laut.de-Kritik

Formvollendeter Dilettantismus.

Review von

Anfang der 1990er Jahre ist die erste Riege der deutschen Punkbands müde, hat sich aufgelöst oder experimentiert wenig erfolgreich mit neuen Sounds. Trotzdem erfreut sich das am häufigsten totgesagte Genre der Welt immer noch bester Gesundheit und es brechen immer wieder lumpige Blümchen durch den siffigen Asphalt. Inhaltlich meist politisch, gelegentlich versoffen-albern, seltener philosophisch geprägt, einigt sich die Rotte musikalisch hauptsächlich auf die berühmten drei Akkorde und spielt sie etwas filigraner als die ursprünglichen Protagonist*innen.

1994 platzt ein mit einem eher eigenwilligen Namen versehenes Projekt in die Versammlung und erfindet rein oberflächlich betrachtet das berühmte Rad kaum neu. Nach einigen Demos und einer EP erscheint 1997 mit "Ameisenstaat" der erste Albumstreich beim kultigen Label Vitaminepillen Records. Die aus einer Schülerband formierte Knochenfabrik um Sänger, Gitarrist und Haupttexter Claus Lüer hat sich auf ihrem Debüt zwar ganz offensichtlich dem Asselpunk verschrieben, wirkt auch entsprechend rumpelig und primitiv, aber irgendwas ist anders: Trotz eher bescheidener Produktion und dem selbst für die einschlägigen Verhältnisse recht speziellen Gesang besticht das Album nämlich bei näherer Lauschung mit überaus prägnanten Melodien und anspruchsvollen Songkompositionen. Zudem empfiehlt es sich, genauer auf die Texte zu achten.

Nach dem ersten von einigen herrlich hanebüchenen Einspielern aus dem psychedelischen 1974er Science-Fiction-Schinken "Phase IV" stellt sich folgende Frage: "Was Ist Bloß Passiert?". Mit mitreißendem Schwung, höchst lebendigen Bassläufen und geiler Blechkannen-Snare wähnt sich die geneigte Punkconnaisseur*in umgehend im bevorzugten Element. Claus keift mit der vollverzerrten Klampfe um die Wette und kündet vom Punksein an sich. Vermutlich. "Was ist bloß passiert, dass du auf allen Vieren kriechst? Und nicht nach Deoroller riechst? Dass du kein Inlineskater bist? Und den Frisörtermin vergisst?".

Das mittlerweile zur Punkerhymne aufgestiegene "Grüne Haare" schlägt inhaltlich in die gleiche Kerbe, erweitert den Komplex noch um die beliebten Themen Polizeigewalt und Hausbesetzung. Melancholische und zugleich wütende, kratzende Akkorde und die schon leicht kippende Stimme suggerieren Ernsthaftigkeit, während anhand der dargebotenen Texte erste Zweifel keimen. "Und du bist schuldig, weil die Mehrheit es so will. Denn du bist anders als der Rest, weil du dich nicht verarschen lässt. Die scheiß Gesellschaft mach dich krank, du bist ein Punk". Hat man in der Form schon häufiger gehört, allerdings wirkte es selten auf Anhieb so zynisch.

Spätestens mit dem räudigen "Meine Revolution" gehen die letzten lyrischen Gäule stiften und es wird allmählich deutlich, dass ein sehr eigener, smarter Humor in den Texten von Knochenfabrik schlummert. Zeilen wie: "Weil Bonzenfett und Bullenblut, sind die Blumen meiner Revolution. Freiheit ist das Endprodukt ihrer Assimilation" wirken derart dreist überzogen und übertrieben passend in eine gewisse Sparte, dass keine weiteren Fragen offenbleiben.

In den epischen 35 Minuten Spielzeit begegnen uns noch einige weitere musikalische sowie textliche Facetten der kreativen Schöpfer dieser Musik. Ganz offensichtlich verschmitzt humorvoll wird etwa "Der Neugierige Nachbar" beobachtet, der begleitet von unfassbar schiefen Chören zugestellte Paketpost analysiert und später dann unter Zuhilfenahme von Ska-Rhythmen wegen kleinbürgerlichen Denunziantentums in die Klapse wandert ("Notruf"). Das köstliche "Die The Mick Joggers" vom sozialschmarotzenden Möchtegernrockstar mit gelbem Schein darf trotz gut formulierter Texte auch gerne in die spaßige Punkecke gestellt werden. Musikalisch sind wir zwischenzeitlich bei ganz frühen Tocotronic, wobei da jetzt keine Absicht unterstellt werden soll. Ach ja, auch Hass ist ein ganz großes Thema, das Claus und Knochenfabrik meisterhaft behandeln. Hier seien die hartnäckigen Ohrwürmer "Ich Hör Dir Nicht Zu" oder "Bring Dich Um" als wunderbare ad hominem Ansagen genannt.

