Über 600 Konzerte an Hamburgs 'geiler Meile': mit Muse, Kadavar, Metronomy, dem fünften Beatle Klaus Voormann und vielen Newcomern.

Hamburg (mab) - "Reeperbahn, wenn ich Dich heute so anseh' / Kulisse fürn Film, der nicht mehr läuft / Ich sag Dir, das tut weh ...", sang der Mann, der hier als stiller Beobachter von unzähligen Postern, Fotos, Aufstellern und Wandbildern auf das Festivaltreiben blickt. Was Udo Lindenberg wohl heute vom Reeperbahn Festival hält? Ein wenig alten Glanz bringt die mittlerweile zum 13. Mal stattfindende Sause aber doch zurück.

Zumal die Zeile "Und jeder Musiker erzählte seinem Groupie / Du wirst es sehn, ich werd ein weltberühmter Star" dank des Festivals teilweise wieder spruchreif wird.

Nicht die großen Namen prägen das Reeperbahn Festival, sondern die, die die meisten Besucher zuvor wohl noch nie gehört haben. Hunderte Newcomer treten seit Mitte der Woche in über 40 verschiedenen Locations direkt an und rund um die berühmte Rotlichtmeile auf.

Das deutsche Pendant zum SXSW in Texas

Der Ansatz ähnelt durchaus dem SXSW in Austin, Texas - Sprungbrett für viele junge Künstler in die nächsthöhere Liga. Wir begeben uns noch bis Samstag in St. Pauli auf die Suche nach neuen oder vielversprechenden Acts. Und wie beim großen US-Pendant ist das RBF auch ein riesiger Branchentreff.

Alle großen Player der deutschen Musikszene (und solche, die es noch werden wollen) versammeln sich auf einem Fleck. Neben dem für alle geöffneten Musikprogramm finden zahlreiche Business-Meetings, Empfänge, Vorträge und Panels statt, einige davon offen für Inhaber des sogenannten Conference Tickets, andere in exklusivem Rahmen auf Einladung.

Ein Beispiel: Am Donnerstag spricht Daniel Lieberberg, Präsident der Sony Music im kontinentaleuropäischen und afrikanischen Markt, mit dem britischen TV-Moderator Steve Blame über seinen Werdegang. Lieberberg, Sohn des Rock am Ring-/Rock im Park-Veranstalters Marek Lieberberg gehört zu den mächtigsten Personen der hiesigen Musiklandschaft.

Sookee hilft dem Underground

Schnell aufgeladen ist die Luft bei einem anderen Panel: 'Frauen im Rap'. Moderiert von Falk Schacht diskutieren unter anderem Sookee und Kool Savas-Promoterin Marina Buzunashvilli über Sexismus im Hip Hop-Kosmos. Während Letztere die Position vertritt, man müsse sich überall durchbeißen, egal ob Frau oder nicht, und im Rap komme Sexismus nicht häufiger vor als in anderen Bereichen der Gesellschaft, hält Sookee dagegen, man müsse proaktiv jungen Talenten hochhelfen, die sich das geforderte Durchsetzungsvermögen erst noch durch Erfahrung erarbeiten müssen.

Sokee kritisiert außerdem das Wording ("Du kannst eine Person als 'Mensch' bezeichnen. Du kannst sie auch als 'Hurensohn' bezeichnen. Dasselbe ist gemeint, es macht aber einen riesigen Unterschied, oder?") und empfiehlt wiederholt Sir Mantis, auf Twitter selbsterklärter Transmann-Rapper mit Kampflesbenswagger. Checken wir aus.

Die Diskussion artet zum Glück nicht so aus wie im Vorjahr, als auf derselbem Bühne Melbeatz und Lady Bitch Ray aufeinandertrafen. Hier kann man den Beef noch mal nachsehen:

Bereits am Mittwoch hatten wichtige Verbände der Musikwirtschaft wie etwa der Bundesverband Musikindustrie (BVMI) im Hamburger Rathaus eine mehrjährige Studie zur Musiknutzung und Konsumverhalten vorgestellt, in der u.a. das Offensichtliche bestätigt wird: Immer mehr Musikhörer greifen auf Streamingportale wie Spotify oder andere Digitalangebote zurück. Gleichwohl lohnt der genauere Blick ins Konsumverhalten ("Studie: Online-Radio vor Youtube").

