeitete, und an den Keyboards hört man Igor Khoroshev (Ex-Yes). Außerdem gehört Bassist Tony Campos wieder fest zur Band.
Schon der Opener "Recode" beweist, dass Dino nach dem überraschend starken Vorgänger "Genexus" wieder einmal die richtigen Leute um sich geschart hat, gleicht doch der Sound Fear Factorys durch die cineastischen Keyboards und die wuchtige Produktion einem Action-Blockbuster in höchster Bild- und Tonqualität. Dazu funktioniert die Mischung aus aggressiven Strophen, hymnischem Refrain und einer Bridge, die für zusätzlich Spannung sorgt, ausgezeichnet. Zudem kommen das kraftvolle Drumspiel und die spielfreudigen Percussion-Einschübe Hellers noch besser zum Tragen als auf dem Vorgänger. Ein Einstand nach Maß.
Auch in "Disruptor" lassen die US-Amerikaner nichts anbrennen, wenn sie Groove mit geradlinigem Songwriting paaren. Groove hat auch das Titelstück, das mit mechanisch präzisen Drums und gnadenlosen Stakkato-Riffs an glorreiche "Demanufacture"-Zeiten erinnert und mit einer überaus eingängigen Hook aufwartet, die mit zum Besten gehört, was die Formation seit Jahrzehnten hervorgebracht hat.
In "Purity" kommt im Anschluss durch die sprechgesangsartigen Strophen "Descent"-Feeling nicht zu kurz. Leider fällt der Refrain, wie auch im folgenden "Fuel Injected Suicide Machine", recht beliebig aus. Dafür schlägt keine Fear Factory-Platte nach "Obsolete" so sehr die Brücke zum klassischen Bandsound wie "Aggression Continuum", trotz der groß angelegten und aufwendigen Produktion.
Die kurze Durststrecke beendet ein Paukenschlag. "Collapse" bietet nämlich mit gnadenlosen Hammerschlägen, fast durchgängig aggressiven Shouts und Riffs sowie düsteren Synthies ein kompromissloses Update von "Body Hammer". So unangenehm und garstig hat die Truppe lange nicht mehr geklungen. "Manufactured Hope" gestaltet sich wieder deutlich cineastischer, hat aber durch die zackige Saiten-Arbeit und die schneidigen Keyboard-Einschübe mächtig Feuer unterm Hintern. Außerdem verfügt die Nummer über eine der besten Hooks des gesamten Albums.
Ganz anders "Cognitive Dissonance" das zwar in den Strophen ordentlich Druck besitzt, aber wieder einmal gute Ideen im Refrain vermissen lässt. Da schindet "Monolith" durch die klanglich modernere Ausrichtung und den Wechsel aus harten Shouts und kristallklarem Gesang einen weitaus mächtigeren Eindruck. Weiterhin vernimmt man gegen Ende, und das ist für Fear Factory neu, ein kurzes Gitarrensolo.
Im epischen Rausschmeißer "End Of Line" gibt es schließlich in den ersten rund eineinhalb Minuten kein Halten mehr: Eine Wuttirade Burtons jagt die nächste. Danach heißt es im hymnischen Refrain mit klagender Stimme: "How can this be reality?" Durch die ständige Wiederholung im weiteren Verlauf verfehlen die Zeilen ihre eindringliche Wirkung nicht. Die dystopischen Töne Rhys Fulbers hinterlassen dann am Ende nur noch Schutt und Asche. Ein Sample mit den Worten "fear is the mindkiller" streut der Kanadier außerdem noch ein. So hieß auch die erste EP Fear Factorys aus dem Jahre 1993, die er zusammen mit seinem Kollegen Bill Leeb remixte.
