laut.de-Kritik

Versetzung in die Oberstufe der "School Of Rock".

Review von

Die zierliche Kanadierin, Jahrgang 1984, ist längst nicht mehr das kleine Küken der Rockmusik. Auch wenn sie auf Pressefotos stets die Lolita mimt. Mit dem Debüt "Let Go", das vor zwei Jahren fast schon unheimlich durch die weltweiten Charts rollte, hat sie die Aufnahmeprüfung für die "School of Rock" eindrucksvoll bestanden. 2004 steht ihr die größte Hürde jedoch noch bevor.

Der neue Longplayer "Under My Skin" muss beweisen, dass ihre Musik nach den Anfangserfolgen genügend Substanz besitzt, um im harten Business bestehen zu können. Mit einem bloßen Abklatsch ihres Erstlings wäre es da nicht getan. Zu viele ambitionierte Nachwuchs-Musiker warten im Hintergrund, um Avril den Status der frechen Rock-Göre streitig zu machen. Fefe Dobson zum Beispiel könnte ziemlich schnell in die Bresche springen, falls Lavigne mit ihrem zweiten Streich nicht ein gewisser qualitativer Sprung gelingt. Vor diesem Hintergrund wäre es durchaus verständlich, würde die zerbrechlich wirkende Sängerin in Agonie erstarren - doch das Gegenteil ist der Fall.

Avril schafft bereits mit dem Opener "Take Me Away" einen Quantensprung im Songwriting. Schon dieser Track alleine stellt alles in den Schatten, was noch vor zwei Jahren von ihr zu hören war. Die etwas aufgesetzte Bad Girl-Attitüde ist ausgereifterem Songwriting gewichen. Das Image der Anti-Britney scheint nicht mehr so wichtig zu sein - was sich durchaus positiv auf den Sound auswirkt. Mit geschickt eingesetzten Breaks bestätigt "Together" diesen Eindruck. 08/15 ist anders. Da könnte sich sogar eine Alanis Morissette eine Scheibe abschneiden.

Die stand Avril zu Beginn ihrer Karriere noch mit guten Ratschlägen zur Seite und könnte nun bald selbst zum Abnehmer musikalischer Besserwisserei avancieren. "He Wasn't" erinnert zwar stark an frühe Green Day-Uptempo-Nummern, gefällt aber trotzdem. Sanftere Töne schlägt "How Does It Feel" an. "I'm Not Afraid Of Anything", die erste Ballade des Albums, kann dagegen nicht ganz überzeugen. Die Kollaboration mit dem ehemaligen Evanescence-Gitarristen Ben Moody, "Nobody's Home", stellt ebenfalls nicht die erwartet große Nummer dar. Aber dann!

Mit "Forgotten" zieht Lavigne urplötzlich einen Übertrack aus dem Ärmel, den wohl weder ihre Kritiker noch die eingefleischtesten Fans auf der Rechnung hatten. Zarte Piano-Klänge leiten eine melancholisch verträumte Atmosphäre ein. Die Tastenklänge steigern sich tief grollend in eine anklagende Stimmung hinein, in die Avril ihrem imaginären Gegenüber die Leviten liest. Was für eine Standpauke. An diesem Song stimmt einfach alles. Streicher schmiegen sich im Mittelpart an auflockernde Drum-Patterns und über allem schwebt drohend ein wummernder Bass. Falls irgend etwas an Avril Lavigne 2004 darauf hin deutet, dass ihr eine große Zukunft fernab aufgebauschter Trends bevor steht, dann dieser Song.

Ein vergleichbares Kaliber gelingt ihr zum Abschluss nicht mehr, aber dieser Tiefschlag sitzt. "Who Knows" ruckelt im Vergleich ziemlich lahm durch den Player und auch "Fall To Pieces" präsentiert Lavigne-Durchschnittskost. Über Albumlänge gesehen, hat sie 2004 dennoch die Versetzung in die Oberstufe der Rockschule geschafft. Weiter so!

Trackliste

  1. 1. Take Me Away
  2. 2. Together
  3. 3. Don't Tell Me
  4. 4. He Wasn't
  5. 5. How Does It Feel
  6. 6. My Happy Ending
  7. 7. Nobody's Home
  8. 8. Forgotten
  9. 9. Who Knows
  10. 10. Fall To Pieces
  11. 11. Freak Out
  12. 12. Slipped Away
  13. 13. I Always Get What I Want

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Avril Lavigne – Under My Skin (Asian Edition) €3,10 €3,00 €6,10
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Lavigne,Avril – Under My Skin/Let Go €4,00 €3,00 €7,00
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Avril Lavigne – Under My Skin €6,89 €3,00 €9,89
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Lavigne,Avril – The Best Damn Thing/Under My Skin €9,90 €3,00 €12,90
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Lavigne,Avril – Let Go/Under My Skin €10,19 €3,00 €13,19

