laut.de-Kritik

Das Kronjuwel des diesjährigen ESC.

Review von

Artists, die erstmals auf der Bühne des ESC vor eine breitere Öffentlichkeit traten, hatten in den meisten Fällen große Probleme damit, das Label dieses Wettbewerbs wieder loszuwerden. Es gibt Ausnahmen, allen voran Maneskin, aber oft reduziert sich der Erfolg auf diese Bubble. Auch wenn sich dieser Wettbewerb durchaus mit seinem Mut zur Weirdness und dem Außergewöhnlichen schmückt, ist der Erfolg dann doch der Musik vorenthalten, die das gefestigte Mainstream-Fundament nicht allzu weit verlässt.

Das hat zur Folge, dass oftmals gerade die spannendsten Songs schnell wieder aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden, weil sie in der Endwertung irgendwo im Niemandsland der Tabelle versanden. Ähnliches droht nun auch dem diesjährigen griechischen Beitrag, der sich zwar auf die Fahne schreiben darf, als erstes experimentellen Neoperro auf diese Bühne gebracht zu haben, aber damit letzten Endes nicht mal die Top 10 knackte. Es gibt Musik, die im Kontext des Eurovision gut klingt, und es gibt Musik, die ohne dieses Präfix fast noch besser funktioniert. "ZARI" gehört eindeutig zu letzterem.

Hört man den Song das erste Mal, fällt einem der Rosalia-Vergleich förmlich in den Schoß. Ja, Marina Satti bedient sich hier ziemlich offensichtlich an dem Sound, den die Spanierin in den letzten Jahren auf die Weltbühne holte. Jedoch verschwimmen die Parallelen ein wenig, sobald man in ein volles Projekt der Griechin abtaucht. Denn "ZARI" kratzt eigentlich nur an der Oberfläche der musikalischen Identität dieser Frau, die sie auf dieser EP abbildet.

Das wird schon in dem Moment offensichtlich, in dem man versucht herauszufinden, welches Genre "P.O.P" denn nun eigentlich genau bedient. Wie auch schon Charli XCXs "Pop 2" trifft der titelgebende Deckelbegriff zwar durchaus zu, aber gerade auf die musikalische Historie ihrer Heimat bezogen fühlt sich Sattis EP wie ein Update oder ein Glitch an, der Dinge miteinander vermischt, die eigentlich gar nicht zusammengehören.

Konkreter: Die Website Rate Your Music etwa listet neben Neoperro, Hip Hop und Art Pop lokale griechische Musikstile wie Aegaen Island Folk Music, Modern Laika oder Mahraganat. Selbst ohne versiert in diesen Genres zu sein, klingt eine Kombination davon auf dem Papier schwer vorstellbar. Und gerade in Griechenland begegnet dieser Idee nicht jede:r mit Begeisterung. Aber Satti gelingt diese Fusion, die in ihrer Verspieltheit und dem radikalen Commitment weniger an Rosalia und tatsächlich mehr an die wilderen Enden von M.I.As Diskographie erinnert, auf eine Art, die einem immer wieder den Mund offen stehen lässt.

Schon der Opener "TUCUTUM" klingt im bestmöglichen Sinne wie ein Autounfall. Da kollidieren blecherne Drums mit einer stockbesoffenen Synth-Line, die förmlich um den Beat herumdriftet, während Satti dieses repetitive "Tucutum" in teilnahmsloser Stimmlage ad absurdum wiederholt. Auf magische Art und Weiße klingt das eben nicht so anstrengend, wie es sich liest, sondern wie der härteste Banger, den man in diesem Jahr gehört hat. Besonders weil Satti nie müde wird, neue musikalische Haken zu schlagen. In der Mitte nimmt sie kurz das Tempo komplett raus, um eine Folk-Ballade anzustimmen. Am Ende fällt der Song mit dem Einsatz von Dudelsäcken völlig in sich zusammen und mutiert zu einem rituellen Chanson, das klingt, als wäre auf der Ägäis gerade der Antichrist geboren worden.

