Erwartbares und Überraschungen beim ersten Halbfinale. Weltstar LUM!X scheidet gegen den Schweizer Schmuse-Bear aus.

Turin (leb) - Wann zeigt sich Europa mit von seiner besten Seite? Klar, beim Eurovision Song Contest. Und auch, wenn sich die Menschen in diesem Jahr so solidarisch wie nie zuvor zeigen, spaltet das Event. Dennoch: Ob Fan oder nicht, der ESC ist Kult und viele gucken ihn.

Um 21 Uhr ertönt die legendäre Eurovisions-Fanfare und die fast noch legendärere Stimme von Peter Urban. Der übersetzt gleich mal den Einspieler: "Irgendwo in Italien gab es einen Erfinder, der kleine Flugmaschinen baute, so wie Leonardo Da Vinci vor über 500 Jahren." Plötzlich wurde die kleine Maschine lebendig wie Pinocchio, begann zu fliegen, singen und tanzen. Weiter heißt es: "Aber wie in jeder Geschichte kommt der Moment, an dem man seiner Bestimmung nachgehen muss". Noch nicht fabelhaft genug, bekommt der kleine Flieger den Namen Leo. Doch so richtig Titanic-mäßig rührend wird es erst, als Peter Urban sagt: "Flieg Leo, flieg nach Turin zum 66. Eurovision Song Contest 2022". Hach, das Motto "The Sound Of Beauty" macht zumindest für einen kurzen Moment Sinn.

Nach einer optisch spektakulären Bühnenshow mit bunten Lichtern, lauten Trommeln, beindruckenden Wasserfällen sowie Tänzer*innen in goldenen Pailletten-Shirts und übergroßen Hosen kommt das Moderationstrio ins Bild: Sängerin und Grammy-Preisträgerin Laura Pausini, TV- und Radiomoderator Alessandro Cattelan und Popstar Mika könnten glatt einen Musikact abgeben. Einen Gruppenhug und etwas Geplapper später übernimmt Europas neuer bester Freund Leo mit seinen Luftaufnahmen in den Einspielern. "Let the Eurovision Song Contest begin".

Pravi-Chanson, Schmuse-Bear und Raab-Comeback

Die ersten sechs Acts bieten absolutes Kontrastprogramm: Während Albanien mit Ronela Hajati auf einem rhythmusorientierten, eingängigen Beat mit südöstlichen Klängen setzt, präsentiert Litauen mit Monika Liu und ihrem Chanson in Landessprache eine Barbara Pravi 2.0 (die Zweitplatzierte 2021). Darauf folgt der Mann, der "keine Angst zu weinen" hat: Marius Bear. Der Schweizer tritt etwas zurückhaltend mit einer ruhigen Ballade an, die als Soundtrack eines Liebesfilms dienen könnte. Nur einmal wird er euphorisch und schmeißt (versehentlich) den Mikrofonständer um.

Etwas jazzige Vibes liefert die Schülerband LPS ("Last Pizza Slide"). Auch wenn die fünf Freunde mittlerweile Studies sind, wirken sie auf der Bühne eher wie verlorene, unschuldige Achtklässler. Vielleicht liegt es aber auch nur an der traurigen Story des Songs: Er handelt von einen Mann, der in einer Disko von seiner Freundin verlassen wird. Doch an Lettland kommt in Sachen Fremdscham (wenig erwartbar) niemand ran. Zwar dürfen sie ihren Anfang "Instead of meat, I eat veggies and pussy" nur bis "veggies" singen, doch genügend Trash-Lyrics bleiben trotzdem übrig: "Eat your salad, save the planet / Being green is sexy as fuck". Dazu eine billig inszenierte Choreo in bunten Anzügen, die an einen sehr schlechten Backstreet Boys-Abklatsch erinnert. Geht es nach Peter Urban, könnte der Song aus der Feder von Stefan Raab stammen und der Leadsänger der kleine Bruder von Joko sein.

Mit einem starken Auftritt des ukrainischen Kalush Orchestra mit der Rap-Folknummer "Stefania" und der Hintergrundstory, dass diese von der Mutter des Sängers handelt, ist das erste Drittel an Songs geschafft. Nach dem lautesten Applaus des Abends für das überfallene und kriegegebeutelte Land sehen Zuschauer*innen in der kurzen musikalischen Verschnaufpause, wie Mika seiner Co-Moderatorin einen Schmatzer gibt, erfahren, dass Turin die erste Hauptstadt Italiens war und in der ESC-Halle so viele Kabel liegen, dass diese den schiefen Turm von Pisa zuschnüren würden.

