21. August 2020
"Wir sind keine 80er-Jahre-Band"
Interview geführt von Michael SchuhIndochine sind eine der erfolgreichsten Popbands in Frankreich. Nun feiern sie 40 Jahre Karriere mit zwei Singles-Compilations.
Sänger Nicola Sirkis ist das letzte Originalmitglied der 1981 gegründeten New-Wave-Band Indochine. Zwei Mitglieder verlassen die Gruppe bis Mitte der 90er Jahre, darunter auch Komponist Dominique Nicolas. 1999 stirbt Gitarrist Stéphane Sirkis, der Bruder des Sängers, im Alter von 39 Jahren an Hepatitis. Die Zukunft der Band, die vor allem die erste Hälfte der 80er Jahre mit beispiellos lebensfrohem Synthie-Pop dominiert, hängt am seidenen Faden, für Presse und Labels sind Indochine damals ohne den Komponisten von "L'aventurier" am Ende. Doch Nicola Sirkis sucht sich neue musikalische Mitstreiter und feiert ab 2001 noch größere Erfolge als zuvor.
Im Vorfeld der Veröffentlichung von zwei großen Album-Retrospektiven gibt er auch deutschen Medien Mail-Interviews. Hierfür werden seitens des Labels keine Mühen gescheut: Unsere auf englisch formulierten Fragen übersetzt man für Sirkis ins Französische, seine französischen Antworten für uns zurück ins Englische. Was nebenbei recht schön illustriert, worin das große Problem von französischen Bands besteht, in Deutschland Fuß zu fassen.
Nicola, du bist jetzt 61 Jahre alt und deine Karriere begann vor 40 Jahren. Wie überlebt man so lange im Haifischbecken Musikindustrie?
Nicola Sirkis: Hauptsächlich wohl mit Leidenschaft und dem Glauben an die Musik, aller Widerstände zum Trotz, die einem auf diesem Weg begegnen. Das ist das Wesentliche. Von Anfang an erlebten wir das. Es hieß: Der Name Indochine sei schlecht, wir sollten uns einen Besseren überlegen, unser Erfolg sei nur von kurzer Dauer und so weiter. Ich schätze, daraus entwickelte ich erst den starken Wunsch, für diese Band zu kämpfen, für ihre Musik und meine Träume. Die Antwort ist aber ein wenig auch schon Teil der Frage, denn eine Erfolgsgeschichte, die 40 Jahre andauert, ist für die heutige Musikwelt total irrational und verrückt. Es liegt etwas Magisches im Erfolg von Indochine.
Ihr plant große Feierlichkeiten: Ende August erscheint zunächst eine Singles-Collection, die die Jahre 2001 bis 2021 abdeckt, im November folgt dann die "Singles Collection (1981-2001)". Was ging dir durch den Kopf, als du all diese Studioaufnahmen wieder gehört hast?
Ich bin mir gegenüber sehr kritisch. Ich höre die Fehler, gerade meine Fehler, aber insgesamt überwiegt der Stolz darüber, über 53 Singles veröffentlicht zu haben, von denen es die meisten auf Platz eins geschafft haben.
Die nun erscheinende Best Of-Platte ab 2001 zeigt die Karriere von Indochine ohne deinen Bruder, der 1999 mit 39 Jahren starb. Wo siehst du Ähnlichkeiten in diesen beiden verschiedenen Band-Karrieren?
Ich war 20 Jahre alt, als ich die Band gegründet habe. Die erste Band-Periode von 1981 bis 2001 waren Jahre der Besinnungslosigkeit, den den Erfolg brachten, seinen Höhepunkt und die Dekadenz. Die danach folgenden 20 Jahre markierten eine Wiedergeburt, die für die Band künstlerisch gehaltvoller ausfiel. Das einzig Bedauernswerte ist, dass mein Bruder nicht mehr da ist, da ich es mir so sehr wünschen würde, das alles mit ihm zu teilen.
Soweit ich weiß, habt ihr euer erstes Konzert in Deutschland überhaupt erst im Rahmen der "Black City Tour" 2015 im Berliner Postbahnhof gespielt. Wie hast du diesen Abend erlebt und warum habt ihr nicht schon viel früher bei uns gespielt?
Das Berlin-Konzert ist mir noch in bester Erinnerung. Ich liebe die Stadt, in der wir unsere Platte "Black City Parade" aufgenommen haben. Ich weiß auch noch, als ich nach einem Radio-Interview dort vor dem Gebäude einen Fan traf, der extra auf mich gewartet hat. Das hat mich sehr berührt und ich sagte: "Du bist mein erster deutscher Fan." Ich weiß, dass wir bei euch eine Art Kultband sind, unsere Songs auf Elektro-Partys laufen und wir auch auf Festivals eingeladen werden. Warum wir nicht früher in Deutschland aufgetreten sind? Keine Ahnung, ich schätze unsere Plattenfirmen haben sich nicht gerade darauf gestürzt, Indochine zu promoten, ob vorsätzlich oder nicht. Leider hatten wir auch nie die Zeit, mehr Konzerte zu spielen. Aber wie es aussieht, ändern sich die Dinge gerade, da unsere Plattenfirma Sony Music auch den Blick nach Deutschland richtet und wir hier nun ein Interview führen.