Ein Abgesang, der nicht perfekter in Szene gesetzt sein könnte und ein Track, der den Ist-Zustand der Formation präzise wiederspiegelt. Wie es mit der Band weitergeht? Das steht noch in den Sternen, zumal Dino im Grunde noch gar keinen Plan hat, wem er fortan das Mikro anvertraut. Dafür findet das Kapitel Burton C. Bell bis auf ein paar wenige Schwachstellen ein würdiges Ende.
6 Kommentare mit 5 Antworten
Das neue Album schlug direkt die Brücke zu Obsolete. Mir gefällt es sehr gut und läuft bei mir in heavy Rotation. Schade, das danach wohl nicht Neues mehr kommen wird.
Dino hat doch bereits angekündigt, dass ein Ersatz für Burton kommen soll/wird und man weitermachen möchte.
Ich denke, VVi bezieht sich hier auf die inzwischen wohl als "klassischste" aller FF-Konstellationen wahrgenommene Besetzung mit Bell/Cazares als Konstanten.
Wirklich ein gutes Album. Hätte nicht gedacht, dass noch eins kommt. Die haben sich mit "Genexus" vor 6 Jahren nochmal aufgerappelt und mit "Agression Continuum" einen stimmigen Nachfolger abgeliefert. Ohne Bell kann ich mir eine Zukunft aber nur schwer vorstellen.
Nachdem ich die Band lange ignoriert habe, habe ich mal wieder reingehört. Die Musik ist eigentlich wirklich gelungen aber mit dem Clean Gesang kann ich einfach nach wie vor nichts anfangen. Das passt doch einfach irgendwie nicht. Bin ich der einzige, der das so sieht? '^^
Nö. Mal außen vorgelassen, dass das "Strophe rotzig-Refrain clean"-Konzept altbacken af ist, finde ich Burtons Arbeit hier auch sehr bemüht und uninspiriert, gerade in den cleanen Parts. So'n Chuzpe wie bei Digimortal erreichen sie freilich nie mehr.
^ this ^
Finde leider ebenfalls, dass mensch Bell hier die Bemühungen um einen Abschluss mit dem Thema anhört. Anscheinend jedoch mehr, um das Thema jetzt weiter und unbeirrt juristisch beackern zu können, denn einen kreativ-versöhnlichen Abschied zum Projekt FF zu schaffen...
Clean-Gesang ist doch beinah von Anfang bei Fear Factory dabei? Ich sage nur "Replica" (ja, einfach nur groß). Das passt schon, finde ich.
Ansonsten finde ich das Album nicht schlecht, aber auch nicht überragend. Für mich 3/5.
Der Wechsel zwischen Clean Gesang und Growls war von Anfang an Teil von Fear Factory. Auch schon auf Soul of a New Machine. Burton C. Bell wird deswegen sogar eine Art Pionierleistung diesbezüglich nachgesagt und vielen als Einfluss gezählt. Deswegen finde ich es lustig wenn jetzt jemand schreibt, dass der Clean Gesang nicht zu Fear Factory passe.
Als erstes ist es nötig, sich zu beruhigen; die verletzte, in Wallung gebrachte Fan-Seele in Entspannung zu versetzen.
Sile69 meint wahrscheinlich nicht das Konzept Clean-Gesang an sich, sondern dass es (vor allem auf vorliegendem Album) krampfhaft in jeden Chorus eingebaut wird. Am besten noch ein Full Stop vor besagtem Chorus.
Gerade wegen dem Wechsel von Growls und Clean-Refraing sind Fear Factory ja so gut. Ohne das wäre es ne andere Band.
Ja zu Beginn (Concrete) haben sie noch Death Metal gespielt, aber schon auf der Souls of a new machine gab es dieses Wechselspiel.
Und zur aktuellen und leider vermutlich endgültig letzten FF-Scheibe mit Burton.
Grandioses Brett, ja sie kopieren sich teilweise bzw. viele Songs nach dem Schema F(F), aber man willl von Fear Factory auch nix anderes und kein 2. Mal so ein einttäuschendes Experiment wie Transgression.