Jon Savage ordnet Interviews aller Beteiligten zu einer Story über die Post-Punk-Visionäre und deren Sänger Ian Curtis.
Manchester (rnk) - Es gibt sicherlich eine leichtere Frühjahrslektüre als ein Buch über den schweren und düsteren Sound von Joy Division und ihrem legendären Sänger Ian Curtis ("Sengendes Licht, die Sonne und alles andere: Die Geschichte von Joy Division", Heyne, 384 Seiten, 20 Euro). Wenn es eine Band gab, deren düsterer Sound die Wolken vor die Sonne schob, dann sicherlich jener der Post-Punk-Pioniere aus Manchester. Das Buch des renommierten Musikjournalisten und Buchautoren Jon Savage ("England's Dreaming", "Teenage - The Creation of Youth Culture") macht klar: So ganz auserzählt ist die Geschichte von Joy Division dann doch nicht. Ihr Song "Isolation" war jedenfalls nicht zu Unrecht auf unserer Liste zur aktuellen Pandemie-Situation.
Filmischer Interview-Style statt Autobiografie
Savage wählte nicht die erklärende Perspektive eines Autors, sondern ordnet Originaltöne der Protagonisten chronologisch von der Jugend bis zum tragischen Ende 1980 in einer "Oral History" zusammen. Er schrieb bereits das Drehbuch für "Joy Division - A Documentary". Die meisten Interviews entstammen dieser und wurden durch noch einmal durch spätere Gespräche, auch aus dem Jahr 2018, ergänzt.
Das Manchester der Band klingt in den Erzählungen erst einmal nach vertrauter Kindheit. Die hässlichen Industriebauten, die überall präsente Gewalt wirken zwar nicht besonders einladend, aber man kennt es eben nicht anders. Dabei war die nordenglische Stadt einst innovativ und reich, deren Blüte fiel in die Zeit der Baumwollverarbeitung und befand sich in den 60er Jahren bereits im Niedergang. Der Joy-Division-Gitarrist und spätere New Order-Sänger Bernard Sumner sieht angeblich erst als Neunjähriger so etwas wie Natur, bis dahin prägen Fabrikbauten sein Bild von Salford, einem Vorort von Manchester. Brutal, aber mit einem eigenen Charakter.
Als Teenager versuchen sie wie viele andere Kids, ihrem Alltag mit Musik zu entfliehen und am besten in den angesagten Plattenläden zu arbeiten. Ian Curtis beschreitet einen anderen Weg und wird als angenehmer Quatschkopf beschrieben. Er war "ein glücklicher Kerl wie er im Buche steht", mit gutem Beamten-Job und seiner Ehefrau Deborah Curtis, der er Blumen und Schokolade schenkt. Auch der neue Drummer Stephen Morris ist von der Höflichkeit des Sängers überrascht, von dem er vor seinem eigenen Vorspiel annahm, dass er ein "rotzender Punk wie Johnny Rotten" sei.
Der kalte Sound des Nordens
In der ärmlichen Industriestadt ergeben sich neben den Plattenläden wenig Möglichkeiten, andere Musik als den üblichen Hippie- oder Glamrock-Kram zu hören. Irgendwann ergreifen die Kids die Initiative und holen die Sex Pistols, deren Live-Auftritte in den Musik-Mags mit Faszination und Ekel besprochen werden, aus dem hippen London in den kargen Norden Englands.
Der Auftritt ist die Initialzündung für viele Kids, die an dem Auftritt beteiligt sind. Gerade die Zugänglichkeit von Punk motiviert die Jugendlichen, selbst günstiges Equipment zu kaufen. Der niedliche Bandname Stiff Kittens wird in Warsaw umgeändert, eine David-Bowie-Nummer. Die zu große Ähnlichkeit mit der Londoner Band Warsaw Pakt führt zum endgültigen Bandnamen Joy Division, einem Begriff aus dem Buch "House Of Dolls". Anfängliche Versuche, die "nach Neunjährigen klangen", werden mit zunehmender Anzahl an Proben und Auftritten immer besser, für "No Love Lost" schafft man sich sogar ein ähnliches Riff wie in "L.A. Woman" von The Doors drauf. Doch während die Nummer der amerikanischen Rocker eher verspielt-psychedelisch daherkommt, klingen Warsaw wütender, strenger und wesentlicher bedrohlicher.
In kürzester Zeit kommen noch weitere Einflüsse wie Kraftwerk hinzu, die Ian verehrt. Ein interessantes Detail - eines von wirklich vielen über die Aufnahmezeit von "Unknown Pleasures" - ist die Beschreibung von Peter Hook, dass bei den Studioaufnahmen gar kein Aufnahmegerät bereit stand. Die Songs der Bandproben wurden stets aus den Erinnerungen der Mitglieder konzipiert. Da niemand der Beteiligten als Virtuose zu bezeichnen ist, legen Joy Division der Einfachheit halber größeren Wert auf die Rhythmik. Ein großer Teil ihrer Musik entstammt der Improvisation. Die Musikpresse ist von der EP "Ideal For Living" zunächst nur mäßig begeistert, feiert aber das Debüt und bezeichnet die Songs nach dem Abebben des großen Punk-Hypes 1977 als den neuen Sound. Bands wie Wire und Joy Division kreieren eine erwachsenere und anspruchsvollere Richtung im britischen Punk.