Veni, Vidi, Eurovici

Nach dem neu hinzugewonnenen Streberwissen starten die nächsten Auftritte. Ronnie Romero legt mit seinem Intelligent Music Project die erste (und einzig richtige) Rock-Performance des Abends hin. In Erinnerung bleibt von diesem Auftritt allerdings nur die Friedenstaube auf der Bühne, die noch nicht mal echt war.

Während S10 für die Niederlande eine in Landessprache gesungene, softe und radiotaugliche Indie-Ballade mit Tiefgang präsentiert, legt Kollegin Maro für Portugal eine dahinplätschernde und eher einschläfernde Pop-Ballade vor. Da bringt auch ihre noch so schöne Stimme nichts. "The Sound Of Beauty" passt bei Zdob și Zdub & Fraţii Advahov aus Moldau zwar absolut nicht, doch schon kurz nach dem Start geht ihr nerviger Folksong steil. Irgendwie schaffen sie es, ihr besungenes "Folklore and Rock'n'Roll" dem Publikum glaubhaft zu vermitteln.

Gebt dem Wolf endlich die Banane

Nach weiteren Pausen und Pläuschen mit den Acts aus Italien und Frankreich, einem Italo-Discomedley mit der britischen Banbd Sophie And The Giants sowie dem Auftritt des nie angetretenen italienischen Kandidaten Diodato (2020) liefern Mia Dimšić aus Kroatien und Reddi aus Dänemark durchschnittliche Performances. Während LUM!X in typischer DJ-Manier für Stimmung sorgt, versprüht Island Kelly Family-Vibes: lahmer Folk, den drei Hippie-Schwestern und ihr Bruder am Schlagzeug vortragen.

Griechenlands Beitrag klingt dann ganz nett, plätschert allerdings etwas zu sehr im Pop-Gewässer dahin, während bei Armenien vor allem das Bühnenbild ablenkt: eine weiße Wand mit Post-its mit Textzeilen, die die Sängerin abzupfte, gegen Ende riss sie die Wand noch ein und stand auf der anderen Seite. Nicht schlecht, aber nicht so gut wie Norwegens Subwoolfer. Die wollen doch nur ein wenig spielen und einfach Bananen haben. Im Gegenzug bieten sie eine 1A-einstudierte Performance, die zum neuen viralen Dancehit werden könnte. Macht Spaß beim Zuschauen und klingt auch ganz gut.

Peter, the urban Legend

Neben den Phantom-Wölfen waren die Kommentare von Peter Urban mal wieder amtlich. Nach dem Auftritt von Portugals Sängerin Maro sagt er: "Da wird Sehnsucht, Schmerz und Traurigkeit zum Genuss, den man sich noch länger anschauen kann". Zu der Abrissnummer von Zdob și Zdub und Fraţii Advahov (Moldau), die über eine Zugfahrt von Chișinău nach Bukarest handelt, scherzte er: "Wenn die Deutsche Bahn solches Entertainment anbieten würde, wären einem die Verspätungen egal". Mit den Worten "Was eine Achterbahn - das beginnt wie eine Queen-Ballade, bis die wilde Hilde – pardon Ihan am Schlagzeug - Feuer gibt" kommentiert the urban Legend Peter den Auftritt der Dänin. Wer letztlich seine Favoriten sind? Da legt sich Urban nicht fest. Er finde alle ähnlich stark und könne sich nicht entscheiden. Soso.

Ja klar und Aha

Eine Reise in die Vergangenheit des ESCs, dem Go von Boss Martin Österdahl und einige Schnelldurchläufen später geht es an die Bekanntgabe der Acts, die ins Finale einziehen. Nachdem das Moderationstrio etwa fünf Mal darauf hinweist, dass die Reihenfolge der Bekanntgabe völlig zufällig gewählt sei, glaubt man das spätestens, als die Schweiz als erste Finalteiehmerim feststeht. Es folgen: Armenien, Island, Litauen, Portugal, Norwegen, Griechenland, Ukraine, Moldau und die Niederlande. Während man mit Norwegen, Ukraine und Moldau rechnen konnte, überraschen die Finaleinzüge der Schweiz, Islands, Portugals und Litauens doch ein wenig. Drei Schlaftabletten und ein Chanson können natürlich sein, müssten aber nicht.

However, der Abend neigt sich dem Ende zu, und die Stimme aus dem Off bedankt sich bei den Moderator*innen, wünscht einen guten Abend und endet in der 3. Person über sich selbst: "Peter Urban sagt Tschüss". Warte Peter, was hat denn eigentlich Twitter zu sagen? Die User meckern über das Ausscheiden von LUM!X und das Weiterkommen des Schweizer Biber-Bears, diskutierten über einen Solidaritätsgewinn der Ukraine und sind generell über die Finaleinzüge gespaltener Ansicht. Nach einem Tag Pause findet das zweite Halbfinale dann übermorgen am Donnerstag statt.

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laut.de-Porträt Kalush Orchestra

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