Mit diesem Buch, das eigentlich "Lieblingslieder von Bob und seinem Anglerkumpel Eddie" heißen müsste, kann man schöne Stunden verbringen.

Konstanz (giu) - Mal ganz ehrlich: Ein "Chronicles, Vol. 2" wäre eine schöne Sache gewesen, die Fortsetzung seines Werkes von 2004, in dem Bob Dylan zwar viel erzählte, aber auch viel ausließ. Seitdem sind fast zwanzig Jahre vergangen, in denen einiges passiert ist. Die "American Songbook"-Phase in den 2010ern zum Beispiel. Corona. Der Literatur-Nobelpreis 2016. Und was ist mit all den Jahren, die er ausgelassen hat, so ungefähr 1965 bis 1985?

Nun gut, das Leben ist kein Wunschkonzert, bei Dylan erst recht nicht. Sein Werk ist überwältigend, dennoch ist es immer wieder ein Grund zur Freude, wenn etwas Neues von ihm erscheint - auch wenn Cover und Titel diesmal Erinnerungen an schlimmste Philosophiestunden in der Schule wecken. Eine Nebelkerze, wie so oft. Der Titel "Lieblingslieder von Bob und seinem Anglerkumpel Eddie" träfe dieses Buch besser. Wobei Eddie, den er als ersten in der Danksagung erwähnt und der mit Nachnamen Gorodetsky heißt, neben der Freizeitaktivität auch beruflich mit Dylan verbunden ist. Von 2006 bis 2009 produzierte er Dylans kurzweilige Sendung "Theme Time Radio Hour" und steuerte aus seiner riesigen Plattensammlung Material und Ideen bei.

So auch diesmal. Dylan pickt sich 66 Songs aus, die ihm etwas bedeuten, und erzählt Geschichten dazu. Viele Abbildungen lockern das Erscheinungsbild auf, und wer sich die Mühe macht, eine Playlist zusammenzustellen oder im Streamingdienst seiner Wahl eine zu suchen, kann einige wirklich interessante Stunden verbringen. Schnell zeichnet sich folgendes Bild ab: Die Welt ist voller unschuldig wirkender Frauen, die in Wirklichkeit Biester sind. Ihre Opfer sind Männer, die Umstände und Unfähigkeit zu Tölpeln gemacht haben. Die nächste Katastrophe liegt um die Ecke. Und doch gibt es Augenblicke reiner Schönheit - in Form von Liedern und vor allem deren Interpretationen.

Die meisten Aufsätze beginnen mit einer Beschreibung der Bilder, die Dylan beim Anhören vor seinem geistigen Auge sieht. Oft sind sie geradezu apokalyptisch. "Er sieht einen zweijährigen Jungen und bringt ihn um, sieht, wie seine Kumpels ein kleines Mädchen mit einem Messer aufschlitzen, sie reißen ihr die Kleider vom Leib und vergewaltigen sie, dann erschießt sein geiler Kumpel sie mit der Automatik", fällt ihm zu "There Stands The Glass" ein. Ein wehmütiges Country-Stück, wohlgemerkt. Nur eine von mehreren Stellen, die Fragen aufwerfen. In "Cheaper To Keep Her" - toller Titel, übrigens - lässt er sich lange über Scheidungsanwälte aus und plädiert für die Polygamie. Wenn es mit einer Frau nicht klappt, nimm die nächste, wichtig ist ja schließlich, dass sie und die Kinder genügend zu Essen haben. Fairerweise muss man Dylan zugestehen, dass er auch Frauen die Möglichkeit einräumen, mehrere Ehemänner zu haben. "Haut rein, Ladys"!

Doch gibt es auch viele Stellen, die einen zum Nachdenken oder gar zum Lachen bringen. Etwa diese, zu "Ruby, Are You Mad" in der Interpretation der Osborne Brothers:

"Bluegrass ist die Kehrseite des Heavy Metal. Beide musikalischen Formen sind tief in der Tradition verankert, und beide haben sich seit Jahrzehnten weder visuell noch akustisch groß verändert. Die Leute kleiden sich immer noch alle entweder wie Bill Monroe oder Ronnie James Dio. Bei beiden gibt es eine traditionelle Instrumentalbesetzung, sie halten stur an den althergebrachten Formen fest.

