laut.de-Biographie
Tanya Stephens
"It's a man's world." In kaum einer Sparte hat dieser Satz eine größere Gültigkeit, als im Reggae- und Dancehall-Geschäft. Zu den wenigen, die die Damenwelt auf diesem derben Parkett über die Maßen erfolgreich vertreten, zählt neben Lady Saw, Lady G und Ce'Cile eine Sängerin, deren Wurzeln nach St. Mary, Richmond, auf Jamaika reichen.
Vivienne Tanya Stephenson erblickt am 2. Juli 1973 als vorletztes von sieben Kindern das Licht der Welt. Die Frage nach frühkindlichen musikalischen Prägungen beantwortet sich damit fast von alleine: Alles, was in derartigem Trubel eben gehört wird. Smokey Robinson ist ebenso im Sortiment wie Buddy Holly und amerikanischer R'n'B. Die Mutter steht auf klassischen Calypso von den Großen des Genres: Lord Kitchner und Mighty Sparrow. Bald erschließen sich Tanya die auf diesem Weg verbreiteten Geschichten.
Das Soundsystem an der nächsten Ecke macht die "Ausbildung" perfekt. Hier greift Tanya erstmals zum Mikrofon. Bereits während ihrer Schulzeit schreibt sie nebenher eigene Songs. Doch wer es im Showgeschäft zu etwas bringen will, muss sich auf den Weg machen: In Tanyas Fall führt dieser, kaum dass sie die Schule abgeschlossen hat - wohin sonst? - nach Kingston.
Ein Demoband mit dem Track "Dear Friend", das sie dem Musiker und Produzenten Noel Brownie aufs Auge drückt, stellt den ersten Versuch dar, einen Fuß in die Tür zum Ruhm zu bekommen - mit wenig Erfolg. Besser klappt der zweite Anlauf: "Is This For Real" findet Gnade vor den Augen Barry O'Hares: Er nimmt das Stück, das später über dem Far East-Riddim neu aufgenommen wird, auf seinen Sampler "Further East" auf.
Tanyas Talent hat es dem Vollblutmusiker angetan: Er produziert ihren ersten Longplayer "Big Tings A Gwaan", der 1994 erscheint. Der Titeltrack und etliche andere Tunes aus diesem Album positionieren Tanya als ernst zu nehmende Konkurrenz für die etablierten Singjays der Szene. Ebenfalls 1994 bringt Tanya Tochter Kelly zur Welt, lässt sich aber nicht ausbremsen. Im Gegenteil: Darauf angesprochen, bezeichnet sie die Mutterschaft eher als Inspiration denn als Hindernis.
Ein zweites Album folgt 1997. Auf "Too Hype" finden sich Tanyas Hit-Singles der vergangenen Jahre sowie einige neue Tunes, die allerdings allerhöchstens Demo-Qualität aufweisen. Was ist da los? "Too Hype" wurde ohne Tanyas Wissen und Zustimmung veröffentlicht. In Interviews gibt sie später an, sie konnte noch nicht einmal den Produzenten ausmachen. An "Ruff Rider" (1998) nimmt sie dafür um so penibler Anteil: Knaller wie "Man Fe Rule", "119", "Yuh Nuh Ready (Fe Dis Yet)" oder "Part-Time Lover" lohnen die Mühe.
Zeit für einen Schnitt: Tanya verlegt ihren Wohnsitz für einige Jahre vom sonnigen Jamaika nach Schweden. Auch musikalisch bildet diese Phase einen harten Bruch. Die Zusammenarbeit mit Warner Music Sweden gipfelt 2001 in einem Album, das mit Tanyas bisherigem Schaffen wirklich überhaupt nichts gemein zu haben scheint. "Sintoxicated" umfasst poppige Rockstücke, das Resultat von Tanyas lange gehegten Wunsch, sich auch einmal mit der Produktion populärer Musik zu befassen.
Populär vielleicht, besonders erfolgreich entwickelt sich "Sintoxicated" nicht. Finanzielle und persönliche Gründe zwingen sie zur Rückkehr auf die Insel. Einige Kollegen der Szene, darunter ihre ehemalige Freundin Lady Saw, bereiten ihr einen frostigen Empfang. Tanya beantwortet teils harsche Diss-Tracks mit Gelassenheit. Ihre Zeit in Schweden verbucht sie später (gegenüber dem Germaican Observer) als "Lernerfahrung, von der ich profitiere. Vielleicht nicht finanziell, aber ich habe gelernt, meinen Beruf besser zu meistern."
Tanya wendet sich wieder ihrer eigentlichen Passion zu. "Ich hab' Dancehall so vermisst, dass ich mich nach meiner Rückkehr jeden Tag im Studio herumgedrückt und jeden gefragt habe: 'Hast du nicht einen Riddim für mich?' Manchmal ist es ein bisschen ermüdend, wenn es immer nur um Sex und Schwulen-Bashing geht. Ich versuche, andere Themen in den Dancehall einzubringen."
In Deutschland beschert Tanya besonders die Zusammenarbeit mit Seeed Beachtung. "It's A Pity" auf deren Doctor's Darling-Riddim landet nicht nur auf der auf VP erschienenen Compilation "Reggae Gold" von 2003, sondern erobert von Deutschland bis in die Karibik die Playlisten. In Trinidad & Tobago landet der Tune an der Spitze der Charts. Tanyas Beteiligung auf Seeeds "Music Monks" verhilft ihr endgültig zur Aufmerksamkeit des deutschen Publikums.
