laut.de-Kritik
So gut, dass man ihm die Daumen brechen müsste.
Review von Giuliano BenassiDass seine Karriere an Fahrt aufnahm und dass er überhaupt eine Karriere hatte, lag an zu salzigem Popcorn. So erzählte es John Prine jedenfalls gerne. Im Oktober 1970 war Roger Ebert, Filmkritiker der Chicagoer Zeitung Sun Times, wegen diesem Popcorn vorzeitig aus dem Kino gegangen und in eines seiner Konzerte gestolpert. Nachdem er seinen Durst mit Bier gestillt hatte, hörte er dem Sänger zu und war so begeistert, dass er den Streifen vergaß und stattdessen eine lesenswerte Konzertreview schrieb.
Der Artikel klingt wie einer jener Promotexte, die Neuveröffentlichungen beiliegen. "Er tritt erst seit Juli professionell auf, er singt im abgelegenen Fifth Peg, 858 W. Armitage, und momentan verdrängen Country-Folk-Sänger nicht gerade die Rockmusik aus dem Geschäft. Aber Prine ist gut.", schrieb Ebert unter anderem. "Danach gab es keine freien Plätze mehr" freute sich Prine.
Eine nette Anekdote, mehr nicht, denn dass eine Kritik aus Chicago zu einer 50 Jahre langen, durchaus erfolgreichen Karriere führte, ist natürlich Quatsch. Die verdankte Prine alleine sich selbst und seinen Liedern.
Wenn jemand Geburtshilfe leistete, dann Kris Kristofferson, der nach einem Auftritt in Chicago mit einem anderen lokalen Singer/Songwriter, Steve Goodmann, ein Konzert Prines besuchte. "Der Typ ist so gut, dass man ihm die Daumen brechen müsste", drohte der Country-Star scherzhaft, nahm ihn und Goodmann aber mit nach New York, um sie dort im Vorprogramm spielen zu lassen. Im Publikum saß Jerry Wexler, der Prine am Folgetag einen Vertrag bei seinem Label Atlantic Records unterbreitete.
Songs hatte Prine genügend auf Lager. 1946 in eine Arbeiterfamilie geboren, wuchs er in einem Vorort von Chicago auf. Mit 14 spielte er Gitarre und schrieb erste Lieder; um sich ein Taschengeld zu verdienen, trug er Zeitungen aus. Nach dem Schulabschluss wurde er zum Wehrdienst eingezogen. Er hatte Glück und durfte ihn als Mechaniker auf einem Stützpunkt in Stuttgart leisten. Dennoch bekam er natürlich mit, wie unbedarfte Jugendliche wie er in Vietnam landeten und als seelisch wie körperlich gebrochene Erwachsene zurückkehrten.
Femde und eigene Erfahrungen verarbeitete er in seinen Liedern. Sein Beruf als Postbote kam ihm dabei zugute, viele Texte dachte er sich aus, während er von Haus zu Haus lief. Abends sang er sie in Cafés und Kneipen, erst bei Open Mic-Veranstaltungen, dann auch gegen Bezahlung. Bis eines Abends der durstige Filmkritiker auf ihn aufmerksam wurde und wenige Monate später Wexler.
Um seinen Sound ein wenig aufzupeppen, schickte ihn sein Label nach Nashville zu Produzent Arif Mardin, einer der Großen im Business. Als Begleitung dienten ihm erstklassige Sessionprofis, was den unerfahrenen Prine erst mal einschüchterte. Kein Wunder: wie er später in den Liner Notes zu einer Best Of festhielt, waren Musiker von Elvis Presley mit am Start. Perkussionist Hayward Bishop zeigte sich auch wenig begeistert: "Der Typ sang mit der Nase, er hatte keine Kraft in der Stimme. All seine Songs waren in derselben Tonart! Ich dachte: 'Kommt mir vor, als würden wir einen verdammten Hund melken'".
Irgendwie hat Bishop Recht. Aber den wesentlichen Punkt hat er nicht verstanden. Wie Ebert bereits in Chicago festgestellt hatte, musste man Prine einfach machen lassen. "Er singt eher leise, und seine Gitarrenarbeit ist gut, aber er drängt sich nicht in den Vordergrund. Er fängt langsam an. Nach ein oder zwei Liedern beginnen sogar die Betrunkenen, seinen Texten zuzuhören. Und dann hat er dich."
So ist es auch hier. "Illegal Smile" erzählt die Geschichte eines Einzelgängers, der ein ereignisloses Leben führt. Außer dass er abends einen durchzieht und dann mit einem "illegalen Grinsen" durch die Gegend läuft. So zumindest die Interpretation vielen Zuhörer. Prine selbst meinte, er habe sich eher selbst beschrieben. Er sei oft grinsend durch die Gegend gelaufen, über Dinge schmunzelnd, die nur er lustig fand.
