laut.de-Kritik

Vielleicht tatsächlich ein neues Kapitel der Popmusik.

Review von

Ein wenig größenwahnsinnig ist es ja schon, aus heiterem Himmel die zweite Phase der Popmusik auszurufen. Auf einem Mixtape. Dem zweiten im selben Jahr. Überwindet man diese anfängliche Irritation aber erst einmal, erkennt man nicht nur den überbordenden, haltlosen Ton der Platte, der dieses Statement ein wenig in Relation setzt. Charli XCX liefert außerdem handfeste Argumente für eine solche Aussage: Nach zwei vielversprechenden, aber etwas zu handzahmen, industriefreundlichen Alben destilliert sie auf ihrem zweiten Mixtape in 2017 ihren musikalischen Selbstanspruch.

Der liegt vor allem in einem: Kollaboration. "Pop 2" lädt sich eine ganze Generation aufstrebender Popmusiker aus allen Ecken der Welt ein und gibt ihnen Raum, ihre Ästhetik und ihre Sounds nicht nur auszubreiten, sondern in die selbe Ekstase zu steigern, die über dem gesamten Mixtape schwelt. Vom Opener "Backseat" mit Synthpop-Musterschülerin Carly Rae Jepsen über den queeren Trap-Headbanger "I Got It" mit Brooke Candy, Cupcakke und der brasilianischen Drag-Queen Pabllo Vittar bis hin zum Cyber-Nahtod auf "Track 10" fühlt sich das Ganze an wie eine einzige Party.

Allerdings keine "Hebt Eure Hände in die Luft, wir sind alle gut drauf und genießen das Leben, yeah!"-Party. Eher eine "Um fünf Uhr Morgens am Rande der Überdosis in einer Lache im Damenklo liegen und über schlechte Verbindung existenzialistische Diskussionen mit dem Expartner führen, während der Subbass aus dem Nebenzimmer langsam das Brustbein durchbricht"-Party. Man kann sich das ein wenig so vorstellen, als sei die Hitsingle "I Love It" statt von Icona Pop von Arca produziert worden.

Der Fixpunkt bleibt das Melodrama und ein irgendwo in der Postironie verloren gegangenes "YOLO!". Die Umsetzung gerät aber so viel ambitionierter und inspirierter, dass es fast wundert, dass die Eingängigkeit nur selten leidet. Die Songstrukturen beeindrucken da mit am meisten. Auch wenn der Sound auf den ersten Blick unter den maximalistischen Synthesizern und dem omnipräsenten Autotune-Einsatz einigermaßen homogen erscheint, entpuppen sich bei genauerem Hinhören ganze Collagen. Kein Part, keine Hook gleicht einer anderen.

Mit jedem einschreitenden Gast passt die instrumentale Begleitung sich, mal subtil, mal offensichtlich, dem neuen Einfluss an. Oft transformieren die Songs sich zum letzten Drittel noch einmal komplett. "Delicious" mit dem estnischen Vorzeige-Weirdo Tommy Cash zum Beispiel schlägt vom typischen Pop-Rap-Feature in einen Synthpop-Banger um, bevor auf den letzten Sekunden plötzlich Chorsamples die Soundkulisse entern.

Das Sampling über "Pop 2" bleibt ohnehin potent. Ganz in der Manier des PC Music-Camp (A. G. Cook produzierte das ganze Projekt mit) gehen Zuckerwatte-Synthesizer, schrille Melodie-Chops und 808-Erdbeben Hand in Hand. Im seltsamen Ökosystem der Sounds können auch mal ganz arglos ein Pianosample wie auf "Unlock It" oder besagter Chor auf "Delicious" auftauchen, ohne eine intrinsische Sinnhaftigkeit auch nur ins Wanken zu bringen.

Der größte Exot in diesem überbordenden Gewirr der musikalischen Ideen ist allerdings der Einsatz von Charli XCX' eigener Stimme. Quasi auf keinem Track ohne exzessiven Autotune-Einsatz zu hören, spielt sie ihre sowieso schon exzentrische Persona weniger wie eine Cher oder eine Britney Spears, sondern eher wie ein "808's & Heartbreak"-Kanye aus. Das steigert sich regelmäßig zum absoluten Extrem, wenn die Vocals auf "Lucky" mit exzessivem Pitching am Ende eine Form annehmen, als spiele Björk gerade Panflöte auf Charlis Stimmbändern.

Die Intensität des Moments kristallisiert sich in diesem Zusammenhang als das dominante Motiv eines Mixtapes heraus, das über die Laufzeit kaum zur Ruhe kommt. "Lucky" illustriert den Ausbruch von Glücksgefühlen mit den musikalischen Mitteln, mit denen man auch einen authentischen Nervenzusammenbruch hätte darstellen können.