Nicht jeder Song auf "P.O.P." treibt seine musikalischen Ideen so zum Äußeren, doch auch die konventionelleren Songs trumpfen mit einer ganzen Reihe an spaßigen Kniffen auf, die Satti helfen, inmitten ihrer Vorbilder eine ganz eigene Kerbe zu schlagen. Der Einsatz einer Talkbox auf "STIN IYIA MAS" klingt, als hätte ein Alien das Mikro bei der Hochzeitskaraoke an sich gerissen. Auf "LALALALA" wechseln sich klassische Balkan-Streicher und -Bläser mit unwiderstehlichen 'Oppa'-Aldibs und einem knarrenden Bettgestell ab. Das Ergebnis ist ein auf den ersten Blick relativ handzahmer Pop-Song, den man in dieser Ausführung jedoch so gut wie noch nie gehört hat.

Dieses Album platzt vor Ideenreichtum und lässt sein Bombardement dennoch nie ins Nervtötende oder Gimmickhafte kippen. Das Paradebeispiel dafür, und vielleicht das größte Meisterstück des Projekts, findet sich auf dem passend betitelten "MIXTAPE". Eine zehnminütige Collage an Versatzstücken und Sounds, die sich mit beißender Zynik an der negativen Kritik im Vorfeld ihrer ESC-Teilnahme abarbeitet.

Der Song ändert im Minutentakt das Schlagtempo und hört nie damit auf, weiter am Rad zu drehen. Die 37-Jährige arbeitet nicht auf die Wechsel hin oder leitet sie subtil ein, sie haut sie einem wie ein Kantholz über die Rübe. Zusammen mit einer Riege an Gast-Rappern stürzt sie wie im Rausch von Reggaeton in Trap, in Neoperro und dekonstruiert nebenbei die traditionellen Sounds Griechenlands, bis stellenweise nur noch das Skelett davon Sirtaki tanzt. Das kommt einem musikalischen Shitpost erstaunlich nahe, an einer Stelle kracht sogar das "Hallelujah"-Meme ins Klangbild, aber Satti meistert die Gratwanderung, dieses Experiment nicht zur Effekthascherei verkommen zu lassen. Denn diese zehn Minuten gehören nicht nur zu den wildesten und kurzweiligsten des Jahres, sondern auch zu den spaßigsten und musikalisch interessantesten.

Der Closer "Ah THALASSA" zieht einem nach zwanzig Minuten Balls-To-The-Walls-Wahnsinn dann komplett den Boden unter den Füßen weg und boxt mit der emotionalen Wucht einer Abrissbirne in den Magen. Die Ballade über ihren verstorbenen Vater klingt traumhaft schön und füttert unentwegt den Kloß im eigenen Hals. Allein die schiere Wucht ihrer Stimme reicht mühelos aus, um die emotionale Last dieses Songs greifbar werden zu lassen und ihn auf unsere Tränendrüsen abzuwälzen.

Sattis Bruch mit dem Traditionsbewusstsein ihres Heimatlandes spiegelt sich nicht nur in der schieren Menge an in- und ausländischen Einflüssen wieder, die hier kollidieren. Ihre Klangbilder decken auch die gesamte Bandbreite der politischen und gesellschaftlichen Realität des Mittelmeer-Staates ab. Von den sonnigen Küsten auf "LALALALA" über das desolate "TUCUTUM" bis hin zum beißenden Zynismus, der sich durch "MIXTAPE" zieht, und dem tieftraurigen Ende auf "Ah THALASSA".

Die Griechin ist nicht bemüht, Touristenführerin für die größten Attraktionen des Landes zu spielen, ihre ESC-Perfomance endete nicht mit einem Bild von sonnigen Stränden, sondern einer mausgrauen Nachbarschaft. Satti zeigt uns nicht nur die Postkartenmotive, sondern auch die verdreckten Hinterhöfe und lädt einen anschließend dazu ein, den Frust mit ein paar Ouzos runterspülen, um diese auf der Tanzfläche wieder rauszuschwitzen. Ein Triumph durch und durch, egal was Eurovision sagt.

