laut.de-Biographie
Neil Young
"They all sound the same", schreit jemand aus dem Publikum. "It's all one song", antwortet Neil Young, bevor er beginnt, auf der Liveplatte "Year Of The Horse" von 1997 in die Saiten seiner Gitarre zu hauen.
Besser lässt sich der kanadische Musiker kaum charakterisieren. Nicht, weil seine Lieder alle gleich klingen, sondern, weil sie fern von sonst üblichen Elementen wie Glamour, Mode und Verkaufszahlen entstehen und sie so eine ganz besondere Konsequenz auszeichnet.
1945 als Neil Percival Kenneth Robert Ragland Young geboren, wächst der Sänger in der kanadischen Provinz Ontario auf. In seiner Kindheit durchlebt er mehrere schwere Krankheiten. Er leidet an Diabetes, Epilepsie und Polio, das seine linke Körperhälfte lebenslang beeinträchtigt.
1963 zieht es Young nach Toronto, wo er als Singer/Songwriter durch die Clubs tingelt. In Joni Mitchell und Stephen Stills trifft er in dieser Zeit verwandte Seelen. 1966 siedelt er nach Los Angeles um und gründet mit Stills die Folk-Rock Gruppe Buffalo Springfield. Die Zusammenarbeit hält zwei Jahre an und führt mit drei veröffentlichten Platten zu den ersten Erfolgen.
1969 erscheint mit "Neil Young" das erste Soloalbum. Anerkennung kommt jedoch erst ein Jahr später mit dem zweiten Werk "Everybody Knows This Is Nowhere". Mit "Cinnamon Girl," "Cowgirl In The Sand" und "Down By The River" enthält es drei seiner berühmtesten Lieder. Die schreibt er, im typischen Young-Stil, an einem einzigen Tag, als er mit Grippe im Bett liegt. Auf der Scheibe arbeitet er zum ersten Mal mit Crazy Horse zusammen, die Gruppe, die ihn seitdem immer wieder begleitet.
Im August 1969 tritt er mit Crosby, Stills And Nash beim Woodstock-Festival auf. Die Band mit David Crosby, Stephen Stills, Graham Nash und ihm selbst wird eine der erfolgreichsten Gruppen des Folk-Rock-Genres. Young verlässt sie zwar 1971, ist aber immer wieder für eine Reunion gut. 1974 touren sie durch ausverkaufte Arenen, 2006 machen sie mit einer Konzertreise Stimmung gegen George W. Bush und den Irak-Krieg.
1970 erscheint "After The Gold Rush", ein Erfolg, der den Weg für "Harvest" eröffnet - das Album, das Young 1972 zum Superstar macht. In Nashville aufgenommen und zwischen Folk, Pop und Country angesiedelt, ist es in den USA die meistverkaufte Platte des Jahres. Mit "Heart Of Gold" enthält es zudem Youngs bekanntestes Lied.
Es folgt eine erste introspektive Phase. Bis 1978 veröffentlicht Young sieben meist düstere und pessimistische Alben, aus denen "Zuma" (1975) mit dem Klassiker "Cortez The Killer" hervorsticht. Ein Gemütszustand, der mit dem Drogentod verschiedener Personen in seiner nächsten Umgebung sowie mit der Geburt eines autistischen Sohnes in Verbindung steht.
1979 ist Young plötzlich wieder da. Von Crazy Horse unterstützt, nimmt er mit "Rust Never Sleeps" das Album auf, das Anfang der 90er Jahre als Geburtsstunde des Grunge gilt. Auf der ersten Seite gibt sich die Combo akustisch, um auf der zweiten mit Feedback und Verzerrern loszulegen. Mit "My My, Hey Hey (Out Of The Blue)" (akustisch) und "Hey Hey, My My (Into The Black)" (heavy) enthält es die Hymne des unangepassten Rockers. Der Vers "It's better to burn out than to fade away" steht 1994 in Kurt Cobains Abschiedsbrief.
1979 erscheint ebenfalls "Live Rust" mit dazugehörigem Film, die Momentaufnahme einer typischen Young-Performance, mal mit Mundharmonika und Akustikgitarre, mal Unendlichkeiten lang mit dem Körper wippend, in ohrenbetäubenden Feedbackorgien vertieft. Die beiden Seiten seines musikalischen Schaffens.
1978 kommt sein zweiter, an zerebraler Kinderlähmung erkrankter Sohn zur Welt. Die Folge ist, dass Young für einen großen Teil der 80er Jahre aus dem Blickfeld verschwindet. Zwar erscheint fast jährlich eine neue LP, doch verliert er sich zwischen Country und Rock'n'Roll. Mit dem "Trans" verirrt er sich 1982 gar in elektronische Gefilde à la Kraftwerk. Den Tiefpunkt dürfte das peinliche, mit Synthie und Kinderchor aufgenommene "Landing On Water" (1986) markieren, das zu einem Rechtsstreit mit seinem Label führt. "Unverkäuflich", lautet der nachvollziehbare Vorwurf.
