laut.de-Kritik
Aus den frühen 70ern ins Jetzt gebeamt.
Review von Giuliano BenassiManchmal erinnert die Wirklichkeit an ein Märchen: Ein engagierter Musiker geht Ende der 60er Jahre ins Studio und nimmt textlich wie musikalisch ein bahnbrechendes Album auf. Zumindest aus seiner Sicht, denn der Anklang bleibt mehr als mäßig.
Auch der zweite Versuch scheitert. Frustriert zieht sich der Mann namens Sixto Diaz Rodriguez zurück und hält sich Jahrzehnte lang mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Auf verschlungenen Pfaden gelangt sein erstes Album dann von Detroit nach Südafrika, wo sich der Song "Sugar Man" zu einem Hit entwickelt. Die gute Fee heißt in dem Fall Internet, denn durch Zufall erfährt er, dass er weit von seiner Heimat entfernt als ein angeblich längst verstorbener Star gilt.
In der Folge nimmt sich ein Label fast 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Debüts erneut an und siehe da – auch in den USA zieht der unerkannte Prinz plötzlich Aufmerksamkeit auf sich. Die Musikmagazine loben ihn in den Himmel, Rodriguez stellt eine Band zusammen und begibt sich auf Tour.
So kommt es, dass nach dem Erfolg des wieder auferstandenen "Cold Fact" (1969/2008) nun auch Sixto Diaz Rodriguez' zweites Album "Coming From Reality" (1971/2009) erscheint. Wie zuvor bietet der Sohn mexikanischer Einwanderer eine Mischung aus Folk, Funk und politisch motivierten Texten. Im Vergleich zum Debüt fällt die Stimmung allerdings schwermütiger aus, was einerseits am Misserfolg der ersten Platte liegen dürfte, andererseits daran, dass das Album nicht im heimatlichen Detroit, sondern in London entstand.
Erstaunlich, welch ein schon fast zeitloses Klangkostüm Steve Rowland, der später The Cure signte, um Rodriguez' anprangernde, jedoch unaufgeregte und dadurch nicht unangenehme Stimme schneiderte. Zwar ist im Opener "Climb Up On My Music" der psychedelische Zeitgeist herauszuhören, der wirkt aber keineswegs altbacken.
Was nicht zuletzt an den Texten liegt. "She wasn't very hard to capture, but she was rather hard to hold", erzählt Rodriguez über "A girl named Christmas". Das folgende "A Most Disgusting Song", eine absurde Geschichte im Stile von "Rocky Raccoon" (Beatles, beschriebt das Leben on the road: "Eery night it's the same old thing: getting high, getting drunk, getting horny".
Das groovende "Heikki's Suburbia Bus Tour" handelt von einem durchgeknallten Hippie, der im Rausch durch Detroit fährt, während das kurze, von Streichern begleitete "Silver Words" eine originelle Liebeserklärung enthält: "Baby I'm not joking, and it's not what I'm smoking. I really think you're nice".
Rodriguez' politischer Anspruch zeigt sich vor allem an "Sandrevan Lullaby – Lifestyles" und dem abschließenden Stück. "Cause I lost my job two weeks before Christmas ... and the pope said it was none of his goddamn business" heißt es dort. Zufluchtsort für den Leidenden ist ein Puff.
Von den drei Bonustracks ist der erste der einzige auf dem Album, der so etwas wie Single-Qualitäten aufweist. Dabei erinnert er stark an "Venus" (Shocking Blue, später Bananarama). Das fröhliche "Street Boy" handelt vom Leben auf der Straße, "I'll Slip Away" ist vom Titel im Nachhinein betrachtet prophetisch, ansonsten eher mittelmäßig. Was den Gesamteindruck aber nicht schmälert.
Mit "Coming From Reality" ist das Märchen tatsächlich Wirklichkeit geworden. Eine nette Geschichte mit einem Happy End für einen Künstler, der endlich die verdiente Anerkennung findet.
1 Kommentar mit einer Antwort
ich würde eher zu cold fact greifen. ne wahnsinnige platte!
Haben will