"Eben war er noch Ian, und plötzlich übertrat er eine Schwelle und wurde ein Wahnsinniger. Er war ein sehr charismatischer Frontmann, weil man nie wusste, was als Nächstes passieren würde - wir wussten es jedenfalls nicht." Den Schock, Curtis auf der Bühne plötzlich als Berserker zu erleben, beschreibt ein Zeitzeuge und Freund der Band so: "Das ist der Typ, der bei den Waltons (eine biedere amerikanische 70er-Familien-Serie, Anm. des Autors) mitspielen könnte, und jetzt steht er auf der Bühne und hypnotisiert alle." Vor Publikum scheint der konfliktscheue und introvertierte Ian ein Ventil für seine Wut und Frustration zu finden. Wer er nun wirklich war, können die Befragten auch nicht genau erklären.
Joy Division-Tourmanager Terry Mason ist auch ratlos: "Es gab 999 Ians. Nicht viele Menschen bekamen dieselbe Seite von Ian zu Gesicht. Man bekam immer nur das, was er einem geben wollte." Für seine Gattin Deborah ist er ein "Kontroll-Freak", auf den vor allem Militärisches eine gewisse Faszination ausübt. In Ihrem eigenen Buch "Touching From A Distance" beschreibt sie ihre Beziehung mit Ian genauer.
Eine folgenreiche Dynamik entwickelt sich mit Ians Affäre zu Annik Honoré. "Dann tauchte die glamouröse Belgierin auf. Sie war attraktiv und ungebunden ... Ich denke, die meisten Menschen brauchen einen Partner, und wenn man seinen Partner ausschließt, muss man sich einen neuen suchen. Das ist natürlich. Er muss sehr einsam gewesen sein." Annik ist anders als die hausfrauliche Debbie: Intellektuell und selbstbewusst. Selbst der eher großmäulige Band-Macho Hook erinnert sich beeindruckt: "Verdammte Scheiße, die konnte echt wütend werden."
Die englische Presse stilisiert die Band zu den neuen Heilsbringern der britischen Musiklandschaft, was den Druck auf den sensiblen Ian noch weiter verstärkt. Er kann aufgrund seiner Krankheit nicht weiter Auto fahren, die Tochter im Arm halten und ist im alltäglichen Ablauf zunehmend eingeschränkt. Bandkollege Morris beschreibt diesen fatalen Abwärtsstrudel als "eine Katastrophe in Zeitlupe."
18.05.1980
Das emotionalste und abschließende Kapitel behandelt den Freitod von Ian Curtis, dem allerdings schon andere Versuche voraus gingen. Die Bandmitglieder sind eigentlich noch Kids, die plötzlich mit dem Selbstmord ihres Freundes konfrontiert werden und das nicht verarbeiten können. Über Gefühle redet keiner, nach Ians Beerdigung gehen sie in den Sex Pistols-Film "The Great Rock'n'Roll-Swindle" und alle wollen - ihrem Alter entsprechend - größtmögliche männliche Coolness an den Tag legen.
Die Gründe und die Motivation für das tragische Ende ihres Sängers sehen die Kollegen auf unterschiedliche Weise. Sumner und Honoré sehen seine Epilepsie-Krankheit und auch die Wirkung der Medikamente als fatalen Beschleuniger, seine Ehefrau Deborah eher den schon vorhandenen Wunsch nach einem dramatischen Ende. Der 2007 verstorbene Factory-Chef Tony Wilson erinnert sich an Curtis' Verehrung für den Werner Herzog-Film "Stroszek", dessen Hauptfigur ebenfalls an großen Geldproblemen leidet.
Eine neue Ordnung
Am Schluss fassen die Bandmitglieder den Mythos Joy Division zusammen und erklären, warum sie den Antrieb hatten, weiterzumachen. Bernard Sumner: "Wir waren keine durchstrukturierte Band, wir haben immer alles nach Instinkt gemacht, wir hatten nie einen Plan für irgendwas". Hooky: "Ich bin froh, Ian gehabt zu haben. Er hat was hinterlassen, das Menschen bis heute bewegt: Ein unglaubliches Vermächtnis, das wir zusammen geschaffen haben, das ist das Schöne an Joy Division."
Das Buch von Jon Savage unterscheidet sich nicht signifikant von dem Doku-Film. Der Vorteil der ungefilterten Originaltöne bleibt, dass keinerlei künstlerische Freiheit oder Eingriff durch den Autor stattfindet. Genauso roh und direkt wie der Klang von Joy Division finden die Aussagen statt. Unautorisiertes Fan-Geschwurbel oder hanebüchene Psychoanalysen bleiben uns so erspart. Der dicke Papp-Einband wirkt zudem schön wertig und erinnert an die "Neue Typografie" des Künstlers Jan Tschichold, dessen Einfluss auf Joy Division und Factory Records auch im Buch näher erklärt wird. Dass "Control", der Anton Corbijn-Film über Ian Curtis, viele Handlungen straffte und eigenwillig interpretierte, ist bekannt. Anhand der Fakten in diesem Sachbuch liegt eine schöne Ergänzung vor.
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