11. April 2025
"Folklore ist cool"
Interview geführt von Philipp Kause"Yarin Yoksa" ist ein perfekt produziertes Album und gleichzeitig wiederum Vintage-Musik. Das ist scheinbar ein Widerspruch, in diesem Fall aber transportiert der Sound das kulturelle Erbe Derya Yıldırıms in ein internationales Umfeld und rückt es somit ins optimale Licht. Obwohl die Band ihre Wurzeln in Hamburg, Berlin und Südostfrankreich hat, entstanden die Tonspuren in New York.
Hinter den Kulissen einer Platten-Aufnahme werkeln oft Produzenten, die man sofort erkennt. Leon Michels, der Ko-Konstrukteur des Daptone-Sound, ist bei vielen heutigen Artists aktiv, ohne dass man ihn bemerken würde. Zuletzt bei Norah Jones. Was er zum neuen Werk von Deryas Grup Şimşek beigetragen hat und warum das Quartett ihn fast als fünftes Mitglied empfindet, erzählen euch Sängerin Derya, die zahlreiche Instrumente spielt, Schlagzeugerin Helen, Keyboarder und Flötist Graham und Gitarrist Antonin.
Was heißt Grup Şimşek? Wie kam's zu eurem Namen?
Derya: Grup Şimşek ist ein Wortspiel, das auf meinem Nachnamen Yıldırım basiert, da beide Wörter eine ähnliche Bedeutung haben. Şimşek bedeutet auf Türkisch 'Blitz' oder 'Blitzschlag' und kann auch 'Donner' bedeuten, und Yıldırım hat ebenfalls die Bedeutung von 'Blitz' oder 'Blitzschlag'. So verbindet der Bandname diese beiden Begriffe und spiegelt gleichzeitig eine persönliche Bedeutung wider. Es besteht also eine Art kreatives Wortspiel zwischen meinem Nachnamen und dem Bandnamen. Ich finde, dass der Name zu unserer dynamischen, kreativen Herangehensweise an Musik und zu unserer Art passt, wie wir zusammen arbeiten und uns ausdrücken.
Multinational europäisch wart ihr schon lange, nun seid ihr mit Label in New York und Schlagzeugerin aus Südafrika sozusagen multikontinental. Wie fühlt sich das für euch an?
Derya: Die Band bezeichnet sich nicht als multinational oder multikontinental, sondern als 'outernational', weil sie nicht an Grenzen oder Nationen glaubt. Diese Haltung war von Anfang an zentral für uns und prägt unseren Sound, der aus den unterschiedlichen Hintergründen der Bandmitglieder entsteht. Der Wechsel vom Schweizer Label Bongo Joe zum New Yorker Label Big Crown markiert für uns ein neues Kapitel – ein bedeutender Schritt über den Ozean, der eine wesentliche Veränderung mit sich bringt.
Und inwieweit hat das auf den Sound der Platte abgefärbt?
Derya: Der Sound von "Yarın Yoksa" fühlt sich offener an – als hätte dieses Album das Potenzial, noch mehr Menschen mit seinem Klang zu umarmen. Ich bin mir nicht sicher, ob das daran liegt, dass wir mit einem Produzenten aus einem anderen musikalischen Umfeld gearbeitet haben oder weil wir als Quartett zum ersten Mal eine fünfte Person in unseren kreativen Prozess eingeladen haben, um das Album als ein vollständiges, in sich geschlossenes Werk zu formen. Genau das macht es so besonders.
Die Zusammenarbeit mit Leon Michels an "Yarın Yoksa" war ein bedeutender Meilenstein für uns. Sie ermöglichte es uns, unseren Sound in eine neue Richtung zu entwickeln, seine Perspektive zu integrieren und dabei trotzdem unseren Wurzeln treu zu bleiben. Die Verbindung zur anatolischen Musik bleibt stark – nicht nur als Inspiration, sondern als etwas, das wir aktiv bewahren. Das zeigt sich besonders in den drei traditionellen Stücken, die wir neben unseren eigenen Kompositionen neu interpretiert haben.