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Avril Lavigne

Manches mal wird schon heftiges Geschwätz aufgefahren, wenn es darum geht, die musikalischen Ambitionen von Newcomern zu umschreiben. Meist wissen sie …

80 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor 3 Tagen

    "Well, I couldn′t tell you
    Why she felt that way
    She felt it everyday
    I couldn't help her
    I just watched her make
    The same mistakes again"

    Das ist ja das, was ich auch immer wieder sage: es muss nicht den einen Grund geben. Man hat das Recht sich schlecht zu fühlen und das Umfeld muss das akzeptieren. Wir sind alle auch verantwortlich für unsere Mitmenschen und müssen die Augen offen halten. Dennoch gebe ich Avril auch Recht, dass Loslassen dazu gehört.

    "She wants to go home, but nobody′s home
    That′s where she lies, broken inside
    With no place to go, no place to go
    To dry her eyes, broken inside"

    Ich gehe stark davon aus, dass hier auf die Identität der Protagonistin angespielt wird bzw. die innere Leere, in der sich diese befindet. In dem Moment, in dem Leere als Belastung empfunden wird und nicht als Ruhe, muss man etwas verändern, hier sind die Pole durcheinander geraten. Wahnsinn auch, wie Avril Lavigne vor über 20 Jahren bereits wusste, dass der Fokus auf Gefühlen immer noch nicht ausreicht, um solchen Problemen langfristig zu begegnen und warum es immer wichtiger wird, jedem zuzuhören und eine offene (Daten-)Kultur zu pflegen.

    Zum Schluss heißt es ja auch "She′s lost inside, lost inside", was nochmal unterstreicht, dass zu viel für andere gegeben wurde, anstatt auf sich selbst zu achten und das innere Kind zu heilen. In der heutigen Zeit, in der es nur wimmelt von ausbeuterischen Narzissten, eine schöne Achtsamkeits-Lyrik - seid auf der Hut, nehmt euch selber mehr Ernst!

  • Vor 2 Tagen

    @Lost7: Okay, es ist irgendwie schon leicht absurd – nach über 20 Jahren einen Kommentar zu "Under My Skin" zu schreiben... und dann geht’s auch noch nur um ein Lied. Aber hey – Nobody’s Home ist halt auch einfach ein starkes Stück, das sich tief eingräbt. Und wenn man schon spät zur Party kommt, dann wenigstens mit einem Glas emotionaler Klarheit in der Hand!

    Der Textausschnitt:

    "Well, I couldn′t tell you
    Why she felt that way
    She felt it everyday
    I couldn't help her
    I just watched her make
    The same mistakes again"

    ...trifft genau den Nerv. Diese Zeilen sagen so viel über Hilflosigkeit, Alltagsdepression und das wiederholte Scheitern, ohne große Worte zu machen. Du bringst es super auf den Punkt: Es muss nicht den einen Grund geben, warum man sich schlecht fühlt. Und genau deshalb ist Akzeptanz so wichtig – im Inneren wie im Umfeld. Avril schafft es, das zu vermitteln, ohne den moralischen Zeigefinger zu heben. Stattdessen streckt sie eine Hand aus.

    Und dann die Zeilen:

    "She wants to go home, but nobody′s home
    That′s where she lies, broken inside..."

    Das Bild der inneren Leere, die zur Belastung wird – wie du sagst – ist intensiv und zeigt genau das Dilemma unserer Zeit: Man funktioniert nach außen, ist aber innerlich abgekoppelt. Und ja: Wenn die Pole durcheinander geraten, hilft keine App der Welt – da braucht es Selbsterkenntnis und Mut zur Veränderung.

    Was Under My Skin insgesamt so gut macht, ist eben genau das: Es ist roh, ehrlich, melancholisch – aber nicht weinerlich. Es ist ein Album, das Schmerz zulässt, statt ihn zu verkleiden. Avril Lavigne hat hier nicht nur ein paar poppige Rock-Songs rausgehauen, sondern ein Stück emotionales Zeitdokument geschaffen – lange bevor Mental Health auf Instagram ästhetisch inszeniert wurde.

    Und ja, das Schlusswort:

    "She's lost inside, lost inside"

    ...ist fast schon ein leiser Hilfeschrei – oder ein Weckruf. Vielleicht beides. In jedem Fall ein Appell: Schaut hin. Hört zu. Und vergesst euch selbst dabei nicht.

    Also, liebe Leute: Auch wenn dieser Kommentar hier ein paar Jahre zu spät kommt – er ist genau zur rechten Zeit.