laut.de-Biographie
Anathema
Wer in Traurigkeit versinkt, nur die Schattenseiten des Daseins wahrnimmt und beschließt, sich selbst zu subtrahieren, sprich, sich aus dem Leben zu verabschieden, der hat mit der Musik von Anathema den passenden Soundtrack gefunden. Anathema bedeutet im Deutschen so viel wie Bannstrahl, Bannfluch, Kirchenbann - oder einfach nur Gräuel.
1990 ursprünglich als Pagan Angel aus der Taufe gehoben, wandeln Anathema zu Beginn ihrer Karriere auf doomigen Pfaden. Die beiden Gitarre spielenden Gebrüder Vincent und Danny Cavanagh gründen die Band zusammen mit Sänger Darren White, Bassist Duncan Patterson und Drummer John Douglas im Beatles-Städtchen Liverpool. In dieser Besetzung spielen sie ihr erstes Demo ein ("An Iliad Of Woes"), das im Januar 1991 unter die Leute kommt und gute Resonanzen erhält.
Dank Support-Slots für Bolt Thrower oder Paradise Lost und dem Lokalpatriotismus der Liverpooler bauen Anathema bald auf eine treu ergebene Fanschar. Bereits mit dem "All Faith Is Lost" betitelten zweiten Demo ernten sie in der Metal-Presse begeistertes Lob. Sie erhalten die Möglichkeit, auf dem kleinen Schweizer Label Witchunt die Single "They Die" aufzunehmen, die bereits kurz nach Erscheinen ausverkauft ist.
Eben jene Single erregt die Aufmerksamkeit von Peaceville. Die bieten Anathema einen Deal über insgesamt vier Alben an, den sie gerne unterzeichnen. Die erste Aktivität für das neue Label dröhnt ab Oktober 1992 auf der vierten Peaceville-Compilation ("Lovelorn Rhapsody"), bevor im November die EP "Crestfallen" erscheint. Zwischen dieser Platte und dem ersten vollständigen Album spielen sie im Vorprogramm von Cannibal Corpse.
Im Februar 1993 platzt "Serenades" förmlich an die Öffentlichkeit. Presse und Fans sind aus dem Häuschen. In diversen Magazinen erhalten Anathema für einen Newcomer erhebliche Aufmerksamkeit. Das Video zum Song "Sweet Tears" läuft sogar auf MTV.
Im Anschluss bereisen sie den europäischen Kontinent erfolgreich mit Cradle Of Filth, My Dying Bride oder Pyogenesis und betreten ohne große Pause 1994 wieder die Aufnahmeräume, um eine weitere EP ("Pentecost III") einzuspielen. Die steht jedoch erst 1995 nach weiteren Dates in Ost- und Südeuropa in den Läden.
Just zu der Zeit, als Anathema im Studio weilen, um "The Silent Enigma" einzuspielen, wirft Sänger Darren White das Handtuch, um wenig später The Blood Divine zu gründen. Vinnie übernimmt daraufhin den Posten am Mikro und spart sich die Kohle, die er mit einem neuen Sänger teilen müsste.
Pompöser und mit orchestralen Passagen aufgeplustert, präsentieren sich Anathema abwechslungsreicher und undogmatischer denn je - ein Wendepunkt auf dem Weg der Bandgeschichte, den sie mit dem 1996er "Eternity" konsequent weiter verfolgen.
Nach und nach fallen die Doom-Einflüsse weg, es finden Gothic-Anleihen und Psychedelia Eingang in den Sound, die teilweise Referenzen an Pink Floyd offenbaren. Das kommt bei den Fans an, die die Erweiterung des musikalischen Horizontes mit Plattenkäufen vergelten. 1997 ist es an Zeit, diese Entwicklung auf Video festzuhalten. "A Vision Of A Dying Embrace" ist vom Titel her eine Umkehrung dessen, was Anathema-Fans für die Band empfinden.
Mit ihrem an Traurigkeit und Emotionalität nur schwer zu überbietendem Repertoire gerät die Umarmung der Hörer und Zuschauer alles andere als tödlich. Auf jener Kassette befinden sich alle Promo-Videos, die bis dato abgedreht wurden, sowie ein komplettes Konzert. Allerdings kommt nach den Tournee-Aktivitäten zu "Eternity" das Besetzungskarrusell wieder in Bewegung.
Schlagzeuger John Douglas geht, Shaun Steels kommt und nach Erscheinen von "Alternative 4" schleicht sich Duncan Patterson von dannen, Dave Pybus fleucht hinein. Das Rein-Raus-Spiel geht munter weiter, und so etwas wie ein Austausch von Musikern mit Cradle Of Filth beginnt.
Nach Release von "Judgement", das erneut begeisterte Reaktionen hervorruft, schließt sich gerade-erst-Neumitglied Martin Powell der schmutzigen Wiege an, im Gegenzug ersetzt ihn COF-Keyboarder Les Smith, der vorher bereits als Aushilfsmusiker an Bord war.
Basser Dave Pybus spielt zwar noch "A Fine Day To Exit" ein, wandert aber auch in Richtung Cradle ab. Nur kurz danach packt selbst Danny Cavanagh seine Siebensachen, um bei Antimatter mitzumucken. Kein Geringerer als Nick Griffiths (Pink Floyd, Mansun) produziert das Album, und wieder liefern Anathema einen Hochkaräter ab.
