laut.de-Kritik

Wegweisendes Affentheater.

Review von

1986 nutzte Keith Richards eine Schaffenspause seiner Rolling Stones, um seinem großen Vorbild zu huldigen. Für den Film "Hail! Hail! Rock'n'Roll" stellte er eine Band zusammen und nahm selbst als Begleitgitarrist auf der Bühne Platz. Chuck Berry, gerade 60 Jahre alt geworden, schien nicht gerade glücklich darüber, dass er nicht alleine im Rampenlicht stand. Näher als nach einem Konzert ein paar Jahre zuvor, als Berry Richards Backstage niedergeschlagen hatte, weil er es gewagt hatte, seine Gitarre zu berühren, kamen sie sich nie mehr.

Das sagt zwei Dinge über Berry aus. Erstens: er ist kein umgänglicher Typ. Zweitens: er muss schon ein verdammt großes Vorbild sein, dass Richards, selbst ein Teufelskerl, im Nachhinein über die Zusammenarbeit schmunzelnd berichten kann.

Chuck Berry sei nur ein anderer Name für Rock'n'Roll, behauptete John Lennon einst. Dabei hat Berry das Genre weder erfunden, noch war er dessen bester Gitarrist. Dieser Titel geht eher an Scotty Moore, Session-Musiker bei Sun Records, der auch auf vielen von Elvis Presleys frühen Aufnahmen zu hören ist. Doch war Berry der erste, der seine Gitarre in den Vordergrund rückte und sie explizit zu seiner Schwanzverlängerung machte und so Scharen an (männlichen) Teenagern dazu verführte, selbst zur Gitarre zu greifen und ihn nachzuahmen.

Wobei der Begriff Teenager in den 1930ern geprägt wurde und sich im Jahrzehnt nach dem zweiten Weltkrieg durchsetzte, also jener Zeit, in der Berry seine größten Erfolge feierte. Weniger, um hormongeschwängerte Stimmungsschwankungen zu erklären, wie es heute der Fall ist, sondern um eine neue Werbegruppe zu definieren. Ihr könnt nichts dafür, dass ihr euch so fühlt. Die Erwachsenen sind halt total scheiße. Und übrigens – wir haben hier ein paar Produkte, die euch helfen können.

Berry war clever genug, diese Marktlücke zu erkennen, obwohl er selbst längst aus dem Alter raus war. Die Welt der Erwachsenen und ihre beschissene klassische Musik? "Roll over Beethoven / And tell Tchaikovsky the news", erklärte Berry. Sie zwingen dich, zur Schule zu gehen? "He never ever learned to read or write so well / But he could play the guitar just like a ringing a bell". Zwei Zeilen, die Richards, aber auch Jeff Beck, Jimmy Page, George Harrison oder Eric Clapton als Motto diente.

"Don't bother me, leave me alone / Anyway I'm almost grown" sang Berry 1959 im ersten Stück seines dritten Albums, "Chuck Berry Is On Top", das nicht nur eines der hässlichsten Cover der Musikgeschichte ziert, sondern auch viele seiner besten Stücke enthält. Wobei eine LP zu jenem Zeitpunkt eher eine Sammlung an Singles darstellte als ein organisches Werk. Eines der Stücke, "Maybellene", war 1955 sein erster Hit gewesen.

Erstaunlich, wie viele Berry davon schrieb, indem er immer wieder denselben Riff mit minimalen Änderungen und dieselbe Melodie, ebenfalls mit minimalen Änderungen, verwendete. Auch darin war er ein großes Vorbild, etwa für AC/DC. Sein Zielpublikum sprach er auch mit Texten an, die für ihre Zeit erstaunlich schlüpfrig daherkommen.

"She's too cute to be a minute over seventeen / ... / If she'll dance we can make it / come on queenie, let's shake it", macht er sich in "Little Queenie" Hoffnung. "Sweet little Sixteen / She's got the grown-up blues / Tight dresses and lipstick / She's sportin' high-heel shoes", setzt er einem jungen Groupie ein Denkmal. Gelebte Zeilen, obwohl Berry zu diesem Zeitpunkt bereits über 30 war, dazu seit einigen Jahren verheiratet und Vater zweier Kinder.

Mit Frauen brachte sich Berry im Laufe seiner Karriere immer wieder in Schwierigkeiten. 1959 wurde er verhaftet, weil er angeblich mit einer 14-jährigen Bedienung in einem Nachtlokal, das er in seiner Heimatstadt St. Louis eröffnet hatte, im Bett gelandet war. Das Verfahren war zweifelhaft, der Prozess wurde wegen rassistischer Befangenheit des Gerichts wiederholt, schließlich wurde Berry dennoch zu drei Jahren Haft verurteilt, von denen er die Hälfte absaß. Es war sein zweites Mal hinter Gittern: Mit 19 hatte er nach einem bewaffneten Raubüberfall schon zwei Jahre eingesessen.

Noch schmuddeliger wurde es zu Beginn der 1990er Jahre, als ihn 59 Frauen verklagten, weil er in einem seiner Restaurants auf dem Damenklo Kameras installiert hatte. Berry behauptete, das sei aus Diebstahlschutz geschehen, die Ermittler fanden aber einige der Aufnahmen in seinem Haus und nebenbei 62 Gramm Marihuana. Mit den Frauen einigte sich Berry außergerichtlich, sechs Monate Haft auf Bewährung bekam er trotzdem aufgebrummt.