Kurze, prägnante Hardcore-Punk Ausflüge wie das hektische "Im Fadenkreuz" oder die vermutlich dem Metzgerberuf huldigende Nummer "Knochenfabrik" verdingen sich als kurzweilige Zwischenspiele und lassen kein Gefühl der Einseitigkeit zu. Die allerhöchstens halbernste Konsumkritik "Glücklich", die aus Sicht eines Wohnungslosen erzählt wird, trägt eine der klebrigeren Melodien mit sich und bedient sich einer schön deutlichen Sprache. "Spät am Nachmittag hast du ein bisschen Geld und gehst ins Kaufhaus, denn du möchtest gerne wissen wie es ist. Wenn man Schwachsinn kauft und tut als sei man glücklich, wenn man Kaviar und Räucheraal mit Plastikgabeln frisst! Weil du nur 17 Mark hast reicht es nur für wenig Müll. Du merkst man braucht mehr Scheiße, wenn man glücklich werden will."

Die Frohnatur "Nie Im Leben", die Geschichte von Manni und den Betriebsfunktionären ("Frühstückspause"), die mit "dem Manni sein Tod als Beleg" endet, oder das sehr interpretationsoffene "Zurück An Land" sprechen für sich und kommen im Gewand melodisch-rotziger Punksongs, die schlicht und ergreifend genau ins Albumkonzept passen. Dass wir es hier übrigens nicht zwingend mit ein paar ungebildeten Barbaren zu tun haben müssen, zeigen unter anderem Zeilen wie "Simone Beauvoir lesen, dazu ein Gläschen Chateau de Neuf. Das deutsche Reine trinkt ihr nicht, Ihr Homos wisst noch nicht mal, wie man säuft" aus dem sicher bewusst mit Scorpions-Riffs versehenen "Scheiß Zivildienst".

"Obdachlos & Trotzdem Sexy", vor allem aber die unkaputtbare Trinkerhymne "Filmriss" sind und bleiben zwei der größten Schöpfungen im Punkuniversum. Letzteres wurde Dank dem guten Danger Dan einem breiteren Publikum zugänglich gemacht, der schon mehrfach eine ergreifende Pianoversion zum besten gegeben hat.
In diesem Sinne schließt sich mit "Fickensaufenschalkeoi" der Vorhang und begräbt die letzten Zweifel bezüglich einer ernsten Message.

"Ameisenstaat" wird womöglich nicht beim ersten Durchlauf zünden und vielleicht nicht den Weg in jedes Herz finden. Wenn man sich allerdings die Zeit nimmt, sich mit dem Gesamtwerk von Hauptsongschreiber Claus zu beschäftigen, wird man mit allerhand wertvollen, lyrischen Ergüssen belohnt. Jeder der ihn mal persönlich getroffen hat, bringt eine andere Geschichte oder einen von ihm mit einem kunstvollen Pimmelcomic bemalten und signierten Tonträger mit. Am Ende sind sich alle darüber einig, dass er eine einzigartige Erscheinung ist, die unverkennbare Musik schafft.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Ameisenstaat
  2. 2. Was Ist Bloß Passiert?
  3. 3. Grüne Haare
  4. 4. Meine Revolution
  5. 5. Der Neugierige Nachbar
  6. 6. Glücklich
  7. 7. Im Fadenkreuz
  8. 8. Filmriss
  9. 9. Nie Im Leben
  10. 10. Die The Mick Joggers
  11. 11. Obdachlos & Trotzdem Sexy
  12. 12. Der Jüngeste Tag
  13. 13. Knochenfabrik
  14. 14. Frühstückspause
  15. 15. Dein Testament
  16. 16. Es Ist Schade
  17. 17. Notruf
  18. 18. Scheiß Zivildienst
  19. 19. Kleingeld
  20. 20. Zurück An Land
  21. 21. Bring Dich Um
  22. 22. Ich Hör Dir Nicht Zu
  23. 23. Fickensaufenschalkeoi!

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