laut.de-Kritik

Größtmögliches Leiden durch maximalen Körpereinsatz.

Review von

Ganz zu Anfang hört man nur das gleichmäßige Piepen eines EKGs und das dumpfe Pumpen eines Beatmungsgeräts. Hier liegt offensichtlich jemand in seinen letzten Zügen. Gerard Way, vielleicht am Krankenbett, fordert zu Akustikgitarrenbegleitung: "Come all to this tragic affair." Und dann bricht es los. Die ganze Band erzeugt ein derart pompöses Soundgewitter, dass es dem Hörer fast schwindelig wird. My Chemical Romance präsentieren sich als durchgeknallte Außenseiter, die Unbeschwertheit, mit der sie sich noch auf "Three Cheers For Sweet Revenge" ins Messer gestürzt haben, scheint verloren.

Am Ende des Tracks piept das EKG einen langen Ton, auf der Intensivstation ein verlässliches Zeichen dafür, dass der angeschlossene Patient gerade über den Jordan gegangen ist. Und genau in diesem Moment beginnen MCR zu leben. Willkommen zur schwarzen Parade! Way fragt den soeben Verstorbenen: "Did you get what you deserve? The ending of your life?", um im Refrain rhetorisch nachzuhaken: "Wouldn't it be great if we were dead?" Fans mag es beruhigen, besorgte Eltern verstören: My Chemical Romance haben nichts von ihrer Besessenheit mit dem Tod verloren.

Die Band hat für ihr drittes Studioalbum den Namen "The Black Parade" angenommen und dieses Alter Ego treibt erstmal so richtig die Punkrocksau durchs Dorf. "Dead" ist nach dem kurios betitelten Opener "The End" ein fulminanter Einstieg ins Album, der gleich klar macht: MCR wiederholen sich nicht. Viel war im Vorfeld gemutmaßt worden über die weitere Entwicklung der Band. Nachdem das Album vorliegt, muss man konstatieren: die Band hat sich konsequent verbessert, aber sicher keinen Quantensprung vollzogen.

Sie klingen eingespielt und vor allem Gerard Way ist voll auf der Höhe. So wie er in "House Of Wolves" singt, verkörpert er eine junge, wütende Rock'n'Roll-Dampfwalze. Die Weiterentwicklung geht dabei in jede erdenkliche Richtung. Die Band wirkt noch tighter, technisch versierter und fetter. Vor allem aber handeln sie nach dem Motto: Pathos statt Pogo!

Größtmögliches Leiden soll mit maximalem Instrumenten- und Körpereinsatz erreicht werden. So gerieren sich die Ways, Iero, Toro und Bryar als Dompteure im bizarren Rock'n'Roll-Zirkus. "This Is How I Disappear" führt eine typische MCR-Gesangslinie ins Rampenlicht. Auf seine früheren Suchtprobleme hindeutend, jault Way mit seiner unnachahmlich leidenden Stimme: "The sharpest lives are the deadliest to lead", unterstützt von dezent angedeuteten Chören in "The Sharpest Lives".

"Welcome To The Black Parade", die erste Single, betritt fast scheu die Manege, erst die Marching Band schafft es nach fast zwei Minuten, die großartige Nummer aus der Reserve zu locken. Danach tollt die dunkle Prozession durch die Sägespäne, dass es nur so eine Freude ist. Eine schöne Poppunknummer, Gerard Way legt erstaunlich viel Gewicht in seine Stimme und orientiert sich an oldschooligem Punkrotz. Und diese Gitarren! Als hätte Brian May MCR im Studio besucht.

Danach wirkt "I Don't Love You" wie ein gemeiner Downer, er gehört sicher zu den schwächsten Tracks auf "The Black Parade". Ebenso das pathetische "Cancer", in dem sich Sänger Way in einen Menschen hineinversetzt, der an Krebs sterben wird. MCR stehen hier kurz davor, es zu übertreiben. Ich denke kaum, dass Way wirklich nachempfinden kann, was ein todkranker Krebspatient fühlt und empfindet. Aber eine der beiden herzzerreißenden Balladen eignet sich sicher als Single.