Passenger, Jungstötter, Thoedore

Der Headliner am Donnerstag heißt Passenger. Bevor er spätabends im Docks die Hauptshow spielt, besinnt sich der Brite seiner Straßenmusiker-Wurzeln und trällert auf dem N-Joy-Bus am Spielbudenplatz vor dem Venue. Ein paar Meter weiter, ebenfalls draußen, begeistert später der Grieche Theodore mit atemberaubender Post-Rock-Avantgarde zwischen Sigur Rós und Yann Tiersen. Parallel dazu spielt Fabian Altstötter a.k.a. Jungstötter (Ex-Sizarr) in Angie's Nightclub - ebenfalls eine klare Empfehlung.

Danach quetschen wir uns ins neben den Docks gelegene und proppenvolle HÄKKEN: Die Bühne dort ist zwar viel zu klein für die sechs Musiker von Kellermensch und ihr Kontrabass - das macht den Gig der Dänen aber umso intensiver. Bassist Claudio Suez trabt unablässig im schmalen Streifen zwischen Publikum und Bühne, auch Schreihals Christian Sindermann steht näher bei den Fans als an der Bühne. Zampano Sebastian Wolff unternimmt ebenfalls Abstecher nach unten. Eine großartige Band!

Der Sänger wütet in die Nacht

Sogar noch kuscheliger wird es um Punkt null Uhr bei Fight The Fight. Ein passenderes Setting als den stickig finsteren Molotow Karatekeller gibt es kaum für eine aggressive Hardcore/Metal-Show. Sänger Lars Vegas wütet in den ersten Reihen und brüllt in die Nacht. Vorher heizten hier bereits die norwegischen Landsmänner The Dogs kräftig ein. Mit Astra in der Hand gehts dann an den in einem bekannten Spider Murphy Gang-Song besungenen Damen vorbei nach Hause.

Ausschlafen ist angesagt, denn am Freitag muss man sich die Füße in den Bauch stehen: Inzwischen steht der geheime Headliner der Warner Music Night fest: Muse im intimen Rahmen sollte man dann doch nicht verpassen.

Eine Muse küsst nicht

Tja, Muse ... fleißige Warner-Angestellte haben nachts in einem Radius von mehreren Kilometern die Gehwege mit Muse-Logos getaggt. Soviel zum Thema 'Surprise Act'. Vor den Docks bildet sich bereits nachmittags eine schier unendlich lange Schlange. Wer rein will, muss früh dran sein und Glück haben, einer der knapp 1.200 Auserwählten zu sein. Wir schaffen es dank der 'Delegates-Line', die ebenfalls weit mehr Personen fasst als letztlich hineinkommen.

Nach einer weiteren Stunde Wartezeit betreibt zunächst Disarstar Werbung für sein "am 15. Februar erscheinendes Album 'Bohemia'". Ja, ist gut. Immerhin hat der Rapper noch ein zweites Anliegen: "Fuck AfD". Seine Message gegen den Hass und die Fremdenfeindlichkeit der Partei verpackt er wortgewandt und fundiert. Das permanente Switchen zur penetranten Eigenwerbung schmälert den Impact allerdings doch etwas.

Dann sollte eigentlich Stormzy das Docks in ein Tollhaus verwandeln. Der sagt aber kurzfristig ab. Stattdessen schlendert Matt Gresham auf die Bühne, ein Singer/Songwriter, der mit null Eigenständigkeit die Schnittmenge aus Passenger und Ed Sheeran bildet und mit viel Wohlwollen auch etwas an Asaf Avidan erinnert. Um die Wartezeit zu überbrücken, stellt man sich trotzdem kurz in den Fotograben, man will ja nicht so sein. Ein Fehler.

