laut.de-Kritik
Eine Band aus den Punk-Jahren sagt nachdenklich Adieu.
Review von Philipp KauseSänger David Thomas lässt auf sich warten. Nach einer Minute treibender Beats stößt er zum wuseligen Geschehen hinzu, schaltet sich in die instrumentale Kakophonie ein. Bekämpft als erstes den Gefühlsmüll, "the emotional garbage", und dann reiben ein Akkordeon und eine E-Gitarre gegeneinander. Wenn zwei sich duellieren, gewinnt manchmal ein Dritter, und hier entwickelt sich der Track "What I Heard On The Pop Radio" zu einer Studie in experimentellem Schlagzeug-Wirrwarr. So lösen nur Pere Ubu ihre Kompositionen und Klangschichtenarchitektur auf.
Pop-Radio, davon grenzen sich diese Musiker ab. Pop-Radio regt sie auf, und hier im ersten Song des langen Abschieds auf "The Long Goodbye" reagieren sie sich ordentlich ab. Später rücken die verhaltenen Stücke an, die eher wie Theaterkunst als wie Musik wirken. Dabei verschreckt vielleicht die spröde Oberfläche. Doch das muss sie nicht: Wer Pere Ubu eine längere Aufmerksamkeitsspanne schenkt als im engeren Popmusik-Format gewohnt, wird in der Regel irgendwann belohnt. Vorausgesetzt, der geneigte Musikfan hegt eine Sympathie fürs Absurde oder Unerklärliche und sucht nicht überall nach Logik.
Dabei hat die Band Pere Ubu sogar Anfang der Neunziger Jahre mit zwei Alben aufgewartet, in denen sich kristallklare Songstrukturen finden, mitunter sogar eingängige Melodien. Zum Ausprobieren gehörte auch, wie keine Platte dieser Gruppe einer anderen gleichte. Doch die meisten LPs der sogenannten Band, besser: des Projekts Pere Ubu, erschließen sich beim ersten Hören kaum. Auch die Musiker passten nicht für jedes Vorhaben und wechselten um den Sänger immer wieder. David Thomas klingt oft verzweifelt und für einen Rocksänger zu hoch, überfordert um eine Revolution oder Rebellion durchzuziehen.
Dafür zieht er mit seinem unaufhörlichen Keifen in Bann. Es gibt hier eine CD 2, mit einem Konzertmitschnitt. Da zeigt "Heart Of Darkness" des Frontmanns expressionistische Seite vortrefflich. Diese Live-Scheibe schimpft sich hier "Bonus Disc", doch dabei stellt sie sich rasch als Herzstück der Doppel-CD heraus. Auf der Bühne ertönen dieselben Songs, das heißt Pere Ubu spielen alle elf neuen Stücke des Albums und binden sie in ein noch umfassenderes Live-Set ein. All diese Songs reichern sie hier ordentlich mit E-Gitarren und mit viel Verzerrer an. Dagegen verblassen die Studioaufnahmen.
In ihnen erscheinen etliche Tracks wesentlich anders, und die Synthesizer führen mehr oder weniger deutlich: sehr auffallend bei "Who Stole The Signpost?", dezenter, aber prägnant in "Road Is A Preacher". Damit bremst sich die Gruppe selbst aus, die Studioversionen eiern allzu introvertiert im Versuchsstadium. Pere Ubu starteten in der Ära, als der Synthesizer aufkam, und so wie viele Bands ihn zu Harmoniezwecken einsetzten, etwa Genesis, kehrten sich einige dagegen. Teile der Post-Punk-Fraktion in England wie Wire achteten auf Verfremdung, Verzögerung, Verstörung, Avantgarde und Disharmonien.
Allerdings fielen gerade Pere Ubu anfangs als Verehrer solcher technischer Spielereien auf und setzten dem Synthesizer auf ihrem Album "Dub Housing" ein überragendes Denkmal in Sachen warmen Wohlklangs. Die Geräte waren damals andere, heute nicht mehr hergestellt.
