Und plötzlich geht das Licht an: "Still... At Their Very Best" - die Bad Boys um Matty Healy hätten es besser gekonnt.
Berlin (jmb) - The 1975 sind für ihre Liebe zur Kontroverse bekannt. Vergangenes Jahr provozierten sie mit einer queeren Zungenkuss-Protestaktion die Regierung Malaysias. Wenige Monate zuvor sorgte Sänger Matty Healy für Schlagzeilen, als er mit Pop-Queen Taylor Swift ausging: Obwohl der Sänger in Interviews gerne sein ambivalentes Verhältnis zum Ruhm betont, liebt er das Drama.
Bad Boys für das Gute
The 1975 geben sich als die Bad Boys des Pop, im Herzen sind sie Theatre-Kids. Ein wenig exzentrisch und prätentiös kommen sie daher, wirken aber stets bemüht, für das Gute einzutreten, ganz besonders für die Rechte der Underdogs. Ihre Texte bieten einen Mix aus Weltschmerz, Sozial- und Religionskritik, viel Horniness, Verzweiflung und Hoffnung. Besoffen auf der Bühne zu stehen und trotzdem eine gute Show zu liefern, war lange das Markenzeichen der Band aus Manchester, die neben Healy aus Adam Hann, Ross Macdonald und George Daniel besteht. Auf der aktuellen Tour sind außerdem Gitarristin und Sängerin Polly Money, Schlagzeugerin Gabi King und Saxofonist John Waugh mit am Start. Doch die Whiskyflaschen wirken mittlerweile nur wie eine Attrappe. Dem soliden musikalischen Handwerk fehlt es an Lebendigkeit.
"Still... At Their Very Best" verspricht der Tourname. Die Show gestern Abend in der Berliner Mercedes-Benz Arena wurde diesem selbstbewussten Anspruch jedoch nicht ganz gerecht. Das aufwändige Bühnenbild ließ zunächst anderes vermuten: Das Set erinnert an eine Wohnung mit mehreren Zimmern, inklusive eines großen Fensters und zahlreichen TV-Bildschirmen, die einen wesentlichen Bestandteil der Lichtshow ausmachen. Die Räume sind mit gemütlichen Vintagemöbeln und Lampen ausgestattet. Als die Musiker:innen die Bühne an diesem Abend zum ersten Mal betreten, gehen alle Lichter auf der Bühne an, während die beiden großen Monitore an den Seiten ein Sitcom-ähnliches Intro abpielen.
Humor - nur im Ausnahmefall
Die Spannung steigt, vielleicht passiert gleich etwas ganz Besonderes. Doch Frontsänger Matty Healy setzt sich gruß- und wortlos ans Klavier, raucht dabei eine Zigarette. Dreitagebart und Augenringe lassen ihn ein wenig fertig aussehen. Und entsprechend schleppend gestaltet sich der erste Teil der Show. Das bunt gemischte Publikum, das zu Beginn noch euphorisch jubelt, wird zunehmend ruhiger. Die verträumte Atmosphäre erinnert ein wenig an Cigarettes After Sex. Erst nach etwa einer halben Stunde lässt "I Always Wanna Die (Sometimes)" mehr Stimmung aufkommen.
Doch selbst die rockigeren Nummern und Fan-Favoriten wie "It's Not Living (If It's Not With You)", "About You" und "Love It If We Made It" wirken an diesem Abend routiniert und pflichtbewusst heruntergerasselt. Die fehlende Interaktion mit den Fans tut ihr Übriges. Wenigstens zu einem müden "Hallo Berlin" hätten sich The 1975 aufraffen können. Healy hält lediglich sein Mikrofon ein paar Mal in Richtung des Publikums, als Ermunterung mitzusingen. Aber vielleicht passt ein Dialog mit dem Publikum auch nicht zum Sitcom-artigen Konzept der Show.
Doch selbst diesem Format fehlt es an Glaubwürdigkeit, denn anders als in einer echten Sitcom fehlt an diesem Abend größtenteils der Humor. Was ein wenig ironisch wirkt, denn die meisten Songs, die heute gespielt werden, stammen vom jüngsten Album "Being Funny In A Foreign Language". Doch an einer Stelle gerät man tatsächlich ein wenig ins Schmunzeln: Als Matty Healy in einen Fernseher kriecht und auf einmal Teil der chaotischen Nachrichtenwelt wird. Kurious. Doch dieser unterhaltsame Moment bleibt die Ausnahme.
Der altersmilde Matt Healy
Healy wechselt zwischendruch das Outfit, sieht im weißem Hemd und mit Krawatte nun etwas fitter aus. Nach einem akustischen Intermezzo, in dem Polly Money Phoebe Bridgers' Part des Songs "Jesus Christ 2005 God Bless America" singt, nimmt auch die Stimmung in der Halle wieder an Fahrt auf. Doch nach dem rockigen "Give Yourself A Try" ist plötzlich Schluss. Kein "Thank you" oder "Goodnight", keine Zugabe. Ein Abspann flimmert über die Bildschirme, die Fans verlassen schnurstracks die Halle.
In weniger als zwei Stunden ist das extravagante Wohnzimmerkonzert schon wieder vorbei. Punkt 22 Uhr gehen die Lichter an. Dabei war doch gerade etwas Partylaune aufgekommen. Der wilde Draufgänger-Charme, für den The 1975 einst bekannt waren, ist verflogen. Statt wilder Bühnenexzesse und stundenlanger Liveshows hält sich die Band brav an die Schlafenszeit. Letztes Jahr knutschte Healy noch im Elvis Presley-Stil mit den Fans aus der ersten Reihe und sorgte mit politisch inkorrekten Äußerungen für Kopfschütteln. Gestern Abend wirkte die sonst so eifrige Skandalnudel hingegen großväterlich milde.
Die Setlist aus Berlin:
Being Funny In A Foreign Language
- The 1975 (BFIAFL)
- Looking for Somebody (To Love)
- Happiness
- Part of the Band
- Oh Caroline
- I'm in Love With You
- A Change of Heart
- An Encounter
- Robbers
- I Always Wanna Die (Sometimes)
- fallingforyou
- About You
- 28
Matty's Nightmare
- Be My Mistake
- Jesus Christ 2005 God Bless America (Leadgesang: Polly Money)
Still... At Their Very Best
- If You're Too Shy (Let Me Know)
- TOOTIMETOOTIMETOOTIME
- It's Not Living (If It's Not With You)
- The Sound
- Somebody Else
- Love It If We Made It
- Sex
- Give Yourself A Try
Fotocredit: Jordan Curtis Hughes.
2 Kommentare
Oh mann. Die haben die Tendenz, auf ihren Tourabschlüssen sukzessive die Setliste zusammenzuhacken. Gestartet mit 28 Songs, sind's noch knapp 22. Wenns das so weitergeht, spielen sie am Tourende nur noch Singles.
Andererseits: "28" im Set. Das ist so Deep Cut, mehr geht gar nicht. "Heart Out" zurück. Schick. Generell scheinen da ein paar Dinge in Rotation, man wünschte sich nur, das Standartset wäre es, zugunsten ein paar mehr alten Krachern (und nicht immer der gleiche Murks von Singles). Aber die müssten inzwischen Vierstundenshows spielen, um nur schon alles zu spielen, was man als halbwegs popaffiner Mensch von ihnen kennt.
Ich fands toll. Warum das Konzert aber verlegt wurde, muss man nicht verstehen. Die anwesenden Personen gestern hätten locker in die Verti Music Hall nebenan, wie ursprünglich geplant, gepasst.