Das folgende"Spanish Pipedream" handelt von einer Tänzerin in einer Topless-Bar und einem desertierten Soldaten, die aufs Land flüchten und ein unwahrscheinliches Hippie-Leben führen. "We blew up our TV / Threw away our paper / Went to the country / Built us a home / Had a lot of children / Fed 'em on peaches / They all found Jesus on their own", so das Fazit ihrer glücklichen Beziehung.
Die Aufmerksamkeit erobert, folgen drei der Lieder, die Prine für den Rest seines Lebens begleiteten. Als Jugendlicher hatte er auch in einem Altersheim Zeitungen ausgetragen und festgestellt, dass ihn viele Bewohner so herzlich begrüßten wie einen Enkel. In "Hello In There" stellt er sich ein alterndes Ehepaar vor, das sich nicht mehr viel zu sagen und auch sonst kaum Kontakte hat. "Alte Bäume werden widerstandsfähiger und alte Flüsse mächtiger. Alte Leute werden einfach nur einsam und warten darauf, dass jemand vorbei kommt, um 'Hallo' zu sagen", so die traurige Feststellung.
Harter Tobak für einen 25-Jährigen. Doch es kommt noch heftiger. "Sam Stone" ist Prines bekanntester Song, der Titelstifter ein Kriegsrückkehrer am Ende seiner Nerven und mit einem kleinen Granatsplitter im Knie, dazu noch "with a Purple Heart and a monkey on his back", also mit einer militärischen Auszeichnung und einer Drogensucht. "There's a hole in daddy's arm where all his money goes / And Jesus died for nothin', I suppose", lautet der Refrain. Stone stürzt sich und seine Familie ins Verderben und setzt sich schließlich den goldenen Schuss. Seinem Sohn bleibt nichts anderes übrig, als das Haus zu verkaufen, das sein Vater mit der Abfindung vom Militär gekauft hatte, um ihn auf dem örtlichen Heldenfriedhof zu begraben, in eine Flagge gehüllt.
Bezeichnend für die letzten zwei Lieder wie auch für Prines gesamtes Werk ist, dass er nicht richtet oder den moralischen Zeigefinger hebt. Er beschreibt seine Charaktere stets mit einer mitfühlenden Wärme. Shit Happens, man muss es halt nehmen, wie es kommt. Es hilft jedoch, die Zuversicht und den Humor nicht zu verlieren, wie er es selbst im weiteren Verlauf seiner Karriere vorlebte.
Das letzte der drei Lieder ist ebenfalls traurig, auch wenn es als fröhliche Appalachia-Folknummer daher kommt. Als einziges Stück nahm Prine es nicht in Nashville auf, sondern in New York, mit seinem Bruder Dave und seinem Freund Goodman. Dave hatte ihm mit 14 die ersten Griffe auf der Gitarre beigebracht, mit Goodman schrieb Prine noch einige Lieder, bis dieser 1984 an Leukämie starb. "Paradise" handelt von einer gleichnamigen Ortschaft in Kentucky, aus der Daves und Johns Familie stammte. Eine idyllische Gegend, bis Mister Peabodys Eisenbahn sie ruinierte - Paradise und Umgebung mussten einem offenen Tagebau und einem Kohlekraftwerk weichen.
Das bekannteste Stück auf der B-Seite ist "Angel From Montgomery", das die Geschichte einer unglücklichen Frau erzählt. "Ich bin eine alte Frau, benannt nach meiner Mutter. Mein Mann ist nur ein weiteres, alt gewordenes Kind. Wären Träume Blitze und Lust Donner, dann wäre dieses alte Haus schon längst abgebrannt". Alles, was sie sich wünsche, ist ein letztes schönes Erlebnis, etwa der Rodeo-Reiter, den sie als Jugendliche geliebt hatte, in Form eines Engels. "An solch ein Leben zu glauben, heißt einen harten Weg zu gehen". In der Tat.
Der Rest des Albums ist kein Füllmaterial. "Your Flag Decal Won't Get You Into Heaven Anymore" war noch so eine Beobachtung aus Zeitungsträgerzeiten. Eines Tages war der Ausgabe ein US-Flaggen-Aufkleber beigefügt, der am Tag darauf auf vielen Autos klebte. "Euer Flaggenaufkleber wird euch nicht mehr in den Himmel führen, der ist schon voll, wegen eurem kleinen schmutzigen Krieg. Jesus mag außerdem keine Morde, egal aus welchem Grund", dichtete Prine aus seinen Erinnerungen.