Nimmt der Tastentöne-Fan den alten Track "On The Surface" von 1978, stößt er verzückt auf witzige, verspielte Echos und Antwortsignale, die der EML-Synthesizer ElectroComp auf die analoge Orgel zurückschmetterte. Manche Rezension kräuselt heute 2019 den Kennern dieser Band die Stirn, wenn sie erfahren: Der Opener "What I Heard On The Pop Radio" sei ein "Electro-Garage"-Titel. Oder einige neue Songs klängen "wie mutierte Techno-Tracks, die sich auf ein Pere Ubu-Album geschmuggelt haben". Seien gar "'techno-rock' soundscapes". Ob sich Rolling Stone, Musikexpress und The Quietus hier abgesprochen haben? Die Magie dieser Musik treffen sie so nicht wirklich. Es beängstigt viel mehr, dass gerade bei dieser für Deutung sehr offenen Musik gleich mehrere Experten hier dasselbe schreiben und Techno wittern. Zudem ignorieren sie das Antriebsmotiv von Pere Ubu.
Weswegen gründete diese Band sich einst? David Thomas und der begnadete Keyboard-Spezialist Allen Ravenstine formen diese Band 1975, um die Musique Concrète, quasi 'Ernste' Musik, mit Rockmusik in Berührung zu bringen. Das ist nichts Neues. Es tangiert Elektronik, klar. Weder aber hat es mit Techno noch mit Electro-Garage das Geringste zu tun. Außer dass alles Klang ist.
Wobei sich natürlich sowieso alles mit allem verbindet und alles relativ ist. Auch an diese Haltung erinnern Pere Ubu aufs Vortreffliche. Sie rufen das Nachdenken über Musik wach, fordern, gehen existentialistisch an die Sache heran. Musik ist mehr als ein Konsumgut, das sich an- und ausknipsen lässt, mehr als Mood Management. Musik ist eine Sprache und bietet die Chance, die Welt anders wahrzunehmen, Hebel im Kopf umzulegen. Diese Erkenntnis gerinnt nach knapp zwei Stunden "The Long Goodbye". Hier allerdings ufern in Disc 1 die Kunsttendenz und das Relativierende in eine inkonsistente breiige Anordnung diverser Einzelteile aus. Nichts hat mit nichts zu tun. Egal in welcher Abfolge man die zehn Studioversionen anhört: Es entwickelt sich kein runder Gesamteindruck. Oder es entsteht nur der schwammige Eindruck, einer typischen Pere Ubu-Annäherung ans Spontantheater beizuwohnen. "The World (As We Can Know It)" oder "Flicking Cigarettes At The Sun" zeichnen sich im Positiven wie Negativen durch Etüdencharakter aus.
Andere Musik, einfachere, poppige Musik lässt sich im Kontrast viel mehr wertschätzen, wenn "The Long Goodbye" von Pere Ubu eine Zeitlang die Gehörgänge mit Wabbel-Input geflutet hat. Aber wirklich starke Aufnahmen, die auch spannend wirken, finden sich hier nur ein paar: "Fortunate Son" etwa, hier erzählt Thomas von einem Mann in seinem Alter, der mit seiner Enkelin Essen geht und dabei eine Jukebox entdeckt. Den Erzähler erinnert das daran, wie sich die Welt verändert hat und insbesondere die USA: "I'm looking out the windows, I'm thinking about America today, and I start to cry". Es gibt ein wiederkehrendes Motiv, die "places that don't exist". Orte, die es nicht gibt, haben gemeinsam, dass sie Wirklichkeit sind, meint der Song; Orte, die es gibt, sind dagegen surreal, Los Angeles und Houston werden genannt.
Ergibt keinen Sinn? Nein. Doch. Nach langem Nachdenken schon. Hierzu sei das Buch "Transnational Connections: Culture, People, Places" des Schweden Ulf Hannerz empfohlen, der hat eine kluge Antwort. So ist das immer mit Pere Ubu, da bleiben sie sich treu: Auf den ersten Blick machen sie Blödsinn, doch geht man in die Tiefe, stecken da interessante Gedankenspiele trotz der Gedankensprünge.
Surreal, verschraubt, absurd, so klingt auch die Musik, die sich zum Ende des Tracks hin mit dräuenden Gitarren-Synthie-Drum-Konglomeraten zu einem panisch anmutenden Sound-Gewitter hochschraubt.