"Femmebot" oder "I Got It" werden zu energetischen, explosiven Performances von Stolz und Identität. Aufnahmen vom Verliebtsein ("Porsche") oder Partyleben ("Tears", "Backseat") schlagen in Sekunden in völlig selbstzerstörerischen Lebenshunger um. Die formlosen, fast surrealen Klangwelten auf dem Closer "Track 10" fassen die Desorientiertheit, den Eskapismus und die bedingungslose Ekstase von "Pop 2" besser zusammen, als jede Beschreibung es leisten könnte.

Natürlich bewegt sich all das einer sehr spezifischen Sparte entgegen und dürfte auch nicht viel mehr Crossover-Potenzial bieten als das handelsübliche Indie-Electronic-Release, das irgendein Hornbrillen-Karohemd in Kreuzberg gerade über den grünen Klee lobt. Trotzdem scheint Charli XCX mit dieser neu gewonnenen kommerziellen Freiheit aufzublühen, wie sie es in ihrer Karriere noch nicht getan hat. "Pop 2" steckt bis zur letzten Faser voller Kreativität, Ideen. Im Mosaik einer Generation an Pop-Künstlern steht der individuelle Ausdruck vor der Konformität mit Genre-Schubladen.

Identität und Expressivität lassen sich in neuen, demokratisierten Strukturen der Industrie völlig neu erleben, die vielleicht tatsächlich so etwas wie ein neues Kapitel der Popmusik öffnen werden. Und auch, wenn es in einem stürmischen Musikjahr vermutlich irgendwo im nebulösen Hipster-Kredibilitäts-Feld versinken wird, sollte man die Symbolwirkung dieses Mixtapes auf gar keinen Fall unterschätzen.

Trackliste

  1. 1. Backseat (feat. Carly Rae Jepsen)
  2. 2. Out Of My Head (feat. Tove Lo & Alma)
  3. 3. Lucky
  4. 4. Tears (feat. Caroline Polachek)
  5. 5. I Got It (feat. Brooke Candy, CupcakKe & Pabllo Vittar)
  6. 6. Femmebot (feat. Dorian Electra & Mykki Blanco)
  7. 7. Delicious (feat. Tommy Cash)
  8. 8. Unlock It (feat. Kim Petras & Jay Park)
  9. 9. Porsche (feat. MØ)
  10. 10. Track 10

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8 Kommentare mit 4 Antworten

  • Vor 6 Jahren

    Zumindest einer ihrer besseren Veröffentlichungen mit meiner Meinung nach etwas zu vielen Stilbrüchen und Features, die auch nicht immer überzeugen (klingt etwa in "I Got It" mit gleich drei verschiedenen Gästen etwas too much). Wenn ihre Releases in der Zukunft noch etwas homogener daherkommen, kaufe ich mir eventuell von ihr eine Platte. So warte ich auf die nächste Carly Rae Jepsen, die nach dem hervorragenden "Emotion" (+ B-Sides) wieder einmal sehr gut werden könnte.

    • Vor 6 Jahren

      Ihr habt Carly 1 Punkt gegeben :(

      Finde aber, dass Charli mehr Smack hat und mutiger ist, was die Experimente betrifft. Sie ist ein Trailblazer und macht im Popbereich mit die interessanteste Musik. Geschlechterübergreifend.

    • Vor 6 Jahren

      Mutiger auf jeden Fall, aber manchmal schießt sie zu sehr über das Ziel hinaus. Was ich aber mag, ist, dass sie sich nicht all zu ernst dabei nimmt.

  • Vor 6 Jahren

    Nein danke. Ich kann da nix abgewinnen

  • Vor 6 Jahren

    Konnte mein Herz bislang noch nicht erquicken, doch werde mal reinhören in die neue. Sehr gute Rezension, handwerklich so ziemlich das Beste, was es auf laut in den letzten Jahren zu lesen gab. Kompliment!

  • Vor 6 Jahren

    Der Autotune-Overkill stört mich nicht! Die Kompositionen von Charli XCX und ihrem Creative Director A. G. Cook sind vielseitig und beschreiten auch die nicht ausgetrampelten Poppfade! Endlich einmal wieder ein spannendes und inspirierendes Pop-Album! Charli XCX gewinnt immer mehr an Größe. Auch die soeben erschienene neue Single lässt auf Großes hoffen!

  • Vor 6 Jahren

    Der Autotune-Overkill stört mich nicht! Die Kompositionen von Charli XCX und ihrem Creative Director A. G. Cook sind vielseitig und beschreiten auch die nicht ausgetrampelten Poppfade! Endlich einmal wieder ein spannendes und inspirierendes Pop-Album! Charli XCX gewinnt immer mehr an Größe. Auch die soeben erschienene neue Single lässt auf Großes hoffen!

  • Vor 5 Jahren

    Starkes Album. Besonders die Industrial vibes auf dem letzten Track sind sehr genial.
    Ich fand die Platte von Anfang bis Ende ziemlich stark. "Unlock It" ist definitiv eines der Dance Highlights. Die Verspieltheit des Albums ist ein zusätzlicher Pluspunkt.
    Ich hoffe das nächste Album wird auch mal rezensiert, ist ja schon 'ne Weile draußen.