Denn dann heißt es: "Fotografen bitte am Ende dieses Ganges sammeln. Wir briefen euch noch mal für Muse, dort gelten andere Regeln." Das Ende des Gangs ist die Straße, dort eröffnet uns ein Security, dass er die Anweisung hat, nur noch Leute wieder reinzulassen, die einen Fotovertrag speziell für Muse unterschrieben haben. Kommuniziert wurde das im Vorfeld aber nicht wirklich. Selbst das Docks-Personal hatte diese Info bis dato nicht. Es besteht die Möglichkeit, auf den Veranstalter zu warten, der "irgendwann vor dem Konzert hier auftauchen müsste".

Draußen in der Kälte ist längst Einlassstopp, die Leute stehen trotzdem noch über hundert Meter weit vor dem Club an. Tja, zweieinhalb Stunden Wartezeit, in denen man sich vielversprechende Newcomer wie Lydmor (Experimental Pop), RÁN (Dream Pop), Dirty Nil (Schweinerock) oder auch Laing hätte anschauen können. Rechtzeitig zu Get Well Soon, die in der St. Michaelis Kirche auftreten, schafft man es auch nicht mehr. Drum gehts weiter zu Graveyard. Und die liefern grandios ab. Sänger Joakim Nilsson klingt live besser als auf Platte, die Herren haben Seele und einen Gitarrensound zum Niederknien.

Highlights: Ecca Vandal und Hillsburn

Apropos Niederknien: Ecca Vandal. Zweimal an zwei verschiedenen Orten fallen die Leute vor ihr auf die Knie, bevor sie sich in einen springenden, tanzenden Mob verwandeln. Erste Station: das spätnachmittags hoffnungslos überfüllte Molotow. Um Mitternacht ist der weit größere Nochtspeicher dran. Der ist nach einer Weile ebenfalls proppenvoll und erlebt eine noch intensivere Show der Australierin. Sie ist dort der letzte Act des Abends und widmet sich eine halbe Stunde den vielen Fans, die sich nach ihrem Gig vor der Bühne anstellen.

Eine mindestens ebenso große Überraschung wie die Hardcore/Punk/Pop/Hip Hop-Mischung Ecca Vandals liefern am Freitagmittag Hillsburn ab. Der Folk-Rock der Kanadier wirkt zunächst zwar fein, aber auch etwas unscheinbar. Beim letzten Song "Time Of Life" ändert sich das: phänomenal! Die Klimax ist ein langes Violinensolo von Sängerin Rosanna Burrill, das ruhig und isoliert beginnt, bevor es in eine wahre Postrock-Wall Of Sound mündet. Draußen, im Regen vor dem Venue, begegnet man kurz Fler. Der sprach in einem Panel über sich selbst.

Ganz ohne Klimax kommen DeWolff aus. Die spielen nachmittags einen Akustikgig am N-Jox-Bus - schlappe zehn Minuten lang. Liegt natürlich nicht an der Band, sondern an der ausgegebenen Sturmwarnung samt verschobenem Zeitplan. DeWolff haben zum Glück noch Alternativen: Sie spielen an zwei weiteren Festivallocations in elektrifizierter, ungleich druckvollerer Form. Den Bluesrock der Niederländer sollte man auf dem Schirm behalten. Ebenso Parcels, die ein beim Gig anwesender Freund so beschreibt: "Noch nie fand ich eine Band gleichzeitig so lächerlich und so genial". Bis morgen dann.

Viel los auf der Reeperbahn

Zitat desselben Freundes tags darauf nach Kadavar: "Ich mag Black Sabbath ja auch, aber deswegen muss ich noch lange nicht ihre Songs neu arrangieren." Dem Autor dieser Zeilen ist das egal, er mag Black Sabbath und die bärtigen Berliner. Zumal deren Dynamik auf der Bühne gewohnt knorke ist. Drummer Tiger mit seinem Rückenventilator, dem stierenden Blick und ausladenden Bewegungen thront im Bühnenzentrum. Er feuert die Leute an, während Lupus die Haare schüttelt und Dragon mit Beißgrimassen beschäftigt ist. Ein Stockwerk tiefer im Terrace Hill feiern Long Distance Calling ihre Post Rock-Messe, an der Großen Freiheit schreiben Metronomy der Indie-Fanschar gut gelaunt "Love Letters".

