Porträt

laut.de-Biographie

Derya Yildirim & Grup Simsek

Der Anteil an Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland ließe weitaus mehr Bands erwarten wie Derya Yıldırım und ihre Grup Şimşek. Und obwohl die Texte der Band konsequent in türkischer Sprache sind, ist Frontfrau Derya in ihrer Crew die einzige Muttersprachlerin mit diesem Background. Sie vertritt die alevitische Minderheit, die vor allem im Ostteil Anatoliens beheimatet ist und in ihrer Musiktradition ein fast schon heiliges Saiteninstrument hat, das Derya virtuos beherrscht: Die Bağlama, eine Laute.

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Derya studiert das Instrument bei einem Professor in Berlin. "Die Bağlama gehört auf die großen Konzertbühnen, nicht als Nischeninstrument, sondern als selbstverständlicher Teil der hiesigen Musiklandschaft", versichert sie. Man rechnet die Bağlama der Familie der Saz zu, verschiedenen solcher Lauten in diesem Kulturraum. Dabei ist die 1994 in Hamburg geborene Komponistin keineswegs eine Museums-Musikerin. Sie hat auch schon Saxophon, Gitarre, Oud und Klavier gelernt, letzteres unterrichtet, und einen Bachelor-Abschluss im Jazz-Milieu erworben.

Für den Master im Hauptfach Bağlama ist sie dann kurioserweise die einzige eingeschriebene Studentin. "Die Bağlama ist wie das Klavier in deutschen Haushalten. In jeder türkischen Familie kann mindestens eine Person sie spielen." - Die Studentin, die selbst die Türkei lediglich aus den Ferien kennt, pendelt zwischen Elbe und Spree und tritt gelegentlich zusammen mit ihrem Dozenten Taner Akyol und dem Kammerorchester Ensemble Resonanz auf.

Mit ihrem Quartett Grup Şimşek transferiert sie manche alten Volkslieder in ein rockiges Umfeld. Markenzeichen ist neben der Laute auch die Orgel ihres Bandmate Graham Mushnik, Sohn eines Garagerock-Künstlers. Zusammen erzeugen Graham und Derya einen psychedelischen Vibe. Er schwimmt auf einer europäischen Welle, zusammen mit den ebenso quirligen Stil-Fusionen von Tuhaf oder AySay aus Dänemark, Altin Gün aus Holland oder Gaye Su Akyol, die direkt aus Istanbul stammt.

Ähnlich wie letztere Kollegin, positioniert sich auch die Grup Şimşek mit gesellschaftspolitischen Aussagen - zu Themen wie Krieg, Migration und Entwurzelung, Meinungsfreiheit, Zensur und Diktatur. Entsprechend traurig mit einem Schuss Wut gestalten sich ihre Lieder, wobei das Spieltempo variiert. Von tanzbaren Gefühlsausbrüchen bis zu gedämpfte, behutsam schreitenden Balladen bieten Derya und ihre Combo allerlei.

Eine musikalische Wissenschaft, die man als Master studieren kann, wird schon deswegen daraus, weil das Tonleitern-System in ihren Songs ganz anders funktioniert als in Zentraleuropa üblich. "Die türkische Musik hat sich eher in die horizontale Ebene entwickelt, das heißt: Es gibt mehr als nur zwölf Töne, wie wir diese sonst aus dem europäischen Kontext kennen", erläutert uns die Singer/Songwriterin.

"Jetzt gehen wir ein bisschen in die Musiktheorie hinein. Es gibt sogenannte Mikro-Töne in der türkischen Volks- und Kunstmusik, Töne, die es sonst in der europäischen Musikkultur so nicht mehr gibt. Die europäische Musik hat sich dagegen in die Vertikale entwickelt, und zwar durch Orchester-Ensembles. Dort gibt es mehrere parallele Melodien, die gleichzeitig erklingen. Deswegen entsteht ein Orchester-Sound. Solche polyphonen Harmonien existieren dagegen in der türkischen Tradition nicht. Dort spielt jedes Instrument innerhalb einer Gruppe dieselbe Melodie."

Noch während ihres Studiums führt der Zufall eines Theaterfestivals die Sängerin über einen befreundeten DJ mit ihren Band-Mitstreitern zusammen. Die Franzosen Antonin Voyant, Gitarre, Bass, Querflöte, und Graham Mushnik, Keyboards, betreiben bereits mit der englischen Drummerin Greta Eacott eine Combo namens Malphino zwischen London und den französischen Alpen. Ohne Gesang vermögen sie bereits den alternativ-jazzrockigen Soundtrack zu Theater-Performances beizusteuern.

Zu diesem Zweck lädt ein Hamburger Kurator sie 2014 auf ein mehrtägiges Event in die Hansestadt ein. Das Projekt geht auf den Autor und Kulturprofessor Björn Bicker zurück, nennt sich 'New Hamburg' und soll die multikulturelle Vielfalt der Weltstadt ausdrücken. Yıldırım entschließt sich erst nach einigem Zögern teilzunehmen. Im Allgemeinen nimmt sie Dinge genau und macht keine halben Sachen.

Aus Tagen werden, nach der Bekanntschaft zwischen ihr und dem Trio, Wochen, schließlich Monate, ein Vierteljahr. Man verständigt sich auf Englisch miteinander, und natürlich über die Emotion der Musik, und merkt bald: Da steckt Potenzial für mehr drin! Das erkennen auch eine Reihe von Leuten im Platten- und Promo-Business und auch Booking-Agenturen, die bald Auftritte vermitteln. So landen die vier Musiker:innen bei der Biennale Venedig.