Seine Ehe hielt all dem Stand. "Eskapaden sind erlaubt, solang zuhause das Feuer lodert", erklärte Berry. Too much monkey business, zuviel Affentheater, hatte er ohnehin in einem seiner bekanntesten Stücke festgestellt.

Sex, Drugs und sprichwörtlich Rock'n'Roll> also. Sein Einfluss verdankt Berry auch dem Pianisten Johnnie Johnson, dessen Trio er 1953 beitrat und der mit seinem mitreißenden Anschlag für Dampf im Hintergrund sorgte. Nachdem Berry einen Vertrag bei Chess Records ergattert hatte und mit seiner ersten Single "Maybellene" 1955 gleich einen landesweiten Hit landete, überzeugte Berry Johnson, die Combo in Chuck Berry Trio umzubenennen.

In St. Louis und Umgebung hatten sie bereits für Furore gesorgt. Berry hatte den elektrischen Blues aus Chicago mit Country-Elementen versehen und so einen Stil erschaffen, der sowohl einem schwarzen als auch einem weißen Publikum gefiel und die Zuschauer, unabhängig von der Hautfarbe, zum Tanzen brachte. Eine Sensation, zu jener Zeit und in einer Gegend, in der Rassentrennung noch Alltag war. Zumal Berry selbst, wie seine Band, schwarz war.

Johnson blieb immer im Schatten Berrys und verklagte ihn 2000 sogar erfolglos, weil er nicht als Co-Autor aufgeführt worden war. Wenigstens ist er im Titel von Berrys bekanntesten Stück verewigt, denn "Johnny B. Goode" ist kein anderer als der Pianist selbst, der sich gerne die Kante gab und dann aufgefordert werden musste, brav zu sein.

Doch beherrschten Berry und seine wechselnden Mitstreiter mehr als nur "Goode" und Variationen. So endet "Chuck Berry Is On Top" mit dem jaulenden Instrumental "Blues For Hawaiians". Calypso ("Hey Pedro") spielte Berry im Laufe seiner Karriere ebenso wie die eine oder andere einfühlsame Rhythm And Blues-Ballade.

Mit seinen geladenen Liveshows blieb er auch nach seiner Gefängnisstrafe in den 1960er Jahren erfolgreich. Im Knast hatte er ein Stück namens "C'est La Vie" geschrieben, das mit dem Titel "You Never Can Tell" drei Jahrzehnte später John Travolta und Uma Thurman in "Pulp Fiction" zum Sieg in einem Tanzwettbewerb verhalf. Dass Berry seinen einzigen Nr.1-Hit erst 1972 mit den sinnentleerten "My Ding-A-Ling" feierte, ist eine ironische Fußnote der Musikgeschichte.

Wie so viele seine Kollegen war er von Verlegern und Labels übers Ohr gehauen worden und verdiente an seinen Aufnahmen und deren Wiederverwertung kaum etwas. Geld machte er fast ausschließlich mit Konzerten. In den 1970er und 1980er Jahren reiste Berry meist alleine an, erschien zehn Minuten vor Konzertbeginn beim Veranstalter und steckte die Gage bar ein plus 1.000 Dollar Pfand, falls die Begleitband nichts taugte. Das konnte sie auch gar nicht, denn die musste der Veranstalter selbst stellen und Berry gab sich nicht die Mühe, sie mit einer Tracklist zu versorgen. "Er spielte einen Riff und die anderen sollten erraten, um welchen Song es sich handelte" erinnert sich Bruce Springsteen, der als noch unbekannter Musiker auch in den zweifelhaften Genuss einer solchen Veranstaltung kam.

So verspielte sich Berry viele Sympathien. Und rief die Steuerfahndung auf den Plan. 1979 musste er wegen Steuerhinterziehung erneut ins Gefängnis, wenn auch nur für vier Monate, und anschließend 1.000 Sozialstunden in Form von kostenlosen Auftritten leisten.

Eine Legende blieb er. Und ist es noch heute. Mit über 80 wagte er sich noch einmal auf Europatour, mit knapp 90 tritt er immer noch einmal im Monat im Restaurant Blueberry Hill in seiner Heimatstadt St. Louis auf, in der er sein Leben lang gewohnt hat. Wer mehr erfahren will, als die unzähligen Wühltisch-Compilations hergeben, wird übrigens (wie so oft) beim Label Bear Family fündig: Seit 2014 hat es eine Anthologie im Programm, die auf 16 CDs alles bereit stellt, was Chuck Berry jemals aufgenommen hat.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Almost Grown
  2. 2. Carol
  3. 3. Maybellene
  4. 4. Sweet Little Rock & Roller
  5. 5. Anthony Boy
  6. 6. Johnny B. Goode
  7. 7. Little Queenie
  8. 8. Jo Jo Gunne
  9. 9. Roll Over Beethoven
  10. 10. Around and Around
  11. 11. Hey Pedro
  12. 12. Blues for Hawaiians

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