In den 90er Jahren fristete Synthie-Pop im kollektiven Musikgedächtnis ein Schattendasein. Zwar hatte sich der Computer als Instrument zur Musikerzeugung längst im Mainstream etabliert, doch zielten die Ergebnisse entweder in Richtung Techno (House, Trance, Goa, Drum'n'Bass, Downbeat) oder auf die Komposition lebloser Pop-Wegwerf-Produkte für die Charts. Die Zeichen der Zeit bestimmten in den 90ern ohnehin die sechs Saiten der Gitarre und die verschiedenen Genre-Ausprägungen hörten auf Namen wie Grunge oder Britpop.
Erst Ende des Jahrzehnts setzte nach und nach die Rückbesinnung auf die frühen 80er Jahre ein, in denen zahlreiche, hauptsächlich aus England stammende Bands mit romantisch-rührseligen Melodien aus dem Synthesizer die Charts eroberten. Der Übergang verlief nicht fließend. Zunächst löste die New Wave-Bewegung den Punk ab, in der Bands von unterschiedlichster musikalischer Couleur zusammen fanden. Gemeinsam war Gruppen wie The Police, Pretenders, Gary Numan oder The Cure einzig die aus dem Punk gezogene Energie, die sich musikalisch in verschiedenster Weise auswirkte. Nach und nach entdeckten viele Bands dieser Kategorie die von regelrechten Preisstürzen heimgesuchten, analogen Synthesizer.
In der Folge entwickelten sich nach und nach zahlreiche Subgenres: Als New Romantics wurden beispielsweise englische Bands bezeichnet, die besonderen Wert auf Styling legten und dies auch in offensiver Form zur Schau stellten (Duran Duran, The Human League). Für Bands wie The Cure, Siouxsie And The Banshees oder Joy Division, die Ende der 70er mit grollenden Bassläufen und Weltschmerz-Lyrik eine betont düstere Richtung einschlugen, öffnete sich das Gothic-Genre.
Und schließlich kam einigen Bands auch die von Kraftwerk bereits seit Jahren praktizierte Idee der rein elektronischen Klangerzeugung, derer sich Bands wie Ultravox, Depeche Mode oder OMD früh annahmen. Der Grundstein war gelegt für ein vielfältiges, durch Technik inspiriertes Jahrzehnt, in dem Synthie-Pop (auch Elektro-Pop oder 80s Pop) ein neues Zeitalter in der Musikgeschichte einläutete.
Am Anfang war Kraftwerk. Mit dem Album "Autobahn" setzte das Düsseldorfer Quartett 1974 einen Meilenstein der elektronischen Musik in die Welt, dessen Reichweite niemand vorhersehen konnte. Statt Gitarren zu malträtieren, gaben sich die vier Musiker der Gruppe damit zufrieden, im Proberaum an Knöpfchen herum zu drehen. Doch nicht nur das: sie besaßen gar die Chuzpe, diese bewegungsfreie Studio-Performance auch auf der Bühne vor Publikum aufzuführen.
Zwar werkelten mit Can, Faust, Tangerine Dream und Neu! in den 70ern noch weitere deutsche Bands auf innovative Weise an neuen Klangwegen, die Revolution der elektronischen Musik zettelten jedoch unwiderruflich Kraftwerk an und gelten damit zu Recht als Begründer des Genres, das in den 80ern Synthie-Pop und in den 90ern Techno groß rausbringen sollte. Von Edgar Froese, Mitglied der 1967 in Berlin gegründeten Band Tangerine Dream, ist das schöne Zitat überliefert: "In zehn Jahren wird jeder einen Synthesizer spielen". Der Satz fiel in einem Interview von 1973 und brachte den Journalisten dazu, sein Aufnahmegerät zu stoppen und Froese als Idiot zu beschimpfen.
Für die Entwicklung des massentauglichen Synthie-Pops der 80er Jahre sind jedoch noch andere Einflüsse wichtig. Der Brite Gary Numan gehört dazu. Zwar können vor ihm schon Kraftwerk mit der epischen Single "Autobahn" die Charts stürmen, doch der Ex-Tubeway Army-Sänger gilt bis heute als erster Synthesizer-Popstar. Im Jahr 1979 erscheinen seine Singles "Cars" und "Are Friends Electric?", die den Jüngling mit der Vorliebe für Science Fiction-Stoffe über die Grenzen des Königreichs hinaus bekannt machen.
Zu dieser Zeit verrät er auch sein Erfolgsgeheimnis: "Mein einziges Talent ist es, Geräusche aneinander zu reihen". Damit weist er als bekennender Nicht-Musiker Dutzenden von Elektronik-Jüngern den Weg, die bald darauf ein neues Genre salonfähig machen sollten.
