laut.de-Biographie
Kastrierte Philosophen
Beat-Literatur fesselt die beiden Kernmitglieder der Hamburger Kastrierten Philosophen. Katrin Achinger und Matthias Arfmann verweben zum Beispiel Referenzen zu einem für die Beatniks magischen Schauplatz in Marokko, Bou Jeloud. Von dem Stadttor aus lässt sich buntes Treiben beobachten. Ein dramatisches Lied über das Häuten von Schafen reift daraus, "Bou Jeloud (Father Of Skins)". Schriftsteller wie Paul Bowles klingen als Insider-Bezug an. Im Song "p.c." erzählt Achinger von einem unwirtlichen Hotel, das "Erinnerungen an Paul Bowles' Typhus" auslöse.
Dramatisch, assoziativ und mal auf Deutsch, mal auf Englisch oder beides mit Spanisch vermischt sind die Texte der Gruppe auf ihren elf Alben. Den Großteil trägt Katrin Achinger vor, manches Arfmann und Achinger gemeinsam, oder beide zwischen den Strophen und Parts im Wechsel, und manches er. Er ist der Arfmann, der sich später um einen gewissen Jan Delay kümmern und damit den Geschicken des deutschen Hip Hop, auch Reggae und Dub entscheidende Impulse setzen wird.
Davon ahnt man Anfang der Achtziger noch nichts, als die beiden Köpfe und Producer des Projektes loslegen, in welches sie im Laufe der Jahre über 20 Mitmusiker regelmäßig oder für einzelne Alben involvieren. Der Zeitgeist der späten Jahre der sozialliberalen Ära stört sie. Am Horizont formiert sich zwar gerade die Partei Die Grünen. Aber auch die dreht sich bereits zu sehr um sich selbst: "Hippie-Spießertum, verkrustete politische Debatten und Jazzrockgesülze" identifizieren die Kastrierten Philosophen im Musikexpress als ihre Initialzündung. Gegen diese Mixtur wollen sie ankämpfen. Ihre Kunst soll spontaner, weniger vorhersehbar sein, Spaß, Überraschung und Anspruch miteinander verbinden.
Recht viel mehr Plattformen als Musikexpress, Sounds, Spex, vereinzelte Stadtmagazine und ein paar Piratensender auf Kurzwelle hat man in den frühen '80ern in Westdeutschland nicht, um subversive Underground-Musik einem großen Publikum vorzustellen. Weder VIVA noch Internet-Blogs existieren. Punk, wo er die Wende zum Synthesizer überlebt, speist sich aus Mund-zu-Mund-Propaganda. 'Do it yourself' ist angesagt. So produzieren Matthias und Katrin sich konsequent selbst. Sie knüpfen unzählige Kontakte, heuern etwa immer wieder kreative Grafiker für ihre LP-Artworks an.
Achinger entstammt der Punk-Bewegung. Sie ist eine der wenigen Bassistinnen, die man für die Dokumentation "Suzi Q." nicht über Frauen an der Bassgitarre und den Einfluss Suzi Quatros befragt hat. Später kommen weitere Instrumente hinzu, an denen sie nicht virtuos wird, aber bei Bedarf arbeiten kann. Katrin ist 1962 geboren. Mit 16 macht sie bei der Anarcho-Gruppe Monotoner Ablauf mit. Matthias Arfmanns Milieu ist anfangs gediegener. Der 1964 geborene Bremer bringt fundierte Klavier- und Gesangskenntnisse ein. Verschiedenen Angaben zufolge treffen sich die beiden 1979 (laut Achingers Facebook), 1980 (laut nordnews.de) oder 1981 (gemäß der Compilation "Jahre//1981-2021 (+1)"). Aus jenem Jahr stammt jedenfalls die erste auffindbare Aufnahme "Do I Know You?" (Der Song erscheint indes erst viel später.)
Was die beiden Nordlichter für die Gründung der Philosophen von Anfang an verbindet, ist ihre Vorliebe für die Sounds von The Velvet Underground und Television. Psychedelisch soll sich die Ästhetik der Kastrierten Philosophen außerdem anhören. Typisch für die Gruppe: Sie verquirlt Stile, zwingt zum Hinhören und dosiert fein im Unterton eine Prise Gesellschaftskritik.
Oft deutschsprachig, nachdenklich und doch für Groove und Spaß offen, kann man die Combo als sowas wie die ältere Schwester der Goldenen Zitronen lesen, die sich etwas später ebenfalls in Hamburg formieren und musikalisch wie textlich ein ähnliches - und ähnlich breites Feld - beackern.
