laut.de-Kritik
Improvisierte Piano-Juwelen zum 70. Geburtstag.
Review von Ulf KubankePunktgenau zum 70. Geburtstag veröffentlicht Keith Jarrett zwei bemerkenswerte Alben. Mit einer Konzertaufnahme von Samuel Barbers Klavierkonzert Opus 38 und Béla Bartóks 3. Klavierkonzert aus den 80ern beleuchtet er die Fähigkeit zur höchst individuellen Interpretation klassischer Vorlagen. Das brandneue Parallelalbum "Creation" stellt jedoch das eigentliche Geschenk dar. Es bietet neun improvisierte Piano-Juwelen, allesamt erst vor wenigen Monaten während seiner letzten Solo-Tournee aufgezeichnet.
Jarrett hätte den Albumtitel nicht passender wählen können. Nicht nur die Musik ist taufrisch. Auch der kozeptionelle Ansatz erfindet sich komplett neu. Seine legendären Aufnahmen wie "The Köln Concert" (1975) oder "Solo Concerts: Bremen/Lausanne" (1973) dokumentieren ausnahmslos komplette Konzerte. Diese Gesamtpakete beleuchten jeden einzelnen Moment des Suchens und Findens seiner brillanten Solopiano-Improvisationen. Diesmal jedoch ist alles anders.
Der Meister aus Pennsylvania scheint der exponierten Herleitung großer Momente überdrüssig. Warum immer den kompletten Weg des jeweiligen Abends zeigen, wenn eine Tournee doch zahllose Momente musikalischer Höhepunkte als Ziel bereithält? Und warum sollte der Akt des Erschaffens sich in diesen starren Mustern erschöpfen? Beide bohrenden Fragen beantwortet Jarrett sich selbst, indem er die von ihm favorisierten Sequenzen aus dem angestammten Rahmen bricht und sie dramaturgisch dergestalt hintereinander setzt, dass daraus ein eigenständiges anderes Werk erwächst.
So schnappt sich der Gefährte von Miles Davis alle Mitschnitte der Tournee aus Toronto, Tokio, Paris und Rom, hört die kompletten Gigs analytisch und selektiert aus diesem Berg von Tonbändern die besten Passagen. Die schneidet er passend aneinander. So knüpft er eine bunte Kette instrumentaler Sätze, deren Glieder sowohl einzeln für sich stehen, als auch zusammengenommen eine Suite ergeben.
Passend zu dieser schöpferischen Rolle setzt sich Jarrett, für ECM-Verhältnisse höchst ungewöhnlich, auch gleich auf den Produzentensessel von Manfred Eicher und verweist dem Labelboss und Freund auf den Platz des "Executive Producers". Die Arbeit gelingt dem Pianoman dermaßen gut: Beim Hören der Platte entsteht automatisch die Illusion eines kompletten Konzertabends. Alles passt zusammen, als seien die Klänge am Stück und in einem Flow entstanden.
Die Musik selbst unterscheidet sich in ihrem emotionalen Ausdruck recht deutlich von den bisherigen Alben. Die gelegentliche Uptempo-Ekstase des "Köln Concerts" fehlt ebenso wie die melodische Direktheit von etwa "La Scala" (1995) oder der teils extrovertierte Ansatz von "Rio" (2011). "Creation" klingt wesentlich nachdenklicher, grüblerischer und im Grundton melancholischer als die genannten Aufnahmen.
Dennoch ist die Platte weder Downer noch Langweiler. Im Gegenteil: Jarrett bleibt seiner Philosophie treu, das Publikum gern in sich selbst und der Musik zu versenken, dabei indes niemals runterzuziehen. Weite Strecken der neun Tracks gestaltet er überwiegend akkordisch und verleiht den zwischendurch hereinschneienden Themen und Melodien eine kontrastierend intensive Effektivität.
Geduld zahlt sich dennoch aus, auch wenn "Creation" von der ersten bis zur letzten Sekunde Spaß macht. So richtig gebannt ist man erst nach mehreren intensiven Durchläufen. Je mehr man hört, desto mehr wandelt sich in der Wahrnehmung das Unscheinbare zum Glanz und die kurze Kapriole zur Essenz.
Ein großer Reiz der Platte besteht darüber hinaus darin, es Jarrett gleich zu tun, die vorgegebene Reihenfolge zu kippen und sich durch Neuordnung nach persönlichem Gusto eine ganz eigene Suite zusammen zu stellen. Besonders die Aufnahmen aus Japan versprühen aneinandergereiht eine einzigartig lyrische Atmosphäre.
Als besonderen Anspieltipp möchte ich jedem "Pt. V", aufgenommen 2014 in der Kioi Hall in Tokio, ans Ohr legen. Das schöne Stück ist eine Offenbarung für alle Freunde von Jarretts sensibler Tastenpoesie. Gute sieben Minuten lang baut er der Romantik ein sanftes Königreich. Auch auf das lieb gewonnene charakteristische Stöhnen Jarrets zwischen Lust und Qual muss man nicht verzichten. "Ich gebe freimütig zu, ein Romantiker zu sein", sagt Jarrett. Auch mit 70 Jahren hat der Altmeister nichts von diesem gefühlvollen Charisma eingebüßt.
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