Catapulte, ein kleines Label im französischen Saint-Étienne, in das Antonin und Graham als Mitbegründer schon lange involviert sind, bietet der Grup Şimşek die Möglichkeit zu ausgesprochen hochwertigen, bestens gemasterten Aufnahmen. In ihnen kommt der Respekt vor den analogen Keyboards zum Ausdruck, die von Anfang an sofort die Klangfarbe bestimmen. "Diese Synths sind ziemlich nicht von dieser Welt", staunt der amerikanische Radiosender NPR.

Derya Yildirim & Grup Simsek - Kar Yagar Aktuelles Album
Derya Yildirim & Grup Simsek Kar Yagar
Die junge Hamburgerin stößt mit Schwung viele Türen auf.

Die erste EP erscheint am 3. März 2017 und umreißt das Programm für die nächsten Jahre: Retro-Pop, der an die anatolischen Produktionen der späten 1960er, frühen '70er anknüpft, wie im Song "Gurbet". Kombiniert mit Psychedelic-Rock, wobei Derya sich im entsprechenden Stück "Davet" in Sprechgesang übt.

In "Nem Kaldi" erklingt die Sopranistin zugleich mit dunkler, aber auch brüchiger Stimme in flehendem Vortrag, unterstreicht den Hang zur Melodramatik und baut Folklore-Elemente ein, sodass man zu diesem Track World-Fusion oder Global Pop sagen könnte. Zudem gibt es mit "3223" ein starkes Instrumental.

Auf der folgenden Single "Oy Oy Emine" und dem Debüt-Longplay "Kar Yağar" spiegelt sich das Psychedelische deutlich in den farbenfroh verquasten Artworks. Die Lyrics finden sich auf Türkisch und in der englischen Übersetzung im Booklet. Dazwischen streut Andrea Piro, Labelmanager und zeitweiliger Bassist, goldige Zeichnungen ein. Für den fulminanten Durchbruch ist alles gegeben.

Insbesondere profitiert die Band von der Mischung daraus, dass andere Gruppen in eine etwas ähnliche Richtung steuern und ein generelles Interesse für diese Retro-Sixties-Sounds wecken, einen Trend befeuern, die anderen dabei aber klanglich erheblich anders vorgehen und der Grup Şimşek genügend Alleinstellungsmerkmal lassen. Dennoch kommt auch Deryas Team kaum gegen den übermächtigen Lockdown an. Für Auftritte stehen theoretisch viele Tore offen, wiederholt verschlägt es Derya sogar in die Hamburger Elbphilharmonie.

Um sich für zerfrickelte Tournee-Pläne öfter mal in Erinnerung zu rufen, releasen die Psychedelic-Folker den Nachfolger "Dost" portioniert drei Mal. Einmal als "Dost 1"-EP Anfang 2021, dann mit den weiteren Liedern auf der "Dost 2"-EP Ende '22, und schließlich als limitierte "Dost 1 & 2"-Vinyl zum Record Store Day 2024. Zwischen den beiden Teilen verlässt Yıldırım ihre Heimatstadt und bezieht im Herbst '22 ein WG-Zimmer in Berlin. "Dost 2" taktet mit dem existenzialistischen Stück "Gümüş" auf, zu Deutsch "Silber".

'Dost' bedeutet Kamerad:in, Freund:in, Bruder oder Schwester im übertragenen Sinne. Parallel zu den "Dost"-EPs handeln sich Derya und Graham noch für ein besonderes Projekt eine Nominierung zum Polyton-Preis im Bereich 'Besondere Leistung' ein: "Hey Dostum, Çak! - Music For Children And Other People" ist ein Album mit Kinderliedern und soll durchaus auch ein erwachsenes Indiepop-Publikum ansprechen.

2023 steigt die Drummerin bei der Band aus, und Helen Wells aus der Underground-Rockszene Kapstadts, zuvor bereits auf Tournee an Bord, tritt fest in die Grup Şimşek ein. Mit ihr entsteht das atmosphärisch intensive Album "Yarın", zu Deutsch "Wenn es kein Morgen gibt". Es erscheint international bei Big Crown, einem New Yorker Retro-Soul-Label. Produzent ist erstmals jemand anderes als die Band selbst, nämlich Leon Michels, hauptberuflich 2024 Produzent für Norah Jones und Clairo, als Hobby Mitglied bei The Arcs und ehemals Multi-Instrumentalist für Sharon Jones und Charles Bradley.

In den Stil und Sound der Grup Şimşek greift er nicht ein, außer dass er die verschiedenen Talente der Band deutlicher voneinander abgrenzt, sodass jeder Track als Unikat erkennbar wird, zumal er die Nummern in einer kontrastreichen Reihenfolge auf dem Album anordnet. Der Londoner Guardian kürt die zeitlos schöne Platte zum Album des Monats, vom ersten Ton an entfaltet sie Magie.

Immer wieder schöpfen Yıldırım (Frau Blitz) und ihre Grup Şimşek (Donner) aus alter Literatur und überlieferten Weisheiten, wobei sich durch alle Alben und EPs die Suche nach Gerechtigkeit als roter Faden zieht. Eine der ältesten Vorlagen dafür ist ein Gedicht aus dem 16. Jahrhundert, "Haydar Haydar", wie Derya uns erklärt: "Es handelt davon, dass eigentlich jeder für sich verantwortlich ist und wir doch gleichzeitig eine solidarische Gemeinschaft bilden sollten. Aber die Realität sieht eben anders aus auf dieser Erde, und deswegen sollte man sich gegenseitig in Frieden lassen und akzeptieren, mit den Entscheidungen, die jeder trifft."

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