laut.de-Kritik

Die Dub-Pioniere auf ihrem Trip vom Post-Punk zum Downbeat.

Review von

"Kunst ist Verteidigung! / Unser Filmteam hat ein kaltes Hotel gemietet / voll gestopft mit Gerümpel (...) Schimmel kriecht wie das Böse hinterm Bett hervor / habe ein kleines Kind und flüchte vor pittoresker Schäbigkeit / zu einer Heizung, sauberen Betten und James Bond-Fluren / man hörte keinen Laut, wenn hier jemand abgemurkst würde: / das ist, wo Kunst endet und Geld regiert." So eröffnet Katrin Achinger den Klassiker "P.C. (1996)" inmitten ihrer "Jahre // 1981-2021 (+1)" der Hamburger Gruppe Kastrierte Philosophen. In dem alten Lied, einem Herzstück der neuen Werksschau, geht's nicht etwa um PCs, sondern um Kunstschaffende, die in ihrer Ideologie gefangen sind und sich die Welt schön malen, gar sich einreden, von ihren Filmen, ihrer Literatur oder Musik leben zu können - zum Beispiel, wenn sie sich zwecks "political correctness" freiwillig Arbeitsbedingungen ergeben, die alle 'normalen' Erwerbstätigen hingegen unzumutbar fänden und ablehnen würden.

Ein Back-Beat atmender Bass jamaikanischer Prägung treibt die Nummer, in der Achinger sich als Sprechgesangs-Sing-Jay dem Rhythmus anpasst. "P.C. (1996)" befindet sich auf "Where Did Our Love Go", dem letzten und bekanntesten Album der Philosophen. Es gibt keine typische LP der Band, wie der Sampler zeigt - dazu war jedes einzelne zu sehr "Überraschungs-Ei", wie das Magazin Intro mal schrieb.

Entsprechend vielschichtig wirkt die bunte Compilation: Im Post-Punk-Milieu starten die Philosophen ihre "Jahre // 1981-2021 (+1)" und stapfen fortan durch Alternative-Rock, Kraut-Electronics, Spoken Word-Downbeat, Avantgarde-Pop, Psychedelisches mit Reggae-Elementen, schließlich in einer Remix-CD durch Leftfield und Big Beat, bis sie die Hamburger Hip Hop-Szene aus den gehobenen Stadtteilen Eimsbüttel und Eppendorf ab Mitte der 1990er befeuern und sich der Förderung des frühen Jan Delay hingeben.

Aus den letzten beiden Studioalben der Kastrierten Philosophen schält sich erstmals deutsche und deutschsprachige Dub- und Trip Hop-Musik aus dem Untergrund in den Vordergrund. Auf diese lange Reise durch insgesamt acht Studio-, zwei Live-Alben, einen Hip Hop-Sampler und besagte Remix-Scheibe, kann die Anthology nur Spotlights werfen und setzt zur Abrundung zwei neue Tracks aus dem Lockdown-Jahr 2021 obenauf.

"Jahre (2021)" überrascht mit einem asiatisch anmutenden Twang in der Melodie und setzt ansonsten den Trip Hop des letzten Werks nahtlos fort. Textlich macht das Lied dem Bandnamen alle Ehre und reflektiert philosophisch über das Scheitern, Endlichkeit, räumliche und zeitliche Orientierungslosigkeit und Illusionen von Liebe. "Time (2021)" beschäftigt sich auf Englisch und zu einem kantigen Metronom-Beat mit dem Wahrnehmen des Moments. Dieser Ska-Electropop könnte, genau so wie er ist, ebenfalls den mittleren 90ern entstammen. In seiner gleichmütigen kaputten Romantik erinnert er an die englischen Chumbawamba.

Die alten Album-Tracks überschatten die neuen Stücke dennoch, aufgrund ihrer Größe, Anmut, Progressivität und ätzenden Präzision. "Ende des Abenteuers oder Anfang ernsthafter Arbeit / oder keins von beiden / Kunst ist, frei von solchen Gedanken zu sein / wo Schuld endet, beginnt betroffenes Wohlverhalten / political correctness, das ist es, wo du jetzt bist", analysiert "P.C. (1996)" messerscharf.

Ebenfalls aus "Where Did Our Love Go" stammt "Djamilia (1996)". Ein Vibraphon trägt und untermauert die Dub-Ästhetik des warmen und ruhigen englischsprachigen Songs über "visions of love and freedom". Dass ringsherum damals Portishead und Tricky angesagt waren, braucht man beim Hören nicht lange raten. Die weiche, aber bassbewusste Musik badet in treibendem Ewigkeits-Feeling und grenzenloser Schwermut. Das Vibraphon steuert Bernd von Ostrowski bei, namhafter Kontrabassist der Hansestadt. Als Teil der Art-Pop-Sektion 'Non-Stop People', einer Band innerhalb der Band, setzt er damals bei den Kastrierten neue Sound-Akzente.

Perkussiver, zugleich verwaschener zeigen sich die Philosophen auf "Bou Jeloud (Father Of Skins) (1994)", wo man im Drum-Gewitter kaum den Text vernehmen kann. Der pumpende Tune steigert sich gesanglich in eine Alternative zum damals angesagten und alles beherrschenden Techno, weil er - zwar mit echten gespielten Instrumenten - technoide Rave-Tauglichkeit umsetzt, aber Achinger andererseits aus murmelndem Spoken Word in theatrale Exklamation überwechselt, als spiele sie gerade in einem Shakespeare-Stück.

