laut.de-Kritik
Energisches und melancholisches Psychedelia-Masterpiece.
Review von Philipp Kause"Düsteres Schicksal steht über dieses Land geschrieben / nachts wurden Straßen und Plätze abgefackelt." - Die tiefe Traurigkeit auf
Derya Yildirims Album hat nicht immer solche heftigen Gründe wie Diktatur, Krieg und Schrecken im Song "Direne Direne". Das Lied ruft zum Widerstand auf, mindestens dem inneren: Die Seele darf sich nicht unterkriegen lassen. Derya und ihre Grup Simsek pflegen emotionales Liedgut auf ihrem neuen Psychedelic-Rock-, teils Folksoul-Album "Yarin Yoksa". Es ist das zweite der Band nach "Kar Yağar" von 2019.
Die universell angelegten Gedanken und Stories betreffen das Menschliche weltweit, Flucht und Migration zum Beispiel: "Meine Wurzeln habe ich zurück gelassen / und ich schwöre: Es war aus Notwendigkeit / meine Rückkehr war ungewiss", wie es in der anrührenden Ballade "Yakamoz" heißt. Sängerin Derya trägt die Stücke allesamt türkischsprachig vor. Sie wuchs in Hamburg auf, die Muttersprachen ihrer Bandmitglieder sind hingegen Englisch und Französisch. Dem Tonträger liegt zwar ein Textheft mit den englischen Entsprechungen bei, im Konzert wird man aber darin kaum im Dunkeln blättern.
Ohnehin enthalten die Lyrics viele Natur-Metaphern, sie lassen sich nicht so leicht durchdringen. Beispielsweise, wenn die Vögel Istanbuls ihre Zeichen in die Luft entsenden, wenn sich Sorgen und Seelenqual in Wetter-Beschreibungen spiegeln oder wenn der Song "Ceylan" sich in eine Rehmutter, eine Ricke, hinein versetzt, der durch Jäger mehrere Kitze abhanden kommen. Kurzum: Diese poetische Band weicht traurigen Themen ungern aus.
Mittels der Musik müssen die einzelnen Köpfe der Grup Şimşek viel transportieren, um sich untereinander zu verständigen und dem Publikum die Botschaften der meist gehaltvollen Songs zu vermitteln - oder zumindest eine Idee davon. Auf "Yarin Yoksa" gelingt dies in verschiedenen Geschwindigkeiten, vom lebhaften Volkslied "Hop Bico" über entspanntes, immer noch treibendes Yacht-Rock-Midtempo, bis zum nachdenklichen "Güneş" ("Sonne").
Die Grup Simsek hat aufs erste Überfliegen der Rohdaten einiges mit der Anatol-Retropop-Truppe Altın Gün gemeinsam: Da wären der interkulturelle Brückenschlag, mit Merve Dasdemir lange Zeit (jetzt nicht mehr) ebenfalls eine Frontfrau, die außer zu singen auch Instrumente spielt, türkische Texte, psychedelische Mellowness in den Harmonien, analoge Vintage-Orgeln, eine Bağlama-Laute als prägende Elemente im Klangbild. Altın Gün haben sich über die Jahre jedoch Richtung Orient-Synthpop entwickelt, die Grup Şimşek parallel eben nicht. Sie ist zwar ebenfalls eingängiger geworden, aber in einem ganz anderen Sinne: Die Stücke haben sehr charakterstarke Melodien, heben sich klar voneinander ab. Poppig sind sie derweil gerade nicht.
Melancholie prangt als ganz große Überschrift über allen Songs auf "Yarin Yoksa", und sie wird eher rough und raw ausbuchstabiert, das heißt: Druckvoll preschen auch so wehklagende Lieder wie "Direne Direne" und "Ceylan" voran, massiv, vehement. Kantig an der Orgel zeigt sich das Album. Die Brüche zwischen den Nummern sind mitunter hart. Man muss sich also immer wieder im Kopf umstellen. Mit 'Pop' im engeren Sinne hat das geringfügig zu tun, insoweit eben eine der Quellen Sixties-Pop heißt. Hier läge dann auch der einzige Kritikpunkt an dieser Platte, der in den 2020ern bisher auf ausnahmslos alle Platten zutrifft: Neu ist nur die Kombination der Zutaten - echte, tiefe Konventionsbrüche unterbleiben hingegen. Trotzdem passiert hier etwas Besonderes im grauen Retro-Einerlei. Etwas, das man am Jahresende und auch in zehn Jahren noch als Vorreiter für einen trotzigen Umgang mit dem Trennenden von Kulturen betrachten kann. Ein Amalgam, welches das einende Band menschlicher Grundgefühle, insbesondere von Ängsten und Nöten vertont. Das Zusammenfügen bezieht hier äußerst viele Quellen einschließlich Surf/Garage und Traditionals des Mittelalters mit ein, und es entsteht mehr als die Summe der Teile, nämlich etwas mit Gänsehaut-Potenzial.