Etwas hinter den Erwartungen bleiben die Hamburger Lokalmatadoren Brett zurück. Das Gruenspan ist zwar, wie eigentlich alle Locations, brechend voll, als sie um 21:30 Uhr die Bühne betreten. Der Sound in den hinteren Reihen bleibt aber schwammig, was den Songs des starken Debütalbums "WutKitsch" live etwas die Prägnanz und der Performance Energie nimmt.

Beatles-Legende auf Streifzug

Unverhofft erleben wir neben der Ausstellung "Feminist Beat Revue", wofür sich unter anderem Sookee und Bernadette La Hengst ganz nach ihren Vorstellungen von Fotografin Christiane Stephan inszenieren ließen, ein Konzert außerhalb des Festivalprogramms: Auf einem handgeschriebenen Plakat am Einlass des auf Spenden angewiesenen Centro Sociale steht der Name Volki. Hat mehr was von Proberaumsession als Auftritt, aber die Stimmung ist super, die Musiker haben Bock und beim Jammen durch frickeligen Rock mit Fusion-Einschlag auch einiges auf der Kette.

Eine weitere Ausstellung zieht die Beatles-Fans an: Im Festival Village am Heiligengeistfeld stellt "Revolver"-Coverkünstler Klaus Voormann einige Werke aus. Neben einigen Beatles-Arbeiten unter anderem auch das Artwork zu Turbonegros "Scandinavian Leather". Voormann schaut auch des Öfteren im Museumszelt vorbei. Am Samstag findet dort auch ein kurzes Beatles-Coverkonzert statt: Singer/Songwriterin Stefanie Hempel, die seit 14 Jahren als Tourguide die Hamburger Zeit von John, Paul, George und Ringo erklärt und "wo früher mal der große Star-Klub war", kommt mit ihrer Band vorbei und feiert den Nachlass der Liverpooler.

Inzwischen haben uns auch Stimmen einiger Glücklicher erreicht, die Muse tatsächlich erlebt haben. Auf übermächtige Produktion verzichteten Matt Bellamy und Co. und konzentrierten sich auf die musikalische Performance - zur vollsten Zufriedenheit der Fans, die die Band in dieser intimen Form wohl nie wieder erleben werden.

Insgesamt fanden über 600 Konzerte an vier Tagen beim Reeperbahn Festival statt, plus zig Panels und unabhängige Receptions. Und all das während der ganz normale Wahnsinn St. Paulis weiterging und Fischbrötchen fürs leibliche Wohl sorgten. Ums mit Udo zu sagen: "An jeder Ecke rochs nach Hafen und nach Rock'n'Roll / Das war stark ...".

Fotos

Reeperbahn, Hamburg, 2018 Newcomer-Hopping in St. Pauli: das deutsche Pendant zum SXSW in Austin, Texas.

Newcomer-Hopping in St. Pauli: das deutsche Pendant zum SXSW in Austin, Texas., Reeperbahn, Hamburg, 2018 | © laut.de (Fotograf: Manuel Berger) Newcomer-Hopping in St. Pauli: das deutsche Pendant zum SXSW in Austin, Texas., Reeperbahn, Hamburg, 2018 | © laut.de (Fotograf: Manuel Berger) Newcomer-Hopping in St. Pauli: das deutsche Pendant zum SXSW in Austin, Texas., Reeperbahn, Hamburg, 2018 | © laut.de (Fotograf: Manuel Berger) Newcomer-Hopping in St. Pauli: das deutsche Pendant zum SXSW in Austin, Texas., Reeperbahn, Hamburg, 2018 | © laut.de (Fotograf: Manuel Berger) Newcomer-Hopping in St. Pauli: das deutsche Pendant zum SXSW in Austin, Texas., Reeperbahn, Hamburg, 2018 | © laut.de (Fotograf: Manuel Berger) Newcomer-Hopping in St. Pauli: das deutsche Pendant zum SXSW in Austin, Texas., Reeperbahn, Hamburg, 2018 | © laut.de (Fotograf: Manuel Berger) Newcomer-Hopping in St. Pauli: das deutsche Pendant zum SXSW in Austin, Texas., Reeperbahn, Hamburg, 2018 | © laut.de (Fotograf: Manuel 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