Rockstar, Poet, Karrierrist, Sprachfetischist, Vater, Sohn und heiliger Nerd: Seine Autobiografie zeigt die vielen Gesichter des HRK.
Hannover (dani) - "Kunze ist verzwickt", bemerkte unlängst der Kollege, der sich mit Heinz Rudolf Kunze im Allgemeinen und mit seinem Jubiläums-Album "Werdegang" im Besonderen auseinander gesetzt hatte. "Der steckt voller Widersprüche." Ein Eindruck, den die zusammen mit besagtem Album erschienene, ebenfalls "Werdegang" betitelte Autobiografie (Reclam, 288 Seiten, gebunden, 28 Euro) voll untermauert: Sie porträtiert einen ebenso musikverrückten wie belesenen Mann, dessen Geschichte gerade deswegen fesselt, weil sie grandios daran scheitert, die verschiedenen Gesichter des HRK in Einklang zu bringen. Am Ende ist man sich noch immer nicht sicher, ob man es nun mit einem Rockstar zu tun hat, einem wortgewaltigen Poeten, einem Weltverbesserer, einem rücksichtslosen Karrierristen oder doch mit einem pedantischen Sprachfetischisten, der vielleicht doch lieber Lehrer oder - noch besser - Universitätsprofessor geworden wäre.
Reichlich Widersprüche
"Jedes Erzählen setzt Auswahl voraus", stellt Kunze seinem Bericht eine Selbstverständlichkeit voran, betont, er habe sein Augenmerk nicht auf Vollständigkeit oder "das ermüdende Abhaken möglichst vieler Namen, Orte und Daten aus fünfundsechzig Lebens- und vierzig Bühnenjahren" gelegt. Unter diesem Aspekt betrachtet, hakt er im folgenden allerdings ganz schön viele Namen, Orte und Daten ab.
Für den Misanthop, der er zu sein vorgibt, entpuppt sich der Autor und Hauptdarsteller von "Werdegang" zudem als erstaunlich gut vernetzt. Bei mehreren Dekaden im Musikgeschäft ergeben sich Bekanntschaften unter Kolleg*innen aber wahrscheinlich von selbst, und wenn man die Branche obendrein in unterschiedlichsten Funktionen (Musiker, Texter, Musikjournalist, Moderator, ...) bewirtschaftet, tummeln sich in den Kontakten vermutlich zwangsläufig die Hochkaräter.
"Werdegang" erzählt von Treffen mit Udo Lindenberg (der in Ottos Rüssl-Studio, in dem Kunzes erstes Album entstand, als stiller Zaungast auf dem Sofa herumlag), von einer Taxifahrt mit Nena, von einem Telefonat mit Hildegard Knef oder von einer fieberhaft durcharbeiteten Nacht mit Herman van Veen so plastisch, dass man sich fühlt, als wäre man, und von einem Kneipenauftritt der damals noch vollkommen unbekannten Formation Trio so enthusiastisch, dass man sich verzweifelt wünscht, man wäre dabeigewesen.
Kindliche Freude, Begeisterung und auch Stolz schimmern durch, wenn Kunze sich an Begegnungen mit seinen Idolen oder bewunderten Kollegen erinnert, zwischen den Zeilen steckt das Leuchten seiner Augen. Sobald es um Musik geht, erweist sich Kunze ohnehin als toller Erzähler. Zwischenmenschliche Entwicklungen bekommt er dagegen schwerer zu packen. Ein zunächst schwer erboster Marek Lieberberg mutiert in der Darstellung des Autors widerstandslos zum engagierten Geschäftspartner, der ob einer garstigen Review Kunzes höchst angefasste Peter Maffay ist Sekunden später der gute Buddy, der später mit der Whiskeyflasche unterm Arm im Hotelzimmer vorbeischaut ... schwer nachvollziehbar.
Die vermeintlich dicke Freundschaft mit Produzentenlegende Conny Plank lag schon nach kurzer Zeit in hässlichen Scherben - wie das kommen konnte, davon vermittelt "Werdegang" allerdings eine Ahnung: Immer wieder trennt sich Heinz Rudolf Kunze von Mitstreitern, wenn diese seiner Karriere nicht (mehr) förderlich erscheinen. Seine Roadie-Truppe, den Gitarristen, der lange Jahre sein Freund und Förderer war, seinen Produzenten: Sie alle tauscht er aus, sobald er sie für nicht (länger) professionell, Rockstar-tauglich, modern genug hält. Das mögen unter kommerziellen Gesichtspunkten richtige Entscheidungen gewesen sein. Dass sich Menschen davon verletzt und sich erst benutzt und dann achtlos weggeworfen fühlen: mehr als verständlich. Dass HRK extra betont, wie schwer es ihm falle, sich von Menschen zu trennen, dies dann aber wieder und wieder tut, lässt sich schlecht in Einklang bringen.
Derlei Widersprüchlichkeiten begegnen einem in "Werdegang" unentwegt, vielleicht liegen sie auch in der Familie. Kunzes Vater hat aus seiner SS-Vergangenheit offenbar nie einen Hehl gemacht, selbige aber stets als Fehler bezeichnet. Entschuldigungs- oder Rechtfertigungsversuche seines Sohns wehrte er ab: "Lass gut sein, Junge, da war kein Sinn. Es war falsch, und das ist die ganze Geschichte." Den Kontakt mit "alten Kameraden" hielt er dennoch. Ob und inwieweit Kunze Junior ihm wirklich abkaufte, dass dies nur auf Druck von außen hin geschah, erschließt sich aus dieser Erzählung überhaupt nicht.