1983 nehmen die Philosophen einige Konzerte auf und veröffentlichen sie auf Kassetten. "Heroin" ist eine Synthesizer-Kakophonie in Bootleg-Qualität. Und auch "Decadent Toys" und "Die Kastrierten Philosophen" sind regionale 30 Minuten-Mitschnitte aus Norddeutschland. Über die erste Studioplatte "Lens Reflects Fear" urteilt das Printmagazin Sounds anno '84, es sei "ziemlich unkommunikativer Synthy-Krach". Die EP spielen Wolfgang Wiggers, Multiinstrumentalist, unter anderem an Geige, Saxophon und Orgel, und Drummer Rüdiger Schmidt mit ein. Als Label und Vertrieb agiert das Düsseldorfer New Wave-Kleinstlabel Das Büro. Es herrscht die Post-Punk-Phase, Blütezeit autonomer Mini-Indie-Firmen mit mickriger Reichweite und niederschwelligem Zugang für Newcomer.
Eine Stufe weiter geht es mit der schon professionelleren Firma What's So Funny About, mit der man vier Alben in schneller Folge einspielt - zwei in derselben Besetzung, zwei in einer umbesetzten Kastrierten-Crew. Die Musikfarben unterscheiden sich von Scheibe zu Scheibe fundamental. Das Album "Insomnia" arbeitet phasenweise mit ätherischen Tönen. Mit bisweilen verquasten, psychedelischen Wirrwarr-Stücken, zum Beispiel "I'm Too Busy To Stay (1986)" von derselben LP, machen die experimentierfreudigen Hanseaten es dem Massenpublikum nicht leicht.
Trotzdem spricht sich der wegweisende Ansatz der Band herum. So verkauft sie immerhin "im unteren vierstelligen Bereich, so 2.000 bis 3.000 Stück", erinnert sich Uwe Adelfang, damals Sales-Mitarbeiter bei ihrer Vertriebsfirma EFA. Die 'Energie für alle', gerade frisch gegründet, macht sich ans Werk, solche Avantgarde bundesweit in die Läden zu bringen, auch von damaligen Ketten wie W-O-M, Karstadt und Saturn-Hansa. Von den erreichten Verkaufszahlen können heutige Bandcamp-Selfmade-Acts nur träumen.
Eine Coverversion von The Velvet Undergrounds "Heroin" (aus der berühmten Platte mit der Banane) und der Schwenk zu mehr Englisch in den Texten bringen den Philosophen eine Tour mit Nico ein. Auch in Frankreich und England spielt die deutsche Band als Support etliche Gigs. BBC-DJ John Peel wird auf die Gruppe aufmerksam und setzt einige Songs in seinen kultartig beachteten Sendungen ein.
Solche Resonanzen und Abenteuer gestatten den einzelnen Bandmitgliedern jedoch nicht, von Musik leben zu können. Achinger arbeitet nebenbei, wie sich der EFA-Mitarbeiter erinnert, praktischer Weise im CD-, LP- und Kassetten-Warenlager des Hamburger Vertriebs, und zwar in der Retouren-Abteilung. In der Gegenrichtung der Paketströme, am Warenausgang, werkelt Andy Giorbino. Er wird 1987 zeitweiliger Gitarrist der Philosophen, für die Alben "Between Shootings", "Nerves" und "Tyrants & Poolsharks", eine Live-CD.
Mehrere Cellist*innen, Keyboarder, ein Klarinettist, ein Flötist, ein Posaunist, und ein neuer Ko-Produzent namens Ledernacken flankieren auf diesen und den Folge-Platten die immer projektartiger ausufernden Kastrierten Philosophen. Verschiedene Seitenzweig-Bands, Quasi-Solo-Projekte und Bands innerhalb der Band, darunter die Sektion Non-Stop People, bereichern das Personal.
Katrin Achinger vernetzt sich mit Hamburger Bekannten des Londoner Sängers Andrew Stitch von den Sisters Of Mercy. Der Kontakt trägt einen Remix des Philosophen-Klassikers "Toilet Queen" als Frucht. Der Albumtitel "Leipzig D.C." kommentiert 1990 die deutsche Wiedervereinigung. Ein neuer, zweiter Rüdiger heuert als Schlagzeuger an: Rüdiger Klose ersetzt Rüdiger Schmidt. Klose gründet das Hannoveraner 'Institut für Wohlklangforschung'.
Inspiriert von neueren Musikströmungen, die bis dato mehr in England ihre Szenen hatten und erst langsam das europäische Festland erobern wie Industrial, Gothic, Reggae und Trip Hop, wandelt sich auch das, was Achinger und Arfmann sich unter Wohlklang vorstellen. "Nicht selten war die Entwicklung von einem Album zum anderen kaum nachzuvollziehen, geschweige denn mitzuverfolgen" kommentiert die Zeitschrift Intro.
Für die Erschließung des Downbeat-Terrains gründen sie den neuen Ableger Heroina mit der Expertise des Radiojournalisten Günther Janssen. Er integriert frühzeitig elektronische Mikro-Strömungen in seine Sendungen bei Radio Bremen und Deutschlandfunk und produziert seine private Partnerin im Projekt Donna Regina, einem der ersten deutschen Downtempo- und Drum'n'Bass-Acts. Parallel entwickelt sich in einer neuen Location, der Roten Flora, ein denkbarer Schauplatz für Reggae-Kultur in Hamburgs Sternschanzen-Viertel. Das Stadtteil-Kulturzentrum blickt auf eine bewegte Historie voller Konflikte mit Lokalpolitik, Polizei und Verfassungsschutz zurück. Arfmann engagiert sich dafür, dass mehr und mehr auch Reggae in diesem Venue der links-autonom geprägten Hausbesetzer-Szene stattfindet.