"Wir sind keine 80er-Jahre-Band"
Für französische Künstler ist es sehr schwer, in Deutschland Fuß zu fassen, so lange man nicht Daft Punk ist. Benjamin Biolay kennen nur Spezialisten und der Superhit "Alors On Danse" stammt von einem Belgier. Ist Deutschland für französische Musiker verlorenes Territorium?
Überhaupt nicht. Wie ich schon sagte: Wenn ein Label alles unternimmt, um einen Künstler bekannt zu machen, sehe ich keinen Grund, warum es nicht funktionieren sollte. Ich glaube schon, dass die Deutschen neugierig sind und Musik unabhängig von ihrer Herkunft genießen, gerade französische Rockmusik. Daft Punk singen auf englisch und werden heute eher als internationale denn als französische Band angesehen. Mit KMS Records führe ich mein eigenes Label, wo wir die Band Requin Chagrin unter Vertrag nehmen konnten, die auch schon kleine Erfolge in Deutschland feierte.
Wenn man in Deutschland von Indochine spricht, heißt es meistens: "Das sind die französischen Depeche Mode". Langweilt dich solch eine Bezeichnung?
Nein. In Frankreich waren wir lange die französischen The Cure und in Kanada die französischen U2. Wenn die Deutschen uns als französische Depeche Mode betrachten, kann ich damit leben.
Welche Konzerte haben dich als Jugendlichen geprägt?
Ganz klar Patti Smiths großartiges Paris-Konzert 1978. Patti Smith und David Bowie haben wahrscheinlich den Wunsch in mir ausgelöst, mich künstlerisch auszudrücken.
Indochine war eine große Kultband der 80er Jahre. Bist du in der Rückschau zufrieden, wenn du auf diese Jahre zurück blickst? Hättest du vieles lieber anders gemacht?
Das Paradoxe ist, dass wir keine 80er-Jahre-Band sind. Wir konnten zwischen 2000 und 2010 viel größere Erfolge feiern: Mehrere Stadionkonzerte, mehr als 15 Millionen verkaufte Alben und viele Nummer-Eins-Singles. Der Großteil unseres Publikums mag Indochine nicht wegen des Zaubers der Nostalgie, was es gerade so unglaublich macht.
"Der Bataclan-Anschlag war die schlimmste Prüfung für Paris"
Die 90er Jahre waren weniger angenehm für euch. Die Presse nannte Indochine eine Gruppe der Vergangenheit, irgendwann fandet ihr medial gar nicht mehr statt. Wie erinnerst du diese Zeit?
Es ist wahrscheinlich typisch französisch, dass die Leute etwas verdammen, was sie einmal geliebt haben. Andererseits sind im Laufe einer 40-jährigen Karriere Höhen und Tiefen irgendwo auch normal. Vielleicht hatten es die Zeitungen irgendwann einfach satt, immer und überall Indochine zu hören, so wie wir selbst auch.
2015 wurden bei einem Konzert im Pariser Bataclan 130 Menschen im Zuge eines Terroranschlags getötet. Du hast an diesem Ort oft gespielt. Wie hat dich dieser Tag als Pariser Bürger und Musiker verändert?
Was dort passiert ist, war die schlimmste Prüfung und der schlimmste Abend, den die Menschen von Paris, alle Musiker und Rock-Fans durchstehen mussten. Seither weigere ich mich in diesem Club aufzutreten, im Gedenken an die Opfer. Ich fände es gut, wenn die französische Regierung beschließen würde, den Ort in eine Gedenkstätte umzuwandeln.
Vor ein paar Jahren seid ihr zum ersten Mal im riesigen Pariser Stade de France aufgetreten. War das der größte Moment in deiner Karriere?
2010 war unser erstes Mal, 2014 folgten zwei weitere, alle ausverkauft. 2021 wollen wir fünf verschiedene Stadien in Frankreich füllen. Das sind unglaubliche Gefühle der Intimität und der Verbrüderung mit einem generationenübergreifenden Publikum.
Wird Songwriting mit zunehmendem Alter schwieriger?
Da gibt es keine Regel: Die Geburt eines Songs ist immer ein magischer Moment. Manchmal funktioniert es und manchmal nicht, man kann es nicht erklären.
Vier Jahrzehnte Songwriting liegen hinter dir, woher nimmst du heute deine Inspiration zu schreiben?
Die Inspiration liefert mir das Leben, der Alltag, Ereignisse, Ausstellungen, Filme oder das Ballett. Grundsätzlich alle Dinge, die mich berühren oder Leidenschaft in mir auslösen.
Nenne uns bitte deine Top-3-Indochine-Alben.
Alle 13.
Wie sollte Indochine den Menschen in Erinnerung bleiben?
Um ehrlich zu sein, ist das nicht mein Problem. Ich weiß nicht, wie ich die Frage beantworten soll. Entweder die Menschen lieben Indochine oder nicht. Ich kann nur sagen, dass uns alle unsere aufgenommenen Songs und alle Konzerte, die wir gegeben haben, viel Spaß bereitet haben.
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