Den bis dato größten Erfolg landet Tanya 2004, produziert von Andrew Henton und veröffentlicht auf VP Records, mit "Gangsta Blues". Die Tendenz weg vom Dancehall, hin zu Roots-Tunes ermöglicht Tanya Stephens, sich verstärkt als Sängerin und Songwriterin zu profilieren. Mit Witz und Flow knüpft sie an Erfolge des Kalibers "Yuh Nuh Ready" an.
Im Sommer 2006 zeichnet sich ein neues Lebenszeichen der Herrin der Dancehall ab: Im August steht "Rebelution" in den Startlöchern. Klassische Riddims zollen Bob Marley und Burning Spear Respekt. Scharfzüngig präsentiert Tanya Stephens nach "Gangsta Blues" das nächste Kapitel ihrer musikalischen Autobiographie.
Zugleich gestaltet sich der Aufbau der CD "Rebelution" wie bei einer Hip Hop/R'n'B-Platte mit Intro und Zwischen-Skits. Diese Struktur behält sie auch auf dem Nachfolger "Infallible" bei. Das Album beeindruckt mit weit überdurchschnittlicher Qualität in jeder Hinsicht (Vortrag, Ausdruck und Intonation, Vielfalt, Stimme, Texte, Instrumentierung) und erscheint ungeachtet dessen 'nur' als Free Download. In Deutschland liegt eine CD exklusiv dem deutschen Printmagazin Riddim bei. Laut Aussage ihres Partners, käme jedes Abtreten von Rechten an ein größeres Label sowieso einem Verschenken des Albums gleich - also bevorzuge Tanya es direkt gratis den Fans zur Verfügung zu stellen.
Musikalisch nehmen auf "Infallible" R'n'B-Einflüsse, wie schon in den 90ern bei Tanya zu finden, wieder zu. Der Kern von Tanya Stephens Musik liegt aber wohl darin, den rauen, digitalen Dancehall mit dem smootheren, süßeren Lovers' Rock abzuwechseln und zu versöhnen, dabei zugleich die schwierigsten denkbaren, sozialen Themen aufzuarbeiten.
Eine Fernsehkampagne zur Sensibilisierung für den Umgang mit HIV-Infektionen setzt Tanyas Song "Still Alive" ein. Auf "Infallible" umgeht die karibische Sängerin auch das Thema 'sexuellen Missbrauch' nicht. Selbst die Washington Post, eher kein Fachblatt für afroamerikanische Musik, kommt zum Schluss, Tanya habe sich "'reality' themes" vorgeknöpft.
Tanya genießt Anfang der 2010er Jahre den fragwürdigen Status, eine der wenigen verbliebenen Frauen im Dancehall zu sein. Sie drängt ihre Genre-Kollegen dazu, sozial umsichtiger vorzugehen. "Die Musik, die einst antrat, Botschaften von Frieden und Liebe zu verbreiten, urteilt jetzt nur noch über Menschen, sie missbilligt und provoziert."
Tanya selbst hält sich in den folgenden Jahren immer mehr zurück, sowohl mit neuem Material als auch mit Auslandstourneen, und vielleicht bedingt beides einander gegenseitig. Dabei hat sie sich mit einer weiteren Beteiligung an einer Seeed-Produktion ("Double Soul") und mit dem wilden Stevie Wonder-Cover "Part Time Lover" einen hohen Status in Deutschland erspielt. Der Chiemsee (Reggae) Summer bringt sie noch 2012 und '14, ZDF Kultur streamt Tanya on stage; in den USA erscheint noch das Album "Guilty" - und dann jahrelang kaum mal eine Single.
Ihr Gespür für Themen verlernt oder verliert die Sing-Rapperin dabei nicht. Mit der gesamten Wucht ihrer Alliterationen, Parallelismen und Pars Pro Toto-Stilmitteln unterstützt sie im Frühjahr 2016 Bernie Sanders. Zu dieser Zeit liegt Bernie im Rennen um die Kandidatur für das US-Präsidentenamt vorne. Doch viele in der Partei der Democrats sehen ihn als sozialistischen Systemfeind, utopisch veranlagten Spinner oder einfach als zu alt an. Tanya Stephens sieht das anders und röchelt aufgebracht: "Bernie Is A Realist".
Mit Engagement wirft sie Barack Obama Versagen auf ganzer Linie vor, sampelt eine Sanders-Rede und das Skandieren von "Bernie, Bernie" bei seinen Auftritten - und fordert Bernie auf: "Bring back the jobs, bring back the troops, bring back the love, bring back the hope." Sie zählt Armut bei Vollzeitbeschäftigten, Umweltverschmutzung und schlechte Stimmung in den Staaten auf.
Ab und an hört man Tanya Stephens am Ende des Jahrzehnts noch als Sängerin auf Riddim Selections. So fällt ihr zum "Bumpa Riddim" 2019 etwa ein Text über die Alge "Aloe Vera" ein. Beobachtet man sie bei einem ihrer seltenen Auftritte auf dem Reggae Jam in Bersenbrück im August 2019, scheint die Alge die schwarzgelockte Sängerin jung zu halten. 2022 erscheint "Some Kinda Madness".
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