8. November 2021

"Auf den Tod hätten wir lieber verzichtet"

Interview geführt von

Über den Dächern von Kreuzberg in Berlin treffen wir Brezel Göring von Stereo Total zum späten Mittagessen. Man kann sogar noch draußen in der Sonne sitzen und dabei ein kühles Radler genießen. Es ist ein sehr offenes und angenehmes Gespräch.

Es ist noch nicht lange her, dass Brezel seine engste Vertraute, seine Frau und jahrelange Musikpartnerin durch den Krebs verloren hat. Françoise Cactus verstarb am 17. Februar 2021. An diesem Nachmittag ist sie im Herzen immer dabei. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Brezel sie immer wieder in das Gespräch mit einbezieht und von