laut.de-Kritik

Parabelflug im Luftschloss.

Review von

2014 erschien das großartige Album "Distant Satellite", nur wenige Monate später die neu gemasterte Reissue-Reihe von "Judgement" bis "A Natural Disaster", und jetzt schieben Anathema eine Live-Platte hinterher, die als Dokumentation eines außergewöhnlichen Unplugged-Konzerts gedacht ist. Die Kuh melken, bis der letzte Heller und Pfennig einkassiert wurde – diesem Vorwurf wird sich die Band mit "A Sort Of Homecoming" stellen müssen. Berechtigt ist er nicht. Die Briten bereichern mit dem Mitschnitt in der Liverpool Cathedral tatsächlich unverhofft und beeindruckend ihren umfangreichen Backkatalog.

Eine Band, die sich im Laufe ihrer Karriere erfolgreich von ihrer Doom-Metal-Vergangenheit freispielte und letztlich bei halbakustischem Alternative-Rock mit progressivem Grundanspruch strandete, muss sich erstens nichts mehr beweisen, und übt zweitens ganz sicher keinen Verrat, wenn sie sich für eine Akustik-Tour entscheidet. Dieser Schritt erscheint im Kontext von Anathema viel mehr logisch und konsequent.

Das gebannte Ergebnis gibt ihnen außerdem mehr als Recht. Die Songs offenbaren in unverstärkter Form neue Nuancen und untermauern mehr noch als auf Platte die gewiss kaum zu überschätzenden Songwriting-Fähigkeiten des Brüdergespanns Cavanagh. Was andere unter einen dicken Klangteppich kehren, wird bei Anathema puristisch, aber glanzvoll aufgebahrt, Defizite nicht konterkariert, sondern weg arrangiert, und Minimalismus und Grazie nicht als Gegensatzpaar verstanden. Akustikgitarren, Streicher und der zweistimmige Gesang von Vincent Cavanagh und Lee Douglas reichen häufig aus, um die Kathedrale in ein atmosphärisches Luftschloss zu verwandeln. Traumwandlerische Schönheit darf eben auch aus der Zeit purzeln und ja, sogar uncool sein.

Ohne ein Mindestmaß an nerdigem Perfektionismus ist der astrale Sound, der auch noch den letzten Winkel eines Raumes flutet, ohnehin kaum vorstellbar. Würde zwischen den Songs kein Applaus aufbranden, "A Sort Of Homecoming" wäre kaum als Live-Album zu erkennen. Die Resonanz der majestätischen Location ist das einzige, was die Aufnahmen klanglich vom Studio unterscheidbar macht – und das ist nicht zu deren Nachteil, sondern spricht für eine exzellente Live-Band, die mit Akribie ihre Songs abspeckt, ohne einen Hauch an Intensität einzubüßen.

"Thank you Liverpool. Still one of the best cities in the world", würdigt Cavanagh zum Ende von "Fragile Dreams" seine Heimatstadt. Es ist der letzte Song des Sets. Ihm sind vierzehn Stücke vorausgegangen, die im Schaffen der Band (bis auf zwei Ausnahmen von "A Natural Disaster") nur bis 2010 zurückreichen. Die meiste Substanz zieht das Konzert aus der aktuellen Platte "Distant Satellite" und dem Vorgänger "Weather Systems". Dass Songs aus den Gothic-Tagen eher schwierig in ein Akustik-Set zu integrieren sind, liegt auf der Hand - sie auszusparen, deshalb die richtige Entscheidung.

Mit der Show vom 7. März vollführten Anathema einen Parabelflug von Live-Konzert, der mit "A Sort Of Homecoming" eine völlig berechtigte und bereichernde Konservierung erhält - und das lässt sich wahrlich selten über Live-Alben sagen. Das Prog-Label Kscope veröffentlicht die Show auf CD, Vinyl, DVD, Blu-ray und digital. Noch näher an die Wahrheit kommt man nur mit dem Besuch der Akustikshows, die in Deutschland für November anstehen.

Trackliste

  1. 1. The Lost Song (Pt. 2)
  2. 2. Untouchable (Pt. 1)
  3. 3. Untouchable (Pt. 2)
  4. 4. Thin Air
  5. 5. Dreaming Light
  6. 6. Anathema
  7. 7. Ariel
  8. 8. Electricity
  9. 9. Temporary Peace
  10. 10. The Beginning And The End
  11. 11. Distant Satellites
  12. 12. Take Shelter
  13. 13. Internal Landscapes
  14. 14. A Natural Disaster
  15. 15. Fragile Dreams

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