Dass die Band auch andere (natürlich pompöse) Einflüsse aufnimmt, merkt man an den Off-Beat-Gitarren und den Big Band-Drums auf "House Of Wolves", gleichzeitig fühlt man sich hier an Green Day erinnert. Musikalisch anspruchsvoll zeigt sich die Band auch bei "Mama", nicht nur wegen dem Dreivierteltakt. Kriegsdonner am akustischen Horizont stellt hier den Bezug zum Jenseits her, und niemand geringeres als Liza Minnelli gibt der besungenen Mutter ihre Stimme. Irgendwie hat es schon was von einem düsteren Cabaret des Todes. Schwer groovend erreicht das Lärmspektakel namens "Black Parade" erreicht hier definitiv einen seiner Höhepunkte.

Mit "Sleep" folgt der heavieste Song des Albums, das hier geht schon verdammt in Richtung Metal. Dass MCR solche Gitarrenwälle aufschütten, hätte ich nicht gedacht. Stilistisch das abwechslungsreichste Album ihrer Karriere, wundert man sich manchmal, dass die Gruppe selbst noch weiß, wo sie gerade steht. Nach "Sleep" folgt eine echte, klassisch komponierte Rock'n'Roll-Nummer. "Teenagers" besitzt fast so etwas wie einen Groove und wartet sogar mit einem Bluesrocksolo auf. Da darf natürlich die Cowbell nicht fehlen!

"Disenchanted" und "Famous Last Words" schließen "The Black Parade" ab, die beiden Stücke, vom Tempo her eher getragen, stellen noch einmal typische MCR-Nummern ohne besondere Tricks oder Kunststücke dar. Bei "The Black Parade" von einem Meisterstück zu sprechen, wäre wohl zuviel des Guten, aber My Chem lassen eine Platte raus, die sie irgendwo zwischen Anspruch und Zielgruppenorientierung ansiedelt. Unterhaltsam ist sie, gut gemacht und wenn auch nicht mehr so blutig wie noch "Three Cheers For Sweet Revenge", doch immer noch verdammt todessehnsüchtig.

Trackliste

  1. 1. The End
  2. 2. Dead!
  3. 3. This Is How I Disappear
  4. 4. The Sharpest Lives
  5. 5. Welcome To The Black Parade
  6. 6. I Don't Love You
  7. 7. House Of Wolves
  8. 8. Cancer
  9. 9. Mama
  10. 10. Sleep
  11. 11. Teenagers
  12. 12. Disenchanted
  13. 13. Famous Last Words
  14. 14. Blood

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171 Kommentare

  • Vor 16 Jahren

    @scumsurfer (« welcome to the Queen parade! »):

    :lol:

    Hast recht.... Die nächsten die QUEEN spielen wollen... Doch leider werden sie nie an Freddy rankommen... Irgendwie ist MCR ne kleine Teenie Band, oder?? Ich find Three Cheers for Sweet Revenge ist das einzigst gelungene Album von denen... Welcome to the Queen Parade!

    Gruß, Koopa

  • Vor 16 Jahren

    Ich find' das Album ja geil xD
    Macht voll Spaß das anzuhören ;)
    Von mir bekommt es 5/5

  • Vor 16 Jahren

    Kein Meisterwerk? Die Scheibe ist nachgerade ein Geniestreich. Und wenn das nicht ein unbekümmertes Streifen durch geradezu jeden Musikstil, Musikexzess ist, dann weiß ich nichts. Selbstverständlich zitieren die auch wie wild, jedoch immer intelligent und nachgerade als Verbeugungen vor den Zitierten. Das ist alles ungeheuer kraftvoll und kreativ, unbekümmert bis rotzig, leidend und gleichzeitig witzig und immer abwechslungsreich. Ein echter Hammer, vor allem weil der Leadsänger es versteht, seine Stimme hochenergetisch einzusetzen, auch und gerade in langsameren, leiseren Nummern. Ich bin jedenfalls total begeistert und das passiert mir nicht allzu oft.

    P.S.: Auch "I Don't Love You" gefällt mir, oh ja!