Bluegrass ist die emotional direktere Musik, und auch wenn dies dem beiläufigen Hörer nicht direkt ersichtlich sein mag, ist sie verwegener. Bobby Osbornes tollkühner Gesang, die lang gehaltenen Töne und die Wucht der beiden Banjos mit ihren blitzschnellen Tonfolgen ergeben zusammen eine so unglaubliche Schubkraft, dass sich Yngwie Malmsteen wahrscheinlich ratlos am Kopf gekratzt hätte. Das ist Speed Metal ohne peinliches Elasthan und spätpubertäre Teufelsverehrung"."

Die Mehrheit der Stücke sind weit bekannt, die meisten stammen aus den 1950er und 1960er Jahren. Elvis kommt dreimal vor, Frauen sind dagegen gerade mal viermal vertreten. Nicht mal ein Viertel der Lieder stammt von schwarzen Künstlern oder Bands. Latinos? Santana. Hip Hop? Fehlanzeige. Die neueste Aufnahme stammt von 2004 - die Interpretation eines Stücks von 1849. Außerdem hat der Meister von seinen vielen Songs keinen einzigen mit reingenommen. Das wäre allerdings eine große Überraschung gewesen.

Was ist nun die Philosophie des modernen Songs? Im letzten besprochenen Stück, "Where Or When", eine Ballade des Gesangsquartetts Dion and the Belmonts, steht so etwas wie eine Antwort. Es sind die letzten Zeilen des Werks:

"Wenn Dions Stimme im Mittelteil zu einem kurzen Solo durchbricht, fängt sie die schimmernde Beständigkeit der Erinnerung auf eine Weise ein, die das gedruckte Wort nur anzudeuten vermag.

Aber so ist das mit der Musik. Sie entspringt ihrer Zeit, ist aber zeitlos; durch sie entstehen Erinnerungen und das Gedächtnis selbst. Auch wenn wir dies selten berücksichtigen, baut die Musik so sicher auf ihrer eigenen Zeit auf, wie ein Bildhauer oder Schweißer im physischen Raum arbeitet. Musik überwindet die Zeit, weil sie in ihr lebt, so wie es die Reinkarnation einem ermöglicht, das Leben zu überwinden, indem man es immer wieder von neuem lebt".

Was "Philosophy" zum Lesevergnügen macht, ist vor allem Dylans Spiel mit Rhythmus und Worten. "Hitting and running, butchering and exterminating, taking the grand prize and finishing in front. Then being big hearted, burying the hatchet, apologizing, kissing and making up. It's about the hustle" schreibt Dylan zu Mose Allisons "Everybody Cryin' Mercy". "Zuschlagen und sich aus dem Staub machen, Abschlachten und Auslöschen, den Hauptgewinn einheimsen und als Erster durchs Ziel gehen. Danach heißt es großherzig sein, das Kriegsbeil begraben, bedauern, küssen und vertragen. Es geht um Hetze", so die Übersetzung. Conny Lösch hat sich viel Mühe gegeben, doch Dylans Sprachwitz in einer anderen Sprache zu vermitteln ist im Prinzip unmöglich. Wer des Englischen mächtig ist und sich an das Original herantraut, kann sich außerdem am schöneren Cover mit Little Richard, Eddie Cochran und der vergessenen Alis Lesley erfreuen.

Wer zu faul ist zum Lesen oder eine gute Ausrede findet, kann sich das Werk auch als Hörbuch reinziehen, gelesen von Wolfgang Niedecken. Nichts gegen BAP, aber auch hier ist die amerikanische Version interessanter, gelesen von Dylan selbst mit freundlicher Unterstützung vieler Schauspieler, unter ihnen Jeff Bridges, Oscar Isaac, Sissy Spacek, John Goodman, Steve Buscemi, Helen Mirren und Renée Zellweger.

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