Bei "A Natural Disaster" - das Danny Cavanagh im Alleingang schreibt - haben sich wieder alle lieb. Das Line Up liest sich wie folgt: die Gebrüder Danny, Vinnie und Daniel Cavanagh, Ur-Drummer John Douglas und Keyboarder Les Smith. Dennoch fallen die Reaktionen auf das Werk in Fankreisen eher gemischt aus. Anathema stagnieren nun zum ersten Mal nicht mehr auf hohem Niveau, sondern haben scheinbar einen Rückschritt hingelegt.
Auf der Porcupine Tree-Tour zu "Deadwing" bestreiten Anathema das Vorprogramm. Euphorisch feiern Fans die Auftritte der Band ab - trotz der Tatsache, dass Anathema zu der Zeit ohne Labeldeal dastehen. Im Zuge des Aufkaufs von Music For Nations durch den Major Sony zählen Anathema zu den Bands, die sich plötzlich auf der Straße wieder finden.
Positiv, dass sie deshalb nicht die Flinte ins Korn werfen. Im Gegenteil. Die Jungs arbeiten beharrlich an neuem Material und stellen ihren Fans gleich noch zwei kostenlose Downloads auf der Bandhomepage zur Verfügung: "Everything" und "A Simple Mistake". Die Band bittet lediglich um Spenden.
Danach sind sie im Vorprogramm von HIM in Großbritannien unterwegs, weitere Studioarbeiten schließen sich bis Ende 2006 an. Über Metal Mind erscheint im selben Jahr die DVD "A Moment In Time", die sie beim Gig auf dem polnischen Metal Mania-Festival mitschneiden.
2007 ist noch jung, als Anathema verkünden, das Album sei eigentlich fertig. Auf eine Veröffentlichung muss man aber eine gefühlte Ewigkeit warten. Sogar ein Jahr später dürsten die Fans noch nach der Neuveröffentlichung, bekommen Ende August aber in Form von "Hindsight" ein semi-akustisches Album zu hören, das alte und neuere Stücke der Band in einem neu arrangierten Gewand präsentiert.
Ein komplett neues Studioalbum gibt es geschlagene sieben Jahre nach "A Natural Disaster" in Form von "We're Here Because We're Here". Mittlerweile ist Johns Schwester Lee Douglas fest in die Band eingestiegen und unterstützt sie gesanglich. Von elektrischen Gitarren haben sich die Briten derweil fast vollkommen verabschiedet.
2011 kommt "Falling Deeper", auf dem bekannte Songs im leicht klassischen, neu arrangierten Gewand erstrahlen. Für ein Stück greift ihnen sogar die ehemalige The Gathering-Sängerin Annecke van Giersbergen unter die Arme. Für "Weather Systems" verzichten sie Ende April 2012 aber auf fremde Hilfe, sondern verlassen sich erfolgreich einfach nur auf die eigenen Stärken.
Auf "Weather Systems" lassen Anathema so viele Lichtstrahlen zu wie nie zuvor und legen in den Augen und Ohren nicht weniger ihr bis dato bestes Album vor. Wenig später bestätigen sie Daniel Cardoso als Vollzeit-Drummer, der fortan gemeinsam mit John Douglas das rhythmische Fundament liefert. Keyboarder Les Smith nimmt allerdings seinen Hut. Ohnehin sind inzwischen mehr als genug Keyboard-Fähige in den Reihen der Band: Vincent, Danny, John Douglas und Daniel Cardoso steuern allesamt ihren Teil bei.
Trotz "Weather Systems" geht die Suche nach dem perfekten Album freilich weiter. 2014 hat das Liverpooler Sextett genug Selbstbewusstsein, um tatsächlich noch einen selbstbetitelten Song aufzunehmen und auf dem von Steven Wilson gemixten "Distant Satellites" zu veröffentlichen. "Anathema" macht dann auch seinem Namen alle Ehre und kann als Meilenstein des Schaffens durchgehen.
Die elektronischen Elemente, für die vor allem Vincent Cavanagh verantwortlich zeichnet, nehmen auf "Distant Satellites" weiter zu und rücken vor allem auf dem Nachfolger "The Optimist" weiter in den Vordergrund, nachdem "A Sort Of Homecoming" zwischendurch für akustische Stripped-Down-Momente sorgte. "The Optimist" entpuppt sich als visionäres Halb-Konzeptalbum.
Dafür greift die Band ein Element ihrer Vergangenheit wieder auf: Sie spinnt die Geschichte des Unbekannten weiter, der das Auto auf dem Cover des "A Fine Day To Exit"-Albums zurückgelassen hat. Dabei projizieren die drei Hauptsongwriter Danny, John und Vincent eigene Erfahrungen auf den Protagonisten und starten gleichzeitig eine neue Songwriting-Ära: Denn die drei arbeiten stärker und fruchtbarer zusammen als je zuvor. Teils liegt das auch an den verschobenen Lebensmittelpunkten: Vincent zieht nach langen Jahren in Paris nach London und damit in dieselbe Stadt wie sein Bruder, wodurch sich das Verhältnis der beiden nach eigener Aussage wesentlich bessert.
1 Kommentar
Nachdem ich schon länger mal vorhatte, mich mit der Band zu beschäftigen, habe ich am Wochenende auf einem Grabbeltisch eine halbwegs gut erhaltene "Judgement" gesichtet und erstanden. Das Album gefällt, ich würde mich aber über Hinweise freuen, welche anderen Alben besonders zu empfehlen sind und ob eine bestimme Reihenfolge sinnig ist.