Mit dem bluesigen "This Note's For You" gewinnt Young 1988 mit dem dazugehörigen Anti-Video-Video einen MTV-Award, obwohl der Sender sich geweigert hatte, es auszustrahlen: In einer Szene erscheint ein Michael Jackson-Doppelgänger, dessen Haare in Flammen aufgehen, um von einer Whitney Houston-Doppelgängerin mit Pepsi gelöscht zu werden. Es ist der Neubeginn. Das 89er-Album "Freedom" erhält mit "Rockin' In The Free World" eine Hymne in bester Young-Tradition, die Nachfolger "Ragged Glory" und "Weld", wieder mit Crazy Horse, klingen hart und stoßen auf positive Reaktionen.
Endgültig zurück ist Young 1992 mit "Harvest Moon", ein Album, das nahtlos an das '72er "Harvest" anknüpft. Die akustische Phase setzt sich 1993 mit "Unplugged" fort. Nach dem Selbstmord Cobains ist Young auch ein Begriff für jüngere Bands und Generationen, was zur Aufnahme von "Mirrorball" (1995) führt. In Zusammenarbeit mit Pearl Jam in nur vier Tagen geschrieben und aufgenommen, legt es Zeugnis von Young in Bestform ab: Es rockt gewaltig und bringt ihm einen Grammy als 'Best Male Rock Vocal Performer' ein.
1996 steuert Young den Soundtrack zu Jim Jarmushs Film "Dead Man" bei. 2000 kommt das akustische "Silver And Gold" auf den Markt, von Kritikern und Käufern gleichermaßen gefeiert.
Tief erschüttert von den Anschlägen am 11. September 2001, entdeckt der Kanadier, der seit Ende der 60er Jahre auf einer riesigen Ranch in Kalifornien lebt, den Patrioten in sich: Neben einem Auftritt bei einem Benefizkonzert im Madison Square Garden, wo er John Lennons "Imagine" interpretiert, nimmt er mit Willie Nelson, Mariah Carey, Tom Petty und anderen eine neue Version von "America The Beautiful" auf.
Auf "Are You Passionate?" (2002) ist zudem das Lied "Let's Roll" den Passagieren des einzigen Flugzeus gewidmet, das bei den Anschlägen in den USA nicht das angepeilte Ziel traf, sondern in Pennsylvania abstürzte. Ein Lied über den Anti-Terror-Kampf und das Bekenntnis zu der bei Bürgerrechtlern äußerst umstrittenen "Patriot Act" hätte man von der früheren Hippie-Ikone sicher nicht erwartet. Doch auch in der Folge macht Young es seinen Verehrern nicht immer leicht, besonders den politisch eher links-orientierten.
In "Greendale - The Movie" (2004) schimpft er zwar auf die korrupten Politiker in Washington und die Allmacht der Großkonzerne. Wenn er aber ausgerechnet auf eine verklärte Kleinstadtidylle als positiven Gegenentwurf zum modernen Amerika setzt, stellt er sich damit zumindest in den Augen mancher Rezensenten "in eine Reihe mit reaktionären Rednecks, die alles ablehnen, das ihren eigenen Horizont überschreitet".
Mit "Prairie Wind" (2005) wendet sich Young von der Tagespolitik ab. Was auch daran liegen mag, dass er im März desselben Jahres wegen eines Hirnaneurysmas operiert wird. Mit neuen Kräften vollzieht er auf "Living With War" (2006) aber wieder einmal eine Kehrtwende: In den Texten kritisiert er massiv die US-Regierung und ihre Irak-Politik, fordert sogar die Absetzung des Präsidenten.
Dazu lagern in seinen Kellern Berge an unveröffentlichten Aufnahmen. Nach Jahre langen Verschiebungen erscheint 2009 mit "Archives Vol. 1" das erste umfangreiche Paket mit elf Blu Ray Discs beziehungsweise zehn DVDs oder neun CDs. Vor allem mit der verspielten Blu Ray-Version setzt der Kanadier für jene Zeit technische Maßstäbe. Dabei umfasst die Sammlung lediglich die Jahre 1962 bis 1973.
Der Abschluss einer Karriere? Mitnichten. Mit Daniel Lanoise nimmt er 2010 das Solowerk "Le Noise" auf, ein paar Alben später kommt 2012 mit "Psychedelic Pill" eines seiner stärksten Werke mit Crazy Horse heraus.
2013 stellt er zudem einen High-End-Digitalplayer namens Pono vor, dessen Entwicklung er mit Crowfunding finanziert hat und der seinen Qualitätsansprüchen genügen soll (MP3 sind ihm ein großer Dorn im Auge). Außerdem geht er mit Jack White ins Studio, um in einer Art Telefonzelle aus dem Jahr 1947 mit dem griffigen Namen Voice-O-Graph die Coversammlung "A Letter Home" (2014) aufzunehmen.