Trackliste

  1. 1. TUCUTUM
  2. 2. ZARI
  3. 3. STIN IYIA MAS
  4. 4. LALALALA
  5. 5. EIMAI KALA!!!!!!!!
  6. 6. MIXTAPE (feat. Lefteris Pantazis, VLOSPA, Oge, RACK, Efi Thodi, Nick Kodonas)
  7. 7. Ah THALASSA

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4 Kommentare mit 9 Antworten

  • Vor 6 Monaten

    Dieses antimetische Stück D…. hier so gut zu bewerten sagt viel über Laut.de und deren Leser aus.

    • Vor 6 Monaten

      Egal was "antimetisch" bedeuten soll, offensichtlich ist jedenfalls, daß hier jemandem wohl in der Birne einiges verrutscht ist, anders ist dieser unqualifizierte Kommentar nicht zu erklären. Lesen Sie ihn bitte nochmal genau, dann fällt Ihnen vielleicht auf, daß Sie sich gerade selber mit in den Dreck gezogen haben...

    • Vor 6 Monaten

      Leute, die sich an schlichten Tippfehlern aufgeilen und es gleichzeitig fast 30 Jahre nach der Rechtschreibreform noch nicht geschissen bekommen, "dass" ohne scharfes S zu schreiben, sind immer ganz besonderes Comedy-Gold. Er meint "antisemitisch", was du Protolappen auch ganz genau weißt, und hat damit auch vollkommen recht.

    • Vor 6 Monaten

      Womit er natürlich nicht recht hat: Die Bewertung sagt nicht viel über die Leser aus. Bis auf einige verwirrte Querschläger dürfte hier Konsens darin bestehen, dass es sich bei diesem Album um Kernschrott allererster Güte handelt.

    • Vor 6 Monaten

      Über die Definition von "Tippfehler" wäre in diesem Fall zu diskutieren, der läge jedenfalls vor, wenn z.B. antiemetisch gemeint wäre. Dann allerdings wäre der Kommentar endgültig absurd. Aber schön, daß (tja, manches ändert sich nie...) man hier gleich mal wieder jemandem ein wunderbar wokes Etikett aufdrücken kann, da freut sich der politisch korrekte Kleingeist.

    • Vor 6 Monaten

      Ist nicht nur meine Meinung, und Meinungen sind frei. Natürlich nicht in eurer links/woken Bubble.

    • Vor 6 Monaten

      Verpiss Dich bitte schnellstens!

      Meine Meinung. Die sind ja frei.

    • Vor 6 Monaten

      Absolut richtig: die Meinung ist frei, egal ob von einem oder vielen. Und deshalb kann ich diesen alle Andersempfindenden und den laut-Kritiker diskreditierenden Kommentar auch nicht nachvollziehen.

    • Vor 6 Monaten

      Ich bin mal wieder zu blöd und kapier's nicht: was ist ein "wokes Etikett", und wer hat jetzt wem genau durch welche konkrete Aktion dieses Etikett aufgedrückt? Und welche Farbe hat der Kleingeist (ich tippe auf ein ins Versiffte gehendes Grün, weiß aber auch das nicht, vielleicht ja auch Braun)?

  • Vor 6 Monaten

    Das Kronjuwel des diesjährigen ESC ist Bambie Thug. Marina Satti hat nicht mal 'ne Krone.

    Für mich ist das hier eher eine 2/5. "Stin Iyia Mas" und "Ah Thalassa" sind die Highlights, auf den anderen Songs wird so sehr mit den Instrumentals und dem Soundbild experimentiert, dass ich davon Kopfschmerzen kriege.

  • Vor 6 Monaten

    Jo, das war sehr großer Mist... warum wird so ein Müll so gehyped?

  • Vor 6 Monaten

    "Experimentellen Neoperro" :lol:, das ist Dorfdisko-Reggaeton-Bumsbeat-Soße schlimmster Sorte.

    • Vor 6 Monaten

      Neoperreo war ja die Antwort auf die männlich dominierten Reggaeton und klang auch schon immer experimentell, dazu hat es keinen ESC gebraucht. Ivy Queen und Tomasa Del Real haben das auch ohne europäische Hilfe geschafft.