Instrumentell bleibt die Basis unseres Sounds bestehen: Groovige Basslines und Drums, Wah-Wah-Gitarre, Hammond-Orgel und Vintage-Synthesizer, immer zentriert um die Saz, genauer die Bağlama. (Anm. d. Red.: Die Saz sind eine Familie von Lauten, traditionellen Saiteninstrumenten. Eine davon ist die Bağlama.) Gleichzeitig haben wir unser Klangspektrum erweitert, mit Elementen wie Klavier, Congas, türkischen Fingerzimbeln und mehr Flöten.
Eine weitere wichtige Entwicklung war die Integration von Helen Wells am Schlagzeug: Nach drei Jahren gemeinsamer Live-Auftritte war dies das erste Mal, dass wir diese Dynamik im Studio festhalten konnten. So haben wir einen frischen, weiterentwickelten Sound erschaffen.
Antonin: Leon Michels Produktionen schieben das Schlagzeug, Percussion und die Bassgitarre in der Abmischung nach vorne, in einer wirkungsvollen, warmen und ungeschliffenen Art und Weise. Die Instrumente und Vocals um diesen Kern herum erfahren dadurch eine sehr spezielle Tiefe und Textur.
Tatsächlich unterscheidet sich das Ergebnis sehr von den EPs unserer "Dost"-Serie, die wir selbst produzierten und die einen gefälligeren Klang hatten. Darin nahmen Keyboards, Bağlama und Gitarren-Arrangements eine zentralere Rolle ein, um Deryas Stimme zu stützen. "Yarın Yoksa" erlaubt es daher, die Musik der Grup Şimşek durch ein anderes Prisma gebrochen zu betrachten. Als Musiker:innen lieben wir diese neuartige Dimension.
Die Rhythm Section nimmt also mehr Raum ein. Aber einen klangästhetisch krassen Unterschied zu euren vorigen Alben und EPs konnte ich, zum Glück, nicht feststellen. Welchen Einfluss hat Leon abgesehen von der technischen Seite auf die Gestaltung ausgeübt?
Derya: Ich denke, Leon war unglaublich aufmerksam und hat unsere Ideen sowie die Vision hinter jedem Song wirklich respektiert. Eines der beeindruckendsten Dinge an der Zusammenarbeit mit ihm war, wie es uns gelang, einige unserer Songs zu kürzen, ohne ihre Essenz zu verlieren. Wir neigen dazu, lange Stücke zu schreiben. Denn wir lieben es, musikalische Momente auszudehnen und uns vollkommen in ihnen zu verlieren. Mit Leon haben wir die Herausforderung angenommen, unsere Songs zu verfeinern und sicherzustellen, dass sie genau die Länge hatten, die sie brauchten, während ihre Seele intakt blieb.
Was mich weiterhin beeindruckt, ist seine tiefe Musikalität. Er hat eine Art, Melodien auf ein neues Level zu heben, sodass sie gleichzeitig frisch und doch tief vertraut wirken. Sein Ansatz erinnert mich oft an anatolische Musik, die mir sehr am Herzen liegt. Als er die Melodien für die Aufnahmen von "Bilemedim Ki" auf dem Klavier spielte, fühlte es sich wie eine direkte Verbindung zu meiner Kindheit an – etwas Bemerkenswertes, da er mit dieser Art von Musik nicht aufgewachsen ist. Seine Sensibilität und die Fähigkeit, Klänge auf seine eigene Weise aufzunehmen und neu zu interpretieren, hatten einen riesigen Einfluss auf dieses Album. Ich bin wirklich dankbar, dass er seinen kreativen Prozess in dieses Projekt eingebracht hat.
Big Crown ist traditionell ein Label für Retro-Soul. Von Leon Michels, der mit euch produziert hat, habe ich schon manches rezensiert, was in meinen Ohren Folk-Soul war. Wie nahm die Zusammenarbeit ihren Lauf?
Graham: Als Leon und die Big Crown-Leute uns einluden, um in den legendären Diamond Mine-Studios in New York aufzunehmen, waren wir super thrilled und voller Vorfreude auf das Projekt.
Wir hatten unsere vorherigen Alben selbst produziert, in meiner Heimatstadt in den französischen Alpen. Für uns stand also eine große Veränderung an! Das Studio selbst unterscheidet sich, natürlich voller toller Vintage-Instrumente und Equipment. Und mit einem der besten Toningenieure überhaupt, Jens Jungkurth.
