Übergroßer Pop, der längst in Stadien stattfinden müsste: Charli XCX brennt ein Spektakel ab und gedenkt ihrer Freundin Sophie.

Köln (rnk) - Das war knapp. Noch vor ein paar Tagen zeigte Charli XCX auf Instagram ihren wunden Rachen vor und sagte in der Folge Events in Brüssel und London ab. So zitterte man also, ob sie denn im Kölner Carlswerk Victoria auftauchen würde, aber Antibiotika machts möglich. Sehr zur Freude der meist queeren Party-Crowd, die schon vor dem offiziellen Einlass eine ewig lange Schlange um das Carlswerk Victoria bildet.

Die Frage, warum Charli XCX genau wie Kim Petras noch nicht in der Superstar-Liga angekommen ist, bleibt rätselhaft. Die Hits sind da, aber vielleicht findet der Popstar 2022 gar nicht mehr in den Boomer-Medien TV und Radio statt: Die Konzertcrowd wirkt rein optisch eher wie ein Insta-Querschnitt und ist gefühlt im Schnitt Mitte 20. Schön, dass man mit Anfang 40 einer der ältesten Typen im Raum ist. Als ein Mix aus junger, queerer Party-Crowd, Ravern und Nerds zeigt sich die Fanbase.

Diese steht zuvor noch ein Set von Elio durch, leider keine Magdalena Bay, die ebenfalls schon längst Superstars sein müssten, aber ebenfalls im Konjunktiv verharren. Nicht wirklich fair, wenn in dieser Stadt parallel die Karnevalisten die Lanxess-Arena füllen. Okay, vielleicht fehlen in der Setlist auch die ganz großen Mainstream-Hits. Icona Pop mit "I Don't Care" war mal so ein Ausflug in die deutschen Charts, aber seitdem wächst die Fanbase langsamer, dafür extrem treu weiter.

Die Angels, wie die Ultra-Fans von Charli heißen, bejubeln dann bereits einen harmlosen Schriftzug frenetisch. Der anschließende Lärm, als ihre Göttin auf der Bühne auftaucht, begleitet von zwei Tänzern, ist ohrenbetäubend. Vielleicht ist es sogar gut, dass Charli auf diesem mittelgroßen Level bleibt: Noch fühlt es sich wie eine verschworene Gemeinschaft an, die ihren eigenen Superstar abfeiert. Sollte das hier entgegen der Gesetze des bescheidenen deutschen Geschmacks mal anders laufen, geht womöglich viel des speziellen Flairs verloren. Normies sind schließlich der Tod einer lebendigen Konzert-Kultur. Eine Art Safe Space gegen die Normalität.

Charli XCX ist schon eher ein Post-Popstar mit Einflüssen aus der Internet-Kultur, dem typischen 'Alles findet gleichzeitig statt'-Overkill. Dabei ist alles dann doch wieder sehr Gegenwart. Im Hintergrund laufen große Retro-Futurismus-Visuals, die aussehen wie eine 80er-Videogame-Grafik durch ein stylisches Photoshop-Plugin gejagt. Manchmal sieht man noch Laser-Licht, wenn technoide Beats das Carlwerks erbeben lassen: ein etwas verschwitztes Berghain-Industrial-Feeling inmitten von ansonsten sehr bunten Regenbogenfarben.

Manchmal wirkt das fast zu perfekt, zu sehr choreografiert. Wieviele Emotionen hinter der hart arbeitenden Performerin Charli XCX stecken, merkt man bei einer überraschenden Ansage, warum sie nicht, wie oft gefordert, "Taxi" spielen möchte. Der nie offiziell erschienene Song war Teil eines Albums bzw. eine Koop mit Sophie, das nur durch einen Leak seinen Weg an die Öffentlichkeit fand. Sophie galt als Erneuerin der Popmusik und Mitbegründerin des Hyperpops und starb vor zwei Jahren bei einem tragischen Unfall. Es kämen einfach zu viele Emotionen und Erinnerungen hoch, wenn Leute dieses Lied forderten, zumal oft in einem ironischen Kontext. Charlis Statement wirkt nicht bemüht, mehrfach stockt ihr der Atem, Tränen fließen. In einem Interview vor ein paar Monaten hatte sie die Kollegin als immensen Einfluss und große Persönlichkeit bezeichnet: Die von Sophie produzierte EP "Vroom Vroom" (2016) klingt ihrer Zeit immer noch voraus.

So bleibt ein wirklich bemerkenswerter Abend in einer eher kleinen Location in Erinnerung, die durch den Einsatz und die perfekte Abstimmung der Visuals aber viel größer wirkt. Vor Ort scheint jeder zu verstehen, dass Charli XCX nonstop Hits abfeuert: Das Potential, um Stadien zu füllen, ist gegeben. Zumal die aktuelle Platte "Crash", die den größten Teil des Sets einnimmt, die bisher wahrscheinlich kommerziellste darstellt. Aber es geht weiter, immer weiter bzw. hyper. Es bleibt absolut beeindruckend, wie Charli nur einen Bruchteil des Aufwands der Superstars betreibt und alles trotzdem wie ein Megaevent der Marke Lady Gaga, Dua Lipa oder Katy Perry wirkt. Pop abseits des Pops eben. So sieht die Zukunft aus, die noch zu wenige verstehen. Doch es wird immer schwerer, sie zu ignorieren.

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Charli XCX

Charli XCX,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Charli XCX,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Charli XCX,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Charli XCX,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Charli XCX,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Charli XCX,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Charli XCX,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Charli XCX,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Charli XCX,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Charli XCX,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Charli XCX,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Charli XCX,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Charli XCX,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Charli XCX,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Charli XCX,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Charli XCX,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof) Charli XCX,  | © laut.de (Fotograf: Rainer Keuenhof)

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