Jene Synthie Pop-Bands übernehmen nichts anderes als die "Do it yourself"-Attitüde des Punk, die Ende der 70er Jahre mittels der Glorifizierung dreier Akkordfolgen eine neue Herangehensweise an Gitarrenmusik darstellte. Schließlich ist auch der analoge Synthesizer leicht zu bedienen, obendrein plötzlich für jedermann erschwinglich und nicht mehr von der Größe eines Wandschranks, wie man es noch von Kraftwerk-Coverabbildungen Mitte der 70er Jahre her kannte.
Zu den wesentlichen Analog-Synthies zählen der Minimoog und die Jupiter/Juno-Geräte von Roland, die den speziellen Sound früher Aufnahmen von Depeche Mode ("Speak And Spell") oder The Human League ("Dare") charakterisieren. Die ersten Moog-Geräte kommen bereits 1965 auf den Markt und schaffen es schnell in die frühen Liveshows von Pink Floyd. Auch der Bass-Synthesizer TB 303 von Roland, der 1982 auf den Markt kommt, ist so typisch für Früh-80er Synthie-Pop wie die Geräusch-Gewitter, die die Einführung des Samplers 1983 nach sich zieht. Erst mit dem digitalen Synthesizer Yamaha DX-7 kommen die alten Analog-Geräte ab 1985 langsam aus der Mode.
Die meisten neuen Bands suchen das erstmals von Kraftwerk gezeichnete Bild elektronischer Musik zu konterkarieren: keinen sterilen und kühl-maschinellen Charakter sollen die Kompositionen mehr ausstrahlen, sondern vielmehr Wärme und Romantik. Ob tatsächlich die oft zitierte Tristesse des britischen Alltags unter der Thatcher-Regierung als Grund für die meist kitschigen Song-Ergebnisse herhalten muss, bleibt Spekulation.
Tatsache ist, dass Ultravox 1980 mit dem epischen "Vienna" die europäischen Charts stürmen und Soft Cell kurz darauf ihr elektronisches "Tainted Love"-Remake in die Diskos schmettern und dank des pathosbeladenen Organs von Sänger Marc Almond als die Verkörperung des 80er Kitsch-Pops schlechthin gelten. Doch auch OMD stehen mit "Maid Of Orleans" dem bombastischen Synthie-Schwulst in nichts nach. Als die Urväter von Kraftwerk 1981 mit dem Album "Computerwelt" nochmal mittenrein in den britischen Synthie Pop-Höhenflug platzen, hat sich die nachfolgende Generation bereits in Richtung moderne Popmusik verabschiedet.
Nicht alle Bands unterzeichnen Anfang der 80er bei einer großen Plattenfirma, viele vertrauen lieber der familiären Unterstützung kleiner, sogenannter Indie-Labels (Feindbild: Industrie!). Der Begriff "Independent" gilt anfangs noch für alle Bands, die auf kleinen Labels veröffentlichen und entwickelt sich erst Mitte der 80er zu einem eigenen Genre für Gitarren-Rock abseits von Bon Jovi und U2. Zu den erfolgreichsten Indie-Labels hinsichtlich elektronischer Musik zählen Mute aus London (Fad Gadget, Depeche Mode, Erasure, Nitzer Ebb) und Factory aus Manchester (New Order).
Eine weitere Ausdrucksform des Elektro-Booms nennt sich Hi-NRG (die Lautschrift für "High Energy"), die sich mit 130/140 bpm (Beats per minute) nach und nach zur essentiellen Clubmusik der 80er Jahre entwickelt. Dank des gleichnamigen Nummer Eins-Hits von Evelyn Thomas kommt der Begriff 1984 gar selbst zu Chartehren. Pate steht hierbei die End-70er Disco-Welle. Die volle Konzentration des Phänomens gilt dem recht minimalistischen Rhythmusgerüst, das von Drum Machines und Sequencern angetrieben wird. Somit verwundert es auch wenig, dass der Sound seinen Ursprung in den Gay-Clubs von San Francisco hat, wo der Körperkult besonders ausgeprägt ist.
Bekennende Homosexuelle wie Bronski Beat, Pet Shop Boys oder Frankie Goes To Hollywood schielen später unverhohlen auf die Beats der Produzenten Bobby Orlando und Giorgio Moroder. Ihnen gebührt dank der Mitarbeit an Gloria Gaynors "Never Can Say Goodbye" und Donna Summers "I Feel Love" der Löwenanteil am Erfolg der neuen elektronischen Clubmusik. Der 1982 an AIDS verstorbene DJ Patrick Cowley liefert Anfang der 80er den legendären 15-Minuten-Mix von "I Feel Love". Beide Disco-Songs sind dank ihres Tempos und ihrer Abmischung bereits echte Hi-NRG-Kracher.
Aus historischer Sicht geht Hi-NRG als Übergangsform von Disco zu House in die Annalen der Musikgeschichte ein. Zwischen Südtirol und Sizilien ahmt das Label S.A.I.F.A.M. das neue Dance-Rezept nach und landet mit "Hey Hey Guy" von Ken Lazlo den ersten Top-Seller der Italo Disco-Welle. Zum Superstar schafft es Mitte der Achtziger allerdings nur der gutaussehende Manuel Stefano Carry alias Den Harrow, dessen Songs allerdings jemand anderes einsingt.