"Donald And Lydia" dagegen erzählt die Liebesgeschichte von zwei Außenseitern. "Sie liebten sich in den Bergen, sie liebten sich in den Bächen, sie liebten sich in den Tälern, sie liebten sich in ihren Träumen. Wenn sie fertig waren, gab es nichts zu sagen. In der Regel liebten sie sich aus zehn Meilen Entfernung". Ein Stück, das selbst Bob Dylan, der Prine immer wieder erwähnte und lobte, zum Grübeln gebracht hat.
Doch auch sonst bleibt viel zu entdecken "Sehen wir uns morgen? Nein ich habe zu viel zu tun. Eine Frage ist nicht wirklich eine Frage, wenn du die Antwort schon kennst", beschreibt er etwa in "Far From Me" das Ende einer Beziehung.
So ist "John Prine" wunderbar facettenreiches Album geworden, das musikalisch gar nicht so eintönig ist, wie vom Perkussionisten aus Nashville befürchtet. Sicherlich folk-countrylastig, aber mit einer Prise elektrischem Dylan, der 1966 einen guten Teil von "Blonde On Blonde" ebenfalls dort aufgenommen hatte.
Filmkritiker Ebert sollte noch in einer anderen Hinsicht Recht behalten: Country-Folk war zu Beginn der 1970er Jahre nicht gerade eine Konkurrenz für Rock'n'Roll. Als "John Prine" 1971 erschien, erreichte es mit Anlauf gerade mal Platz 152 der Charts. Prines Labelkollegen von Led Zeppelin landeten zeitgleich mit "IV" den größten Erfolg ihrer Karriere.
Dennoch legte das Album den Grundstein für Prines Auskommen. Für Atlantic nahm er zwei weitere auf, bevor er für weitere drei zu Asylum wechselte. Wohl fühlte er sich bei den Majors aber nie, weshalb er 1981 - unüblich für sein Genre und seine Zeit - mit Oh Boy sein eigenes Label gründete. Dank treuer Fans, weiteren Alben und einer unermüdlichen Tourtätigkeit gelang es Prine, von seiner Musik zu leben.
Und von den Tantiemen der vielen Künstler, die seine Stücke coverten, besonders aus seinem ersten Album. "Angel From Montgomery" ist einer der bekanntesten Songs in Bonnie Raitts Repertoire, "Hello In There" nahmen sich unter anderen Joan Baez und Bette Midler vor. Und John Denver, der auch "Spanish Pipedream" (mit dem besseren Titel "Blow Up Your TV") und "Paradise" interpretierte.
Auch genoss Prine unter Kollegen großes Ansehen. Dylan soll bei einem Auftritt in New York inkognito Mundharmonika für ihn gespielt haben. Johnny Cash legte seine Lieder auf, wenn er Inspiration für neue Stücke brauchte, und coverte sie gelegentlich auch. Selbst für Roger Waters war er ein Einfluss. Ob er Pink Floyd aus neuen britischen Bands wie Radiohead heraushöre, wurde er 2008 gefragt. Er höre nicht wirklich Radiohead, so seine Antwort. Ihre Alben hätten ihn lange nicht so berührt wie etwa John Prine.
Bewegend war auch die Resilienz, die Prine im neuen Jahrtausend an den Tag legte. 1998 wurde er ein erstes Mal wegen Krebs operiert. Als er aufwachte, fehlte ein beachtliches Stück seiner rechten Halsseite und ein Teil seiner Stimmbänder. Er lernte das Sprechen und Singen neu und kämpfte sich zurück. 2013 wurde ihm wegen eines weiteren Krebs ein Teil der Lunge entfernt. Er trainierte, indem er die Treppen seines Hauses in Nashville hoch und runter rannte, zu seiner Gitarre griff, zwei Lieder sag und die Prozedur wiederholte. Nach sechs Monaten stand der wieder auf der Bühne.
In seinem Podcast "Digging Deep" wurde Robert Plant gefragt, welcher sein bester Auftritt gewesen sei. Sein letzter, frotzelte er. Ein paar mit Led Zeppelin. Und "John Prine, ein unglaublicher Sänger und Songwriter. Ich war kürzlich bei einem Konzert. Er war absolut brillant. Er hat schon immer verstanden, worum es geht".
Die Episode war Anfang 2020 aufgenommen worden. Als sie im folgenden August online ging, war es ein letzter, rührender Nachruf. John Prine war am 7. April gestorben, als einer der ersten Promis an COVID-19.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
2 Kommentare mit einer Antwort
Schöne Musik ???? mit nachdenklichen Texten von einem Musiker der nicht ganz so bekannt war wie andere der Meilenstein ist gerecht.
Erfolg zu haben ist nicht immer wichtig auf die Musik ???? kommt es an .
Uns ist allen klar, daß es vielmehr um die Persönlichkeit des Künstlers und darum, seine Ansichten und Makel leidenschaftlich zu bewerten, geht als um die Musik. Netter Versuch, Troll.