Die einschneidendste Veränderung bestand aber darin, mit Leon die Musik zu entwickeln und künstlerische Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Ich habe den Eindruck, dass es ihm gelang, die Arrangements und den Klang aromatischer zu machen. Radikaler, als wir es uns in unserem bisherigen D.I.Y.-Vorgehen getraut hätten.
Eines Tages im Studio, zum Beispiel, übte unsere Drummerin Helen einen Fünf-Viertel-Beat an einem alten Metall-Stuhl. Und an einem bestimmten Punkt warf Leon in den Raum "that chair sounds sick". Letztlich nahmen wir das ganze Lied mit diesem Stuhl auf, und es hört sich unglaublich an!
Helen: Der Aufnahmeprozess war voller solcher Ausprobier-Momente wie diesem. Das war sehr inspirierend für mich. Wir waren frei darin, Ideen an verschiedenen Instrumenten auszutesten, um die Stücke so ausgereift und interessant zu gestalten wie überhaupt möglich.
Obendrein hatten wir jederzeit den Luxus von Leons Meinung und kreativem Input als Produzent, einschließlich dessen, dass er mit uns als Bestandteil der Band auch spielte.
Das komplette Vorgehen bei der Arbeit fühlte sich wie die perfekte Umgebung an, um einfach kreativ zu sein und frei zu performen: Mit einem Live-Recording-Setup und mit Jens, der Anpassungen an den Mikrofonen vornahm und für jeden einzelnen Track die Aussteuerung der Drums korrigierte.
Ich denke, dieses Setting passte zu uns als einer Band, die weitaus häufiger live auftritt, als dass wir uns in Ruhe hinsetzen würden, um diese Konzertklänge einzufangen. Dieses Album ist das erste, bei dem ich Teil der Band war, und ich sehe das als Privileg.
"Die Emotionen Anatoliens werden ein gemeinsames Erbe für alle."
In den letzten Jahren und in der bisherigen Berichterstattung über euch wurde viel auf die Bağlama-Laute abgehoben, da sie erheblich zum Sound beitrug. Aber es gibt ja auch immer wieder Stücke wie jetzt zB "Ciçek Açiyor", bei denen die Orgel dominiert und man sich an die ganze Strömung des Psychedelic Rock seit den 60ern erinnert fühlen kann.
Derya: Die Bağlama ist ein essenzieller Bestandteil unseres Sounds. Sie prägt maßgeblich unseren musikalischen Kosmos. Das liegt vor allem daran, dass die anatolische Volksmusik ein zentraler Bestandteil unserer Musik ist. Die Bağlama verkörpert dieses Erbe. Daher ist sie für die Wahrnehmung unserer Musik kaum wegzudenken.
Allerdings ist es uns wichtig, die Bağlama nicht zwanghaft in jedes Stück einzubauen. Jedes Lied hat seine eigene Klangwelt, und unser Ziel ist es, für jedes Stück die bestmögliche Version zu finden.
Wenn die Bağlama für den Sound eines Songs nicht essenziell ist, dann verzichten wir bewusst darauf - so wie etwa bei "Güneş", dem letzten Stück des Albums. Was "Çiçek Açıyor" betrifft, stehen hier die Saz und die Querflöten im Vordergrund, während die Orgel eine untergeordnete Rolle spielt.
Oha, dann kann man das wohl recht verschieden wahrnehmen. Worum geht's denn in dem Song?
Derya: Übersetzt lautet der Text so:
Wer wird all mein Seufzen hören? / Ist es ein Schatz, ist es eine Plage? / Meine Sorgen sind viele, doch es gibt kein Heilmittel.
Ich werde zu Asche, dein brennender Blick. / Ich strahle noch, ich kann nicht erlöschen. / Es ist eine Last für mich, ich werde gekränkt sein, Liebste(r). / Du, das Heilmittel für meine Sorgen! / Ich werde eine Rose sein, meine Nachtigall.
All meine Hoffnung habe ich an eine Wand gehängt. / Wegen deines Flehens konnten meine Worte nicht gehört werden. (...) Der Tag bricht an, trotz allem, doch er kann diesen Krieg nicht gewinnen. / Das Wasser findet seinen Weg. / Wenn ich hungrig bin, bist du meine Heilung. / Dürr wie die Wüste werden sie werden, / doch meine Rosen werden nicht verwelken.
Die Blumen blühen, die Blumen blühen, die Blumen blühen.
