laut.de-Kritik
Ein Breakbeat-Klangkosmos für die Ewigkeit.
Review von Elias RaatzEs gibt Alben, die die Zukunft vorhersehen. Und es gibt "Timeless". Das Debüt vom Paten des Drum'n'Bass, Goldie, ist nicht einfach nur eine herausragende Platte – es manifestiert den Moment, in dem sich ein ganzes Genre über seine bisherigen Grenzen hinauskatapultierte. Eine Symphonie aus rasenden Breakbeats, schimmernder Ambient-Eleganz und einer emotionalen Tiefe, die im damaligen UK-Rave so niemand erwartet hatte. Seit seiner Veröffentlichung am 7. August 1995 gilt das Album als ein Meilenstein der elektronischen Musikgeschichte, weit über die Grenzen von Jungle und Drum'n'Bass hinaus.
Produziert wurde "Timeless" von Rob Playford vom Label Moving Shadow, der Goldies bahnbrechende Visionen mit technischer Präzision zu einem virtuosen Soundgefüge verschweißte. Diane Charlemagnes und Lorna Harris' emotionale Stimmen tragen das Album. So entstand ein musikalisches Manifest, durchzogen von urbaner Melancholie, futuristischen Rhythmen und einer Formenvielfalt, die sich bis heute jeder eindeutigen Schublade entzieht, aber viele Schubladen maßgeblich beeinflusste.
Bereits der Opener und Titeltrack "Timeless" ist nicht nur ein Song, sondern ein Ereignis. Das 21-minütige Monument enthält den erfolgreichsten Hit des Albums "Inner City Life" und spielt mit der Musik als Gefühlsvermittler, als Träger tieferer Bedeutung. Der Song beginnt mit zart anmutenden Pads, hauchzarten Streichern, schwebenden Melodien – ein Sounddesign, das sich Zeit nimmt, zu wachsen. Wenn schließlich der Breakbeat einsetzt, pumpt er wie ein Herzschlag, der das ganze Werk trägt, ohne dessen fragile Schönheit zu zerstören. "Timeless" definiert direkt im ersten Track, wie emotional Drum'n'Bass klingen darf.
Mit "Saint Angel" wird der Ton rauer, metallischer, experimenteller. Mechanische Beats preschen nach vorn, während Synthflächen sich wie zersplittertes Buntglas zwischen die Drums legen. Ein Stück, das spüren lässt: Hier entwickelt sich ein neuer Stil in Echtzeit weiter. "State Of Mind" wirkt danach wie die Insel der Ruhe inmitten eines Breakbeat-Ozeans, warm, melodisch, fast freundschaftlich umarmend. Ein Track zum Durchatmen, bevor es wieder tiefer in den Großstadtdschungel geht.
"This Is A Bad" und "Sea Of Tears" klingen düster, gebrochen, voller schiefer Kanten. Beide Songs spielen mit Unruhe und Reibung – perfekt produziert und reich an Details, die man erst nach mehreren Hördurchgängen erkennt. Der folgende Track "Jah The Seventh Seal" wurde von Dillinja gemixt und schwebt irgendwo zwischen Delirium und Eskalation. Der Song beginnt wie im Fiebertraum, als habe er noch nicht entschieden, ob er schön oder unheilvoll enden wird. Ein Sound, der Lust macht, jede Facette davon gänzlich aufzunehmen, ihn aufzusaugen, zu analysieren, auseinanderzunehmen, ihn ganz und gar zu genießen. Und sobald die Drums explodieren, gibt es kein Zurück mehr: Bass, Breaks, Druck – purer Dillinja-Terror, aber in einer eleganten, fast spirituellen Hülle. Das packt und lässt fast nicht mehr los.
Mit "A Sense Of Rage" und "Still Life" sind die experimentellsten Momente des Albums erreicht. Rhythmische Fraktale, zerhackte Drums, futuristische Geräuschkulisse – Musik, die 1995 wie ein alienartiges Artefakt klang und heute noch visionär wirkt. Danach spürt man bei "Angel" genau diesen tatsächlich durch einen Song voller zerbrechlicher Schönheit schweben. "Adrift" bildet schließlich einen Kontrapunkt, ein Meisterwerk des Nicht-Erlösens: Alles scheint auf eine große Explosion hinzuarbeiten, auf den Moment, in dem der Beat endlich alles freisetzt ... aber vergeblich. Ein Track, der das Warten selbst poetisiert.
Brachial, verspielt und erbarmungslos gut geht es mit "Kemistry" weiter. Breakbeats werden hier nicht abgespielt, sondern geschleudert. Der Track ist eine Hommage an Kemistry, Teil des legendären Duos Kemistry & Storm, die gemeinsam mit Goldie das legendäre Label Metalheadz gründeten. Ihre Energie, ihr Einfluss, ihr Vermächtnis hallen in jedem Schlag nach. Anschließend klingt "You & Me" anfangs wie bittersüßes Träumen, das gegen Ende in ein waghalsiges Soundexperiment kippt. Schräg und schön – die perfekte Zusammenfassung dessen, was das Album ausmacht. Dieses endet danach mit zwei Edits des wohl ikonischsten UK-Breakbeat-Songs aller Zeiten: "Inner City Life" ist mit seiner überwältigenden Atmosphäre der Kern von "Timeless". Die Edits zeigen, wie variabel Goldies Vision ist und wie viel sich da herausholen lässt.
"Timeless" ist kein Album, das man einfach hört, sondern das man durchlebt. Es ist wie die Geburt eines neuen Genres, das Aufbrechen alter Strukturen, das Versprechen einer Zukunft, die damals noch in fast keinem Club gedacht, aber von Goldie bereits gefühlt wurde. Jeder Track atmet Geschichte, jeder Rhythmus zeigt Kreativität, jedes Detail verweist auf den immensen Einfluss, den dieser Mann (auch gemeinsam mit Kemistry & Storm) auf die elektronische Musik hatte. "Timeless" bleibt – im wahrsten Sinne des Wortes – zeitlos und überdauerte all die Jahre, weil es nicht im Trend existierte, sondern als Herz einer musikalischen Innovation. Ein revolutionäres Album, ein Breakbeat-Klangkosmos für die Ewigkeit.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.


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