Parteiaustritt - wegen der Rechtschreibreform
Dass Heinz Rudolf Kunze ein politisch interessierter, motivierter, engagierter Mensch geworden ist, steht außer Frage. Dass er Mitglied der SPD war, passt dazu. Seinen Austritt aus der Partei begründete er per Brief an den niedersächsischen Kultusminister: "Einer SPD, die sich zum Handlanger einer derartigen Verunglimpfung der deutschen Schriftsprache mache, könne ich nicht weiter angehören." Was für ein pedantischer Prinzipienreiter man aber sein muss, um sein Parteibuch dann wegen einer Lappalie wie der Entscheidung zur Rechtschreibreform empört wieder abzugeben: Ich kanns mir kaum vorstellen.
Niemand, der Heinz Rudolf Kunze zugehört oder seine Texte gelesen hat, kann ihn ernsthaft für einen Rechten halten. Trotzdem finden sich immer wieder Zeilen, Aussagen, Einlassungen (etwa sein Engagement für eine Quote für deutschsprachige Musik im Rundfunk, das er rückblickend durchaus kritisch betrachtet), die Nationalist*innen dazu verleiten, in Kunze einen der ihren zu vermuten. Gegen Vereinnahmungsversuche vom rechten Rand setzte er sich zwar stets entschieden zur Wehr, dass es sie aber immer wieder gab: zumindest bemerkenswert.
Zweierlei Maß
In leicht spöttischem Ton schreibt HRK über die Entscheidung seines Kollegen Wolfgang Niedecken, der eine Auftrittsmöglichkeit in der damals noch existenten DDR sausen ließ, weil er sich weigerte, einen beanstandeten Song aus dem Programm zu streichen: "BAP hatten dabei nicht die glücklichste Figur abgegeben." Dreimal umblättern später beschreibt er seine eigene Weigerung, sich von der Staatssicherheit in seine Texte reinreden zu lassen, so:
"'Liebe Freunde, ich habe eine Verabredung mit Hartmut König. Er hat mir zugesichert, dass es keine Eingriffe in mein Programm geben wird. Wenn ihn etwas stören würde, hätte er es mir ganz bestimmt persönlich mitgeteilt. Ich werde also nicht auf den Text verzichten.' Damit hatten die Männer nicht gerechnet. Ich sah ihre Verwunderung und wie sehr sie sich bemühten, eine gesichtswahrende Lösung zu finden. Nach langem Zögern lenkten sie schließlich ein." Ja, wer Beziehungen zu höheren Entscheidungszirkeln hat, macht mit der gleichen Konsequenz natürlich gleich eine viel glücklichere Figur.
Ein belesener Mann!
Mit Kritik an der Medienlandschaft spart Heinz Rudolf Kunze nicht, seine eigenen Ausflüge in den Musikjournalismus stellt er aber größtenteils als Sternstunden dar. Wenn er von Treffen mit Randy Newman, Tony Banks, Pete Townshend oder Neil Young erzählt, wirkt das einerseits zwar rührend, weil auch hier wieder die Fanboy-Augen leuchten. Auf der anderen Seite mutet die Litanei, wen er schon alles getroffen, gesprochen und mit irgendetwas beeindruckt hat, schon durchaus angeberisch an, genau wie die hochtrabenden Vergeiche mit Dylan, Springsteen und ähnlichen Kalibern, die unentwegt fallen.
Apropos angeberisch: Wenn er noch ein paar Bücher mehr aufgezählt, erwähnt oder zitiert hätte, die er gelesen hatte (oder zumindest kennt), ich hätte über der Lektüre den Verstand verloren. Ja, wir haben es kapiert: Heinz Rudolf Kunze ist ein belesener, gebildeter Mann! Dass er dennoch der leichten Unterhaltung zugetan ist, ganz gerne mal im Fernsehgarten auftritt, für Musical-Produktionen textet oder bei seichten TV-Serien wie "In aller Freundschaft" mitspielt: zwar auch wieder ein Widerspruch, aber zugleich doch ein ganz sympathischer Zug.
Ende im Schweinsgalopp
Wort- und bildgewaltig erzählt Kunze von seiner Reise in den Tschad. Als Abgesandter der Band für Afrika begleitete er seinerzeit die mit der Benefiz-Platte "Nackt Im Wind" eingespielten Spenden an Ort und Stelle. Für seine eigenen Befindlichkeiten fehlen ihm dagegen entweder die Worte, oder er möchte sie schlicht nicht vertiefen. Dass er unter Panikattacken leidet, erwähnt er erstmals auf Seite 232 in einem Nebensatz, zwanzig Seiten später greift er das Thema noch einmal etwas ausführlicher auf, aber nicht viel: Die Beschreibungen von Symptomen, Therapien und Ursachenvermutungen bleiben knapp.
Überhaupt bekommt man gegen Ende des Buches den Eindruck, Heinz Rudolf Kunze habe auf den letzten Metern in den Schweinsgalopp geschaltet: Neben seiner Angsterkrankung hechelt er auch sein Beziehungs- und Familienleben dermaßen im Schnelldurchgang durch, dass davon kaum etwas hängen bleibt. Nach der Ausführlichkeit, mit der er zuvor berufliche Kontakte, Auftritte, Studioarbeit, Interviewsituationen und Touranekdoten abgehandelt hat: ein seltsamer Kontrast mehr. Der Kollege hatte Recht: "Kunze ist verzwickt."
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