Ihr habt innerhalb der Gruppe eine Art Sprachbarriere bezüglich der Lyrics. Und erst recht das Label und ein Großteil des Publikums werden die Songtexte nicht verstehen. Das ist interessant, weil es der Musik abverlangt, die Message stark mit zu vermitteln, und ich stelle es mir aber auch in der Situation beim Schreiben, Proben, Aufnehmen spannend vor. Wie kommuniziert ihr darüber und wie detailliert wissen die einzelnen Instrumentalist:innen von den Lied-Inhalten Bescheid?
Derya: Liedtexte spielen für uns eine genau so große Rolle wie die Musik. Beides hat das gleiche Gewicht. Besonders bei Volksliedern tauschen wir uns intensiv über deren Inhalt und Kontext aus, schon bei der Auswahl der Stücke. Diese Gespräche sind essenziell, um ein tieferes Verständnis für die Musik und ihre kulturellen Hintergründe zu entwickeln.
Auch im Studio mit Leon Michels in New York war das spannend: Er wollte zu jedem Lied wissen, worum es geht, weil der Text das Produzieren und Weiterkomponieren beeinflusst. Da wir viele unserer Lieder gemeinsam schreiben, kennen alle die Inhalte, auch wenn nicht alle Türkisch sprechen. Die Verse und Übersetzungen sind immer präsent, und es gibt eine besondere Sensibilität für die Auswahl der Worte.
Haben die elf Songs - das heißt zehn plus Instrumental - einen inneren Zusammenhang? Gibt es eine übergeordnete Story, beispielsweise die Idee oder Absicht eines Konzeptalbums dahinter?
Derya: Alle Lieder auf dem Album drehen sich um die Frage: Was wäre, wenn es keinen Morgen gäbe? Jedes Stück erzählt eine eigene Geschichte und setzt sich mit den Themen auseinander, die in diesem Gedankenraum entstehen. Der Albumtitel spielt daher eine übergeordnete Rolle und verbindet alle inhaltlichen Fäden.
Sogar der Titel des instrumentalen Stücks hat einen besonderen Stellenwert: "Yüz Yüze" bedeutet so etwas wie "Von Angesicht zu Angesicht" und könnte möglicherweise eine Schlüsselrolle im Gesamtkonzept des Albums einnehmen.
"Yarın Yoksa", also "wenn es kein Morgen gibt" - das entspräche ja etwa dem Gefühl, vor einem Nuklearkrieg zu stehen?
Derya: Ich würde im Folgenden gerne beschreiben, worum es in dem Album geht, dann bekommt ihr einen besseren Einblick. "Yarın Yoksa" erforscht Themen wie persönlichen Schmerz, kollektiven Widerstand und Transformation.
Das Album balanciert Verlust, Sehnsucht und die Hoffnung auf Veränderung und schafft einen Raum, in dem persönliche Erzählungen auf universelle Erfahrungen treffen.
Durch die Neuinterpretation der drei ausgewählten Volkslieder "Ceylan", "Hop Bico" und "Misket" erschafft dieses Album eine universelle Sprache der Musik, in der die Emotionen Anatoliens ein gemeinsames Erbe für alle werden. Aus dieser Perspektive wird die Musik zu einem zeitlosen Ausdruck der Menschlichkeit, der mit neuen Generationen und über Kulturen hinweg in Resonanz tritt.
Den Begriff 'Folklore' lese ich in den letzten Jahren nur mehr selten in Musik-Umschreibungen. 'Darf' man den noch verwenden ohne Gefahr zu laufen 'exotistisch'-aneignend zu sein, eurer Meinung nach? Und wie zutreffend ist "anatolische Folklore" beim neuen Album?
Derya: Ich sehe überhaupt keine Gefahr darin, den Begriff 'Folklore' zu verwenden - im Gegenteil. Für mich ist das ein Begriff, auf den ich stolz bin, weil er eine Musikkultur beschreibt, mit der ich mich identifiziere und die ich weiter vertiefen möchte.
Anatolische Folklore war immer ein essenzieller Bestandteil unserer Musik, weil wir sie verkörpern. Unser neues Album trägt genau diese Tradition in sich, aber nicht als etwas 'Exotisches' oder Vergangenes, sondern als eine lebendige, zeitgemäße Ausdrucksform.