"Yarin Yoksa" enthält viele Tricks, um die Hörer:innen zu fesseln - kurze instrumentale Sequenzen von virtuoser Kühnheit, viel Modulation in den Vocals, eine gesunde Mischung aus rockig, lärmend, schwer, viel auf der einen Seite - und behutsam, stripped-down, folkie, rhythmisch hüpfend auf der anderen, insgesamt zwischen viel und und wenig an Klangmasse. Es ist einfach eine interessant gestaltete Platte frei von einem Schema F. Manche Stücke brauchen ein bisschen, bis sie einem so richtig ins Ohr schlüpfen, andere zielen schneller auf westliche Hörgewohnheiten, oder "Hop Bico" als Coverversion auf östliche. Die Hälfte der Lieder legt mit ihrem interkulturellen Brückenschlag eine Hürde davor, aber irgendwann kommt ein Hördurchlauf, da hat man dann fast alle Tracks verinnerlicht.
Die Art und Weise, wie die Grup Simsek alte Zutaten von Gedichten des 16. Jahrhunderts bis zu Vorfahren wie Procol Harum und türkischen Pendants jetzt neuartig verwurstet, die bleibt so einmalig wie geschliffen brillant. Deryas Gesang hört sich hinreißend an, kann zu Tränen rühren. Im zittrig-traurig performten "Güneş" ist es großes mediterranes Chanson-Kino für jemanden, der in einer Hafenstadt an der Alster aufwuchs und die Türkei nur aus den Ferien kennt. Graham Mushnik ist ein Spitzen-Keyboarder, daran kommt man ebenfalls nicht vorbei, in Reinform zu hören im saunawarmen Instrumental "Yüz Yüze", oder in den Soli in "Yakamoz" (zum Beispiel Minute 1:08 bis 1:33). Das Liedmaterial tischt ausnahmslos erste Güteklasse auf. Da wird nicht gegeizt. Das Album zeigt eine mehr folkloristisch rückwärtsgewandte Seite auf "Hop Bico" ebenso wie den treibenden modernen Indie-Knaller "Istanbul'un Kuşlari".
In "Bilemedim Ki" gibt es ziemlich genau in der Mitte eine Stelle, da gravieren alle Instrumente stampfend und energisch dem Song einen Schuss Mut ein, flößen ihn dem Publikum ein. Im Grusel-Text heißt es, "die Reflexionen des Mondlichts auf dem Meereswasser wirken abstoßend (...) es herrscht wilder Wellengang, tauche ins kalte Wasser / doch ich kämpfe, biete meine ganze Kraft auf / ich kann nicht schwimmen, konnte es nie / ich kann einfach nicht schwimmen, kann es nicht." Die quietschende und leicht schiefe Orgel drückt am Ende zusammen mit kräftigen Percussion-Tuschs das Unruhige der Wellen prägnant aus. Das Ensemble zeichnet sich stets dadurch aus, dass man jede Zutat gut hört. Das Retro-Artwork illustriert es. Von links nach rechts sehen wir: Graham, verwuschelt-präziser Meister der Unschärfe, mittig oben Derya, zurzeit kurzhaarig, hatte früher die Frisur von Schlagzeugerin Helen, die mittig unten folgt, rechts guckt uns Antonin an, super versierter Worldwide-Musikkenner.
Ein Pluspunkt des Ganzen ist schließlich die Produktion. Die Handschrift von Menahan Street-Souler und 79.5-Producer Leon Michels, einem Strippenzieher, den man selten wirklich bemerkt, kann man ein bisschen in der Raumklang-Abmischung von "Istanbul'un Kuşlari" wahrnehmen. Gitarren und Drums mischt er deutlich hinter die Vocals. Dazwischen lugt noch eine angedeutete Klarinette als Brücke zwischen Vorder- und Hintergrund ab und an mit tollen Trillertönen hervor. Aber witziger Weise lebt der Song gerade von seiner Rhythm-Section, weil man genau hinhören muss, um sie zu wirklich zu spüren. Das Verwaschene, das die Band hier aufs Blasinstrument anwendet, macht die Musik so psychedelisch. Und manchmal, wie in "Cool Hand", sind Rhythmik, Dramaturgie und Stimmung auch Genre-technisch am besten mit dem Wort Psychedelic zu greifen.
Verwaschen müssen wir trotzdem auch bei der Genre-Einordnung bleiben. Denn es ist eben nicht einfach nur eine Art World-Fusion-Music oder eine exotisch angestrichene Form von Indie-Folk, sondern es handelt sich um knackige Rock-Bretter mit gesellschaftlichen Themen, kollektivem Schmerz und barocker Klangausstattung. Ausgereifte Sound-Qualität, emotionale Intensität, Abwechslung, Originalität und im Inhalt wirklich etwas mitzuteilen - hier kommt einiges zusammen.
1 Kommentar
Ich frage mich, ob der Rezensent die Platte je gehört hat? Knackige Rockbretter oder die angepriesene Psychedelia kann ich hier allenfalls in Spurenelementen finden. Ist nett und interessant, sehr retro, aber auch nicht mehr. Ja, ist mal was anderes und die Produktion gefällt wirklich gut, da den Instrumenten viel Raum gelassen wird.