Solo-LPs wie "Inner Ear" und "Icaré", sowohl von ihm als auch von Katrin, sind nicht wirklich 'solo', sondern indirekt Teil der Kastrierten Philosophen. Die beiden Kernmitglieder sind zu dieser Zeit fast untrennbar und auch ein privates Paar. Gemeinsam produzieren sie die ersten Singles von Distelmeyers Blumfeld. Matthias alleine sammelt jedoch auch neue Erfahrungen - als Eurodance-Producer, und für einen der Klassiker des politischen Deutsch-Rap: Für Advanced Chemistrys einziges Album schiebt er bei "193 DM" die Regler.
Mit "Souldier Nonstop" greifen Matthias und Katrin als Kastrierte Philosophen 1995 die Vielzahl von Ambient- und House-Strömungen auf, darunter Spezial-Genres wie Leftfield, und überlassen einem Dutzend DJs und Produzenten das Remixen ihres "Souldier"-Albums. Das spannende Ergebnis tritt in die Fußstapfen von Seefeel, Red Snapper und Nightmares On Wax.
1996 gelingt den Philosophen der mediale Peak, als der neu gegründete deutschsprachige Rolling Stone ihr impressionistisches Lied "p.c." auf seine Beilagen-CD presst. Das zugehörige, dubbige und andächtige Album "Where Did Our Love Go" bestätigt den Eindruck des Eklektizismus vollends. Zu ihrer Coverversionen-Diskographie mit The Velvet Underground und dem Stones-Titel "Play With Fire" fügen die Hamburger Bob Marleys "Soul Rebel" und Max Romeos "Chase The Devil" hinzu.
Wie es oft so ist: Auf den Höhepunkt folgt die Trennung, und zum Schluss gibt's eine Hip Hop-Compilation unter dem Titel "Kastrierte Philosophen Present Non-Stop People". Dass die Kastrierten dem Punkrock entsprangen, ahnt oder merkt man an dieser Stelle nicht mehr. Das Paar zieht privat getrennter Wege, die Kastrierten Philosophen lösen sich auf. Matthias wird zum gefragten Produzenten und Sound-Berater für einen neuen, heißen Act namens Absolute Beginner. Die Hip Hop-Szene des Nordens erblüht. Für Fischmob aus Flensburg produziert er die Tracks "Triggerflanke" und "David". Aber auch der Reggae-Offbeat setzt sich durch. Patrice arbeitet mit Arfmann an "Ancient Spirit". Zum Seeed-Debüt trägt der Philosoph "The Tide Is High" bei.
Benannt nach seinem Studio Turtle Bay Country Club gibt Matthias Compilations mit Dub-artigen Remixes in einer bemerkenswerten Unterwassermusik-Ästhetik heraus. Ebenfalls im Jahr 2002 finden sich seine Credits noch mal bei Katrins Solo-CD "Jump (Without A Warning)". Die Goldenen Zitronen machen mit Matthias die EP "80.000.000 Hooligans". 2009 ereignet sich dann das Album mit dem größten Echo, das einem Kastrierten Philosophen bis dato zuteil wurde: "Wir Kinder Vom Bahnhof Soul". Jan sagt über das Teamwork mit Arfmann in einem Intro-Interview: "Wir haben uns zusammen den Arsch aufgerissen."
Zeitgleich bei Katrin Achinger: Zu ihrer Band The Flight Crew nimmt sie den Philosophen-Schlagzeuger Rüdiger Klose mit. Gemeinsam spielen sie das Album "Simple Song" 2009 ein und bringen es auf eigene Faust ohne Label heraus - es gibt ja MySpace. Zur Tour kommt es jedoch nicht, weil Klose unerwartet 2010 stirbt.
Es tritt eine Pause ein, bis Katrin mit einer Cellistin, Krischa Weber, zu einer Unplugged-Tour aufbricht. Sie produziert Kurzfilm-Soundtracks und spielt Live-Musik für Stummfilm-Vorführungen. Insgesamt lassen weder Achinger noch Arfmann in den 2010er Jahren viel von sich hören.
Im Lockdown 2020 steigen die Studio-Aktivitäten wieder. Katrin und Matthias brüten über einer Retrospektive, und Katrins Flight Crew bringt mit "Claim Your Right" Ende 2022 einen neuen Song auf fünferlei Art heraus. Von Kammermusik bis Reggae-One Drop bietet die EP eine Handvoll Schattierungen, die auch das Spektrum der Kastrierten Philosophen gut reflektiert. Deren Bandbreite und Versatilität bleibt einzigartig.
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