Leider wurde Folklore in Deutschland bisher oft mit privaten Zusammenkünften und Nachbarschaften assoziiert und nicht so etabliert, wie es eigentlich sein könnte. Dabei hat das Wort für unsere Generation das Potenzial, eine neue Perspektive zu eröffnen. 'Kulturelles Erbe' hat heute eine ganz andere Kraft, und wir wollen zeigen, dass Folklore nicht nur relevant, sondern auch cool sein kann - eine 'Sprache', die in die Zukunft führt.
Gibt es zu dem Lied "Hop Bico", zu dem man auch auf Spotify und YouTube sehr viele Aufnahmen findet, eine Art Referenzversion? Oder eine 'berühmteste' Aufnahme?
Derya: Eine konkrete Referenzversion zu "Hop Bico" gibt es nicht, da Volkslieder durch mündliche Überlieferung oft variieren. Es existieren zahlreiche Versionen, die sich regional unterscheiden.
Wie bekannt ist das heute in der Türkei? In welchen Regionen?
Derya: Das Lied ist besonders in Mittelanatolien bekannt, insbesondere in und um Sivas. Die Version, die ich singe, stammt aus dieser Region. Es ist ein populäres Stück, aber gleichzeitig kein Lied, das man einfach so covert. Es hat eine starke kulturelle Verwurzelung. Es gibt viele andere bekannte Volkslieder, aber für mich ist es entscheidend, dass ich einen persönlichen Zugang zu den Stücken habe.
Das ist auch bei der Auswahl der Volkslieder für uns als Band wichtig: Wir wollen eine echte Verbindung dazu herstellen, um eine tiefere, fast schon Meta-Ebene für uns selbst zu schaffen. "Hop Bico" ist zudem ein bekanntes Tanzlied und gehört fast schon zu den Must-Haves bei Hochzeiten. Es wird dort regelmäßig gespielt.
"Wir glauben nicht an Grenzen oder Nationen."
Wie hättet ihr es gerne, dass Konzertgänger:innen über euch sprechen? Geht man nach den Promo-Infos, würde man sowas vermuten wie 'Ich geh heute zu Grup Şimşek, die fusionieren anatolische Folklore' - aber das wird in der Mund-zu-Mund-Propaganda wohl kaum jemand sagen?!
Derya: Wie Konzertgänger:innen über uns sprechen, können wir nicht beeinflussen - und das wollen wir auch nicht. Unsere Musik ist im Grunde genrelos und bietet Raum für individuelle Zugänge. Es geht weniger um westliche oder anatolische Elemente, sondern um das, was zwischen den Melodien und Zeilen steht: Die Emotionen. Besonders mein Gesang, der ausschließlich auf Türkisch ist, zeigt, dass Sprache keine Barriere sein muss.
Ich wünsche mir, dass Menschen nicht in Schubladen denken, aber ich verstehe, dass jede:r uns nach den eigenen Hörgewohnheiten einordnet - das ist nicht unbedingt negativ. Nur mit dem Wort 'fusionieren' kann ich mich gar nicht anfreunden. 'Anatolisch' und 'Folklore' dagegen passen für mich gut, sogar sehr gut!
Den Song "Cool Hand" kann man dagegen als Psychedelic Soul bezeichnen, "Yakamoz" als recht rockig mit einem jazzigen Twang - allenfalls "Hop Bico" würde ich jetzt als klar folkloristisch bezeichnen, zum Beispiel aus rhythmischen Gründen. Welche Tänze fließen dort ein?
Derya: "Hop Bico" basiert auf dem Volkslied, das traditionell als Tanzlied im 6/8-Takt gespielt wird. Es wird meist in einem Kreistanz getanzt, bei dem sich die Tänzer im Rhythmus bewegen. Unsere Version bezieht sich auf die Variante, die meine Oma damals gesungen hat.
Generell ist die anatolische Volksmusik für ihre rhythmische Vielfalt bekannt: Die Melodien passen sich oft den Rhythmen an, wodurch neue Formen und Tänze entstehen. Tänze fließen in unsere Musik nicht direkt ein, aber sie sind ein wichtiger Teil des kulturellen Kontexts. Gerade bei der Interpretation von Volksliedern ist es essenziell, ihre Herkunft und Bedeutung zu verstehen.
Welches Tonleitersystem liegt da zugrunde?