Rust Never Sleeps, eben. Im Herbst desselben Jahres überrascht Young gleich in mehrfacher Hinsicht: Erst reicht er nach 36 Jahren Ehe die Scheidung von seiner Frau Pegi ein, dann gibt er eine Liaison mit der Schauspielerin und Umweltaktivistin Daryl Hannah bekannt. Außerdem veröffentlicht er mit "Special Deluxe: A Memoir of Life and Cars" ein Buch über seine Lieblingsautos samt autobiographischer Details. Obendrein wirft er mit "Storytone" ein Doppelalbum mit neuem Material auf den Markt, auf der einen Scheibe solo, auf der anderen mit Orchester.
Mit Willie Nelsons Sohn Lukas und dessen Begleitband Promise Of The Real nimmt er 2015 "The Monsanto Years" auf, in dem er Großkonzerne an den Pranger stellt. 2016 ist er einer der sechs Acts beim Desert Trip-Festival ("Oldchella"), das als bis dahin erfolgreichstes Konzert aller Zeiten gilt. Mit der Gage (gemunkelt wird von einem hohen einstelligen Millionenbetrag) hat er jedenfalls genügend Spielraum für weitere Unterfangen. So kündigt er im August 2017 einen Streaming-Dienst in höchster Tonqualität (6.000 kbps) an, auf dem "jede Single, jedes Stück und jedes Album, die ich jemals aufgenommen habe", zu hören sein sollen. Ende 2017 folgt mit "The Visitor" das zweite gemeinsame Album mit POTR.
Im März 2018 veröffentlicht Young "Paradox", eine Ansammlung akustischer Interpretationen einiger seiner neueren Songs und liefert, erneut in Zusammenarbeit mit POTR, den Soundtrack zu Daryl Hannahs gleichnamigen Netflix-Western. Die Verbindung zu Hannah geht jedoch weit über künstlerische Zusammenarbeit hinaus. Im November heiraten die bereits seit 2014 liierten Kunstschaffenden. Nur wenige Tage nach der Hochzeit erscheint die bereits 1976 aufgenommene Liveplatte "Songs For Judy".
2019 begibt sich Young, sieben Jahre nach "Psychedelic Pill", ein weiteres Mal mit Crazy Horse für "Colorado" ins Studio. Begleitend zum Album erscheint der Film "Mountaintop", der den Aufnahmeprozess des Albums dokumentiert. Neben Basser Talbot und Drummer Ralph Molina ist erstmals seit über 40 Jahren auch Gitarrist und Pianist Nils Lofgren wieder mit an Bord. Er ersetzt Frank "Poncho" Sampedro, der sich seit einigen Jahren im Ruhestand befindet und auf Hawaii lebt.
Nur wenige Monate später greift Young in seine Archive und veröffentlicht im Sommer 2020 das seit seiner Fertigstellung im Jahr 1975 als 'verschollen' geltende "Homegrown". Mit dem Album verarbeitet er die kurz vor Aufnahmestart in die Brüche gegangenen Beziehung zur Schauspielerin Carrie Snodgress (1945-2004), mit der er einen gemeinsamen Sohn hat. Auf Anraten von The Band-Basser Rick Danko veröffentlicht er aber stattdessen das direktere und rockigere "Tonight's The Night".
Young selbst sieht die Sache ähnlich und begründet den Rückzug von "Homegrown" offiziell damit, dass ihm die sehr "persönliche und offene" Grundstimmung des Albums insgesamt zu depressiv sei. Für die Veröffentlichung 45 Jahre nach Fertigstellung nimmt Young die originalen, analogen Mastertapes und mastert diese in einem aufwändigen Prozess neu. 2021 folgt mit dem Live-Album "Way Down In The Rust Bucket" noch ein weiterer Archiv-Fund und gegen Jahresende mit "Barn" ein weiteres Studioalbum.
"Irgendwann komme ich zu euch. Aber nicht so bald, denn ich habe hier noch so viel zu tun", erklärte Young 2014 seinen verstorbenen Eltern im Intro zu "A Letter Home". Sein Versprechen gilt immer noch.
Im Juli 2022 gräbt Neil Young das Album "Toast" aus den Tiefen seines Giftschranks aus. 2001 sei das Werk noch zu traurig zum veröffentlichen gewesen, 2022 geht es anscheinend. 2022 wird auch sein bekanntestes Album 50 Jahre alt: "Harvest" erscheint am 2. Dezember in neuer Abmischung und wie gewohnt in verschiedenen Formaten, begleitet von einem Kinofilm. Was macht der Meister? Statt branchenüblich die Werbetrommel zu rühren und sich über dieses ach so wichtige Werk auszulassen, veröffentlicht er zwei Wochen davor das neue Studioalbum "World Record", produziert von Rick Rubin.
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