laut.de-Kritik
Smarte, coole Club-Konzeptscheibe mit ausgeklügelten Klangkurven.
Review von Philipp KauseFür die berühmte unverwechselbare, sofort wieder erkennbare Handschrift hat Sudan Archives ihren ganz eigentümlichen Spin entwickelt. "The BPM", ihr drittes Album, gründelt kenntnisreich in Acid- und Warehouse-Style-Klangfarben, wie sie in den späten Siebzigern, frühen Achtzigern in Michigan und Illinois den Blueprint für europäischen Techno legten. Ihre Eltern stammen von dort. Sie nahm die Spurensuche auf, gemeinsam mit ihrer Schwester, einem Cousin, einer Freundin und anderen Personen ihres Umfelds. Dabei ist sie auf dem Album gar nicht sie selbst, sondern eine imaginierte Persona namens Gadget Girl.
Ein bisschen kann man dieses Gadget Girl selbst als Gadget der Platte überhören, als nette Spielerei, doch daran hängt sich schon noch mehr auf: Sudan Archives schleift ihre Stimme so sehr durchs Voice-Processing, dass wirklich eine robotische, fiktive Gestalt entsteht. Und das Ziel ist es, sie zu vernichten, sozusagen dass dieses Gadget Girl sich selbst abschafft. Es erscheint auf dem Cover an einer Spirale und Kabeln aufgehängt. Sudan Archives ist ja selbst bereits ein kreativer Künstlerinnenname, der zwar mit dem Archivieren, aber nur wenig mit dem Sudan und sicher nichts mit dem aktuellen Konflikt dort zu tun hat, aber im weitesten Sinne mit einer Afro-Verwurzelung der Musik, wie sie sich in den Rhythmen und im Rebellentum gegen kommerziell-imperialistische Strukturen zeigt - also hier nun auch im Kampf gegen künstliche Intelligenz. Klar, das ist ein Kampf wie zwischen "David And Goliath".
Die musikalische Umsetzung hypnotisiert - und setzt doch die Hüften, manchmal auch die Füße in Bewegung. Mit ihrem quirligen Gemisch aus Intelligent Dance Music und R'n'B durchforstet die 31-jährige Konzeptkünstlerin die Lagerschuppen Detroits auf verranztem Autofabrik-Gelände gefühlt genauso wie tropische Strandpalmen aus Settings wie Ibizas Café del Mar oder Hedkandi-Hochglanz-Partys. Aus dem arabischen, karibischen und lateinamerikanischen Raum fließen schier unmerklich, aber für die Stimmung wirkungsvoll mikroskopisch wahrnehmbare Partikel ein.
Kaum identifizierbar, verschwimmt manchmal auch Sudan Archives' Markenzeichen, die E-Violine, im Klangstrudel. In "Los Cinci" etwa, da dominiert die Verstärker-Geige. Trap und Dubstep, die beiden lässt Sudan Archives in ihrem punky konventionsbrechenden Auftreten subtil miteinander flirten. Manchmal rappt sie.
Sie ist die DJ-Figur, die sich selber auflegt. Dabei schichtet sie, koproduzierend, Layers übereinander, die innerhalb der Songs und zwischen den Songs durch einen geheimnisvoll schimmernden, glitzernden Kitt brillieren, einen elastischen Kitt zwischen losen Elementen, der insgesamt als Puzzle weit mehr ausstrahlt als seine Einzelteile, während viele einzelne Brüche, Umschwünge, verspulte Effekte und versponnene Takte für sich genommen gleichfalls wunderschöne Momente zaubern.
Tracks herauszugreifen - das hat bei einer solchen Kaskade an Highlights, die wie zu einem Mixtape verschmelzen, etwas Willkürliches angesichts von 15 Anspieltipps. Um einen besonders 'sophisticated' geratenen herzunehmen: Auf verdrehten Hochgeschwindigkeits-Loops surft Kraut-Industrial durch "A Computer Love" und prallt auf Future-R'n'B im Sopran, als würde Marusha dem frühen Kaytranada Beats zu Amon Düül II-Riffs mixen. Was mehr kann man wollen, wenn man Genres aufbrechende Musik mag?
Trotz dieses Innovationsgehalts stößt man fortlaufend auf R'n'B-Muster, die erst präsentiert und dann in ein konterkarierendes Umfeld gesetzt werden. In den Synkopen brechen die Beat-Patterns manchmal ab, und die Rhythmik offenbart sich als denkbar frei, fast in Freejazz-Manier. Denn das Ganze soll dokumentieren, betonen, gar bekräftigen, dass "wir alle unser eigenes Rhythmusgefühl haben" dürfen in der Welt dieser Selfmade-Elektronikerin. So lautet die Bedienungsanleitung im PR-Text.
Die Zukunft war vorgestern, im New Yorker Disco-Untergrund vor 40 bis 50 Jahren, besagt Sudans Future-Retro-Vision. Stimmt. Manche Diskurse kehren immer wieder, manche Themen, manche Gedanken, aber urknallartig geschah um 1977 besonders viel, was unsere Popkultur und Zivilisation bis heute prägt. Speziell bezogen auf die Beats per minute, "The BPM": Großstadt-DJs im amerikanischen Norden probierten sich damals bereits in der Verquirlung elektronisch-synthetischer Musikerzeugung mit Loopings, unter Einfluss von Soul. Besonders interessant umgesetzt zeigte sich das Modell dann um 1990 im New Jack Swing, mit beispielsweise Whitney Houston als unerwarteter Protagonistin, aber vormals schon lange in Electrofunk, Hi-NRG, Jersey Club und Hip-House (Marke J.J. Fad).
Wie es überhaupt zum Faible für diese Musik kam, hat einen ganz praktischen Hintergrund - Sudan erläutert: "Ich war in der Highschool nie das Mädchen in einer Band - ich konnte mich erst zum ersten Mal ausdrücken, als ich mein erstes iPad bekam und anfing, Beats darauf zu machen, und als ich meine erste elektrische Geige bekam." - In diesem Kontext fühlte sie sich, auch wenn die Highschool bei ihr lange her ist, selber als dieses "Gadget-Mädchen, aber ich habe mich als Mensch noch nie so frei gefühlt" wie jetzt auf dieser LP.
Die Frau, in der elektronischen Musik leider oft immer noch zu oft 'nur' Session- oder Feature-Stimme, tritt hier durch und durch als Urheberin in Erscheinung. Sie erfindet nicht immer, sie reproduziert auch viel, aber anders als etwa Lonelady oder Marie Davidson erschöpft sie sich nicht in der Beweisführung dessen, dass sie die Achtziger, die späten Siebziger, frühen Neunziger gehört habe, sondern setzt selbst höchstpersönlich sehr viele Akzente und gestattet sich dabei sportliche Switches zwischen MC'ing, Spoken Word, Sing-Rappen, Pop-Vocals. Und nicht bloß, weil die BBC das Stück "A Bug's Life" zutreffend zur "hottest record of the year" kürte, gilt: "The BPM" verdient mit seinem rauen und trippy-soghaften Charakter so sehr in die Geschichte einzugehen wie Air oder Massive Attack.


Noch keine Kommentare