Derya: Wir gehen beim Komponieren nicht analytisch vor, sondern orientieren uns an Melodien. Dabei entsteht eine Mischung aus diatonischen Tönen und Mikrotönen, die auf der Bağlama spielbar sind. Diese Mikrotöne werden oft fälschlicherweise als Vierteltöne bezeichnet.
Zu den psychedelischen Anteilen: Wie würdet ihr den Begriff Psychedelic definieren?
Helen: Das Wort war, finde ich, immer ein bisschen vage. Es umfasst jeglichen Schritt, der sehr rigide Genres oder Pop-Formate über ihre typische gestalterische Spanne und ihren Kompositions-Stil hinaus erweiterte und ausdehnte. Man könnte aber sagen, dass - und das ist wichtig - psychedelische Musik oft ein mystischer oder spiritueller Gehalt zugeschrieben wird, den Publikum und Band zusammen spüren. Nicht jeder Auftritt für uns entspricht diesem Phänomen. Aber wenn es so kommt, dann sind das diejenigen Shows, die wir definitiv am meisten genießen.
Helen, du bist die Schlagzeugerin seit diesem Album, aber schon seit den letzten Tourneen. Schon der erste Track des Albums ist sehr perkussiv mit großen Tuschs auf dem Becken, da hört man dich gut. Du bist ursprünglich aus Kapstadt in Südafrika nach Berlin gezogen. Wie kam der Kontakt zwischen euch zustande?
Derya: Der Kontakt zu Helen kam auf sehr natürliche Weise zustande. Ein gemeinsamer Freund, den wir schon lange kannten, hatte sie neu kennengelernt und erfahren, dass wir auf der Suche nach einem Schlagzeuger waren.
Er brachte uns daraufhin zusammen, und so begann unsere gemeinsame Geschichte. Es war ein sehr organischer Prozess. Zudem passte es perfekt, da Helen gerade frisch nach Berlin gezogen war, sodass wir gemeinsam ein neues Kapitel beginnen konnten.
Ihr habt das Album zunächst in Hamburg aufgeführt. Derya, du bist dort aufgewachsen, aber soweit ich erfahren konnte, nicht mehr dort wohnhaft. Welchen Bezug habt ihr insgesamt heute zur Hansestadt?
Derya: Hamburg ist der Ort, an dem sich DYGŞ 2014 beim New Hamburg-Theater-Projekt zusammengefunden hat, was es für uns fast zu unserem 'Geburtsort' macht. Es ist besonders, dort zu spielen, weil es immer wie ein Heimspiel ist und sehr bedeutend für uns bleibt.
Als gebürtige Hamburgerin fühle ich mich eng mit der Stadt verbunden, auch wenn ich inzwischen in Berlin lebe. Hamburg wird immer meine 'Perle' bleiben, und die Hansestadt hat einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen.
Ihr wart in der Elphi. Wie bereitet man sich als Rock- oder Folkband auf eine Show in der Elbphilharmonie vor?
Derya: Wir verstehen uns nicht primär als Rockband. Es geht uns nicht darum, in einen klassischen Konzertsaal zu passen, sondern darum, dass wir die Musikalität und Kultur aus unserer Nachbarschaft präsentieren.
Die Elbphilharmonie ist ein großartiger Ort für uns, um unsere Musik einem breiten Publikum vorzustellen. Die Resonanz war überwältigend, und es war eine unvergessliche Erfahrung, dort zu spielen. Es war eine tolle Gelegenheit, unsere Musik in einem der bedeutendsten Konzertsäle der Welt zu präsentieren - und wir waren sehr aufgeregt und stolz darauf.
Besonders herausragend war für uns diesmal, das Konzert gemeinsam mit Ensemble Resonanz zu spielen, einem etablierten Streichorchester, mit dessen Personen ich schon eine jahrelange musikalische Freundschaft habe. Außerdem sind wir schon öfter in größeren Konzertsälen aufgetreten: Wie im Konzerthaus Dortmund im Februar 2025.
Es der Welt zu präsentieren, schön gesagt. Wie blickt ihr denn als Band mit politischen Lyrics auf die Welt? Musik vermag den Planeten ja doch mindestens ein bisschen zu verändern. Die weltpolitische Lage verändert sich gerade außerordentlich. Die meisten Menschen beschäftigt das. Dabei wird über manche Länder sehr viel gesprochen, über andere wie die Türkei und Frankreich, zu denen ihr biographische Bezüge habt, jedoch kaum.
Derya: Mit diesem Album möchten wir unsere Perspektive auf die aktuelle Weltlage ausdrücken. Der Titel "Wenn es keinen Morgen gibt" bezieht sich auf diese Situation und unsere Auseinandersetzung mit ihr. Es geht nicht unbedingt um die Rolle einzelner Länder, sondern vielmehr darum, wie man sich als Individuum in dieser Weltlage zurechtfindet und welche Emotionen dabei eine Rolle spielen.
Wir möchten mit unserer Musik Wut, Trauer, aber auch Hoffnung und den Wert des Kollektivismus zum Ausdruck bringen. Musik hat das Potenzial, kulturelle Zusammenkünfte zu schaffen und Menschen zu erreichen, um so zur Veränderung der Welt beizutragen.
Wie tauscht ihr euch als gelebte deutsch-französische Freundschaft über das europäische Lebensgefühl aus?
Derya: Es fällt mir schwer, etwas dazu zu sagen, weil es gerade viel Frust, Trauer und Wut gibt, vor allem angesichts der Entscheidungen der Politiker:innen, die Leben kosten. Unser aktuelles Lebensgefühl ist von dieser Frustration geprägt. Meine Meinung spiegelt sich auch in unserer Musik wider.
Gibt es außer Hamburg eine Stadt, wo ihr 'zuhause' seid, oder Städte, in denen sich die einzelnen Bandmitglieder zuhause fühlen, oder seid ihr vor allem viel unterwegs und eher zwischen den Stühlen?
Derya: Wir glauben nicht an Grenzen oder Nationen, und wir bezeichnen uns deswegen gerne als "outernational". Das bedeutet, dass wir uns überall wohlfühlen, solange wir zusammen sind und einen Ort für unsere Zusammenkunft schaffen.
Natürlich fühlen wir uns in Hamburg besonders wohl, da dort unsere Freundschaft und viele Erfahrungen ihren Ursprung haben. Aber auch Städte wie Berlin und Chambéry, wo wir residieren und an unseren Alben arbeiten, sind Orte, an denen wir uns ebenfalls sehr zuhause fühlen.
Zum Schluss würde ich gerne als Service für die Leser:innen noch auf einen Song des Albums genauer eingehen - die besonders schöne Ballade "Bilemedim Ki". Wovon handelt sie?
Derya: Hier ist die Übersetzung des Liedtextes:
Bleib in klaren Gewässern
Ungezähmte Seele
Auge des Sturms
Komm zu mir, das Boot ist verloren
Mein Kompass ist zerbrochen
Wenn es nicht gefunden wird,
Wüsste ich es nicht
Ich wusste es nicht
Ich weiß es nicht
Ich konnte es einfach nicht wissen
Atme den Ozean ein,
Während er mich verschlingt
Das Mondlicht spiegelt sich auf dem Meer
Wickle es ein, binde es auf meine Zunge
Hypnotisiert vom Hafen
Verknotete Seile
Ich kann sie nicht lösen
Ich konnte es nicht lösen
Ich kann es nicht lösen
Ich konnte es einfach nicht lösen
Zerschneide den Knoten
Die Laterne ist erloschen
Die Wellen toben
Tauche in das kalte Wasser
Das Eis in mir
Ich kämpfe, doch
Ich kann nicht schwimmen
Ich konnte nicht schwimmen
Ich kann nicht schwimmen
Ich konnte es einfach nicht
Ich würde sagen, dass das der Ruhepol des Albums ist. Gibt es zwischen den Tracks eine gewollte Dramaturgie in der Reihenfolge und im Album-Aufbau?
Derya: "Bilemedim Ki" ist ein Moment im Album, in dem man kurz zur Ruhe kommt - und gleichzeitig beginnt eine neue Reise. Es fühlt sich an, als wäre man mitten auf dem Ozean, auf einem kleinen Segelboot, ohne funktionierenden Kompass. Der Weg ist unbekannt, und eine Rückkehr nach Hause scheint nicht möglich. Es ist wie ein Übergang in eine neue, ungewisse Richtung. Das erzählt dieses Lied.
Noch keine Kommentare