"The Road Ahead" zeigt David Thomas als ausgereiften Literaten. Impressionistisch beschreibt er unzählige Eindrücke von Raum, Licht und Dunkel, Geräuschen, Außen und Innen, inneren Monologfetzen ("I said to myself"), Maschinen, Stadt und Straßen, . Mit einem "magnificent vehicle" ist er unterwegs von Pennsylvanias "wilderness" über Maryland und St. Louis durch den Staat Missouri, von der Wüste Nevadas bis zu einem "Pazifikobjekt", das ihn öfter beschäftigt. Fata Morganas ziehen auf. Eine Uhr tickt, oder vielleicht auch nur der Blinker seines zauberhaften Fahrzeugs. Großartig. Der Trick: Man konzentriere sich auf die Worte, dann ergibt die Musik plötzlich ein geordnetes Bild und fast zehn Minuten verfliegen wie fünf. Jetzt ergibt das Akkordeon auch Sinn, das wohl bei der Reise durch Missouri der dortigen Cajun-Musik entsprang und in "Lovely Day" zurückkehrt.
Pere Ubu bleiben vor allem für diesen einen Song "The Road Ahead" lang Kult, doch das macht das zu Oberflächliche, Fragmentarische der restlichen Studioeinspielungen nicht wett. Die Konzertplatte in gigantisch reiner Klangqualität gleicht dagegen die Schwächen auf sympathische Weise aus. Mancher neue Song wie "Road Is A Preacher" und das aufs Doppelte zerdehnte "Marlowe" zünden überhaupt erst live. "Marlowe" gerät zu einer interstellaren Ambient-Musik und lädt zum Wachträumen ein. David Thomas Stimme kippt in einen David Bowie-Twang.
"Running Dry" besticht mit seinem ruhig fließenden Drive, ein Audiopet-Kleinod, das den Ohren schmeichelt und elegisch, auch leichtfüßig wirkt – also ganz und gar nicht wie es Pere Ubu üblich ist. Solche Songs streute Thomas aber im Laufe der 44 Jahre immer wieder ein. Dieser hier stammt von Neil Young, und nachdem Pere Ubu den Track in den letzten Jahren oft live spielten, packte auch Young selbst ihn 2019 erstmals nach 50 Jahren wieder aus.
Das hier erstmals erhältliche "Skidrow-on-sea" markiert live einen Höhepunkt auf der Doppel-CD. Die Kunstpausen, die Post-Punk-Kaputtheit, das vorsichtige akustische Herumzupfen machen diesen Track zu einer Art epischem Theater. Elektroakustische Blubberblasensounds steigen auf wie das Gebrodel von Geysiren und geben dem Song anstelle von Schlagzeug eine seltsam verschwommene Form von Beats und Taktgrenzen. "Skidrow-on-sea", so nennt ein englisches Satiremagazin eine Seebadeanlage in Brighton - so etwas wie der letzten Station vor dem Brexit, bevor man das UK verlässt. "This town is rotten", jault der Sänger aus Ohio, USA.
Neben den neuen Songs schillern "Highwaterville" von 1998 und das dramatische "Heart Of Darkness" von 1981 hier neu. In der Bühnenansage zum vollendet zersetzt klingenden "Road To Utah" rätselt der Bandleader, aus welchem Album die Nummer wohl sei: "War es das letzte Album, oder das davor? Wie konnte ich das vergessen?" Die Szene steht fürs ganze Konzept: Pere Ubu machten immer fordernde Avantgarde, aber stets augenzwinkernd und auf Augenhöhe mit dem Publikum.
3 Kommentare mit 2 Antworten
Saustarke Band. Wußte nicht, daß sie aufhören. Es fühlt sich allerdings stimmig an.
Wann kommt der Stein?!
Erst mal kommt nächste Woche Porträt mit Diskographie, und dann erwarten wir deine Stein-Nominierung(en) da drunter
Wird Zeit. Pere Ubu hat viele gute Alben, aber als Meilenstein kommen nur „The Modern Dance“ oder „Dub Housing“ in Frage. Die Single „30 Seconds Over Tokyo“ von 1975 zeigt, wie innovativ diese Band war.
Bei dem Cover und dem Titel hätte man wenigstens einen Satz über Raymond Chandler verlieren können. Ansonsten schöne Review.