Zu den wichtigsten Produzenten der 80er zählen der durch die Afrika Bambaataa-Produktion von "Planet Rock" gefeierte Arthur Baker, der die Arbeiten von New Order verfeinert, Stephen Hague legt Hand an die Songs der Pet Shop Boys und OMD, während Trevor Horns Vita von Frankie Goes To Hollywood über ABC bis hin zu Spandau Ballet reicht. Heute gehören die jungen Russen von T.A.T.U. zu Horns Kunden.
Zweifellos das erfolgreichste Produzententeam der 80er Jahre sind jedoch Stock/Aitken/Waterman. Die Briten bringen innerhalb weniger Jahre über 100 Songs in den Top 40 ihrer Heimat unter. Ob für den Transvestiten Divine, Fast Food-Produkte wie Hazell Dean, Dauerbrenner wie Rick Astley, Kylie Minogue und Bananarama oder Busenwunder wie Sabrina und Samantha Fox; den drei Produzenten-Machern flutschen die Hits bis zu ihrer Trennung 1991 nur so aus den Fingern.
Dass es dem Trio weniger um dauerhafte Qualität als um Hits für den Moment geht, belegt ein Zitat Peter Watermans: "Unsere Musik ist nur Unterhaltung - sie ist austauschbar. Du kaufst sie, du hast eine gute Zeit. Du brauchst es nicht zu analysieren, um herauszufinden, was in Nicaragua passiert, weil du das niemals auf einer Popmusik-Platte herausfinden wirst." Ihre erste Nummer Eins (1985) darf als einer der typischsten 80er Jahre-Popsongs gewertet werden: "You Spin Me Round (Like A Record)" von Dead Or Alive. Sämtliche Hit-Ingredienzien sind hier integriert: sprudelnde Oktav-Sequencer-Bässe, Kuhglocken-Sounds, schnappende Sechzehntel-Hi Hats und ein hymnischer, mehrstimmiger Pop-Refrain.
Auch in Deutschland hat die Stunde der Produzenten geschlagen. Der Oldenburger Studiomusiker Dieter Bohlen erkennt das Potenzial der neuen Disco-Welle und setzt es mit seinem Partner Thomas Anders erschreckend erfolgreich um: Ohne Modern Talkings aalglatten Elektro-Pop-Brei ist deutscher 80er Pop heute nicht vorstellbar. Nebenbei schreibt Bohlen für C.C. Catch, Marianne Rosenberg, Chris Norman und Bonnie Tyler weitere Hits.
Von New York aus erobert Madonna die Hitlisten und auch sie verzichtet bei ihrem Aerobic-kompatiblen Soft Pop auf Gitarren. Stattdessen hegt auch sie eine Sympathie für die ellenlangen Extended Versions, die im Maxi-Single-Format den Siegeszug antreten. In Deutschland eifert Sandra dem großen Vorbild Madonna mit Songs aus der Feder ihres Ehemanns Michael Cretu erfolgreich nach.
Zu den innovativsten und zugleich meistverkauften Maxi-Versionen zählt New Orders Version von "Blue Monday" (1983, 131 bpm). Auch Dead Or Alives "You Spin Me Round (Like A Record)" im Murder Mix (130 bpm) ist eine legendäre Extended-Aufnahme. Viel Mühe geben sich außerdem die Style-Instanzen Depeche Mode und Pet Shop Boys, die zu jeder Hitsingle mehrere Versionen abliefern. Beide Bands schaffen im Gegensatz zu The Human League oder OMD den Sprung in die 90er Jahre vor allem auch deswegen, weil sie weder den Fehler begehen, sich selbst zu kopieren, noch sich den Moden des Zeitgeists unterwerfen.
Doch Ende der 90er sind plötzlich auch wieder Bands im Gespräch, die lange in der Versenkung verschwunden waren. "Nu Wave" und "Electroclash" nennt sich das neue Phänomen: Felix Da Housecat, DJ Hell und Miss Kittin huldigen in ihren Sets alten Synthie Pop-Basslinien, Bands wie Zoot Woman, Ladytron, Tok Tok oder Golden Boy decken sich mit analogem Uralt-Equipment ein und basteln an neuen Songs nach altem Muster. Auch die Kunst kehrt ins Bewusstsein der Musiker zurück: Bands wie Fischerspooner treten vorwiegend in New Yorker Galerien auf, das Münchner Mädchen-Trio Chicks On Speed lernte sich auf der Kunstakademie kennen und kreiert seine Bühnenklamotten seither selbst. Posing, Glamour und Sex sind die wichtigsten musikbegleitenden Stilmittel der Neuzeit-Variante. Durch das Revival angestachelt, feiern zahllose alte Recken wie Soft Cell, The Human League, Fad Gadget und A-ha teilweise unverhoffte Comebacks.