Die LP "Eskimo Summer" trägt statt Arktis das ätherische Wüstenrock-Fragment "Liquid Sky (1991)" bei. Zwei Alben fehlen in der Retrospektive, dafür war Arfmann und Achinger der düstere und bizarre Trip Hop-Vorläufer "Toilet Queen (1988)" aus "Nerves" wichtig. Das Lied ist eins ihrer wichtigsten. Es kreuzt in einer Weise, für die es damals wenige Beispiele gab, knorrigen, spröden Folkrock mit einem schleifenden Beat voll stolpernder Extra-Schläge und mit einer smarten, triphoppigen Ästhetik. Unter einer "Toilet Queen" verstand man seinerzeit, wenn ein homosexueller Mann in einer öffentlichen Toilette andere wahllos für anonyme One Night-Stands ansprach. Das damals auf dem Höhepunkt der AIDS-Krise gewählte Thema unterstreicht, wie mutig die Band zum Ausdruck brachte, was sie sich so vorstellte: Radikal ohne Selbstzensur, lyrisch wie musikalisch.

"Ich bleibe weiter ignorant, wenn sie abstürzt", heißt es sinngemäß in dem englischsprachigen Text, der die rauen Seiten eines abgeschotteten Teils des Nachtlebens zwischen Alkohol- und Urin-Dunst beleuchtet und dazu ein dräuendes Arrangement auskostet. Arfmann dominiert den ungewöhnlichen und berückenden Song mit einem Cello. Lauscht man heute im Rückblick, mag einem bei den Klangfarben und Stimmungen der Kastrierten Philosophen immer wieder mal Joan As Police Woman einfallen. Jüngere Musikfans, die ihre Platten mögen, könnten bei den Achtziger-Aufnahmen hier schnell anbeißen.

Die experimentierfreudige Gruppe schnitt 1988 etliches Material bei Shows in Amsterdam, Köln, Hamburg und Zürich mit, darunter das Stones-Cover "Play With Fire (1988)". Angesichts einer schrill hohen und schwerfällig vorwärts geschobenen Piano-Darbietung erkennt man den Sixties-Klassiker kaum wieder. Die Kastrierten setzen da ganz auf 'Kunst'. Ihre Herangehensweise: Mehrere Bedeutungs-Ebenen, Dekonstruktion und Hinterfragung - so signalisiert es der Tune stellvertretend für das ganze Live-Material von damals.

Seinerzeit gab es offenkundig schon 'Neo-Klassik', hierzu treten "Callando Los Siglos (1986)" und "Love Factory (1985)" als eindrucksvolle Belege an. In ihrer Frühphase der "Jahre // 1981-2021 (+1)" übt sich die (gerade noch mit einem Bein) im Punk sozialisierte Band in ihrer Rolle als deutsche Wire, mit diversen Zutaten: Elektronik-Noise-Spielerein, zeitgemäßen Grunge-Riffs, fordernden Songstrukturen, welche die Geduld der Hörerschaft strapazieren und schon wegen des Stil-Clashs als Avantgarde gelten müssen. Die dunklen Lieder kennen keine Gnade und lassen jede Chance aus, ein bisschen Eingängigkeit oder Gefälligkeit zu wagen.

Wenn schließlich gar keine Melodie wahrnehmbar ist und sich Katrin Achinger in einem denkbar engen und tiefen Tonspektrum abgebrüht und lebenserfahren, aber nicht nach Mitte 20 anhört, dann schleudert es die Philosophen mitten durch ihr liebstes Element: Komplexität! "Skin + Pain (1986)" wirkt wie in einer Jam-Session entstanden, in der sich die junge Gruppe unablässig treiben ließ. Alles um sich herum mögen sie vergessen haben, außer die grotesken Überzeichnungen der industriellen Moderne, wie der hier mehrmals zitierte Film(tragi)komiker Buster Keaton sie sah.

Die Philosophen wollten sich nicht nur selbst ausdrücken, sondern aufrütteln. "Wenn Kunst mehr bedeuten soll / als Einsamkeit zwischen der Welt und mir / brauch ich mehr als das", heißt es in "P.C. (1996)", dem Lied über das Hotelzimmer, und weiter: "Ich bleibe nicht hier in dieser Absteige, um selbstgefällig zu sterben. / Bist du nicht weiter als hierher gekommen? / Töte die Armen mit Solidarität / ich geh dann jetzt!" - Die Gruppe ging mit dem Song tatsächlich. Hoffentlich kommt sie mit dieser eindrucksvollen Zusammenfassung ihres Gesamtwerks zurück und bleibt.

Trackliste

  1. 1. Time (2021)
  2. 2. Liquid Sky (1991)
  3. 3. Lady P. (1987)
  4. 4. Bou Jeloud (Father Of Skins) (1994)
  5. 5. I Like The Way You Walk (Lurid) (1988)
  6. 6. Djamilia (1996)
  7. 7. P.C. (1996)
  8. 8. Never Be Kind (1987)
  9. 9. Toilet Queen (1988)
  10. 10. Do I Know You (1981)
  11. 11. Callando Los Siglos (1986)
  12. 12. I'm Too Busy To Stay (1986)
  13. 13. Love Factory (1985)
  14. 14. Skin + Pain (1986)
  15. 15. Play With Fire (1988)
  16. 16. The Process (Commercial) (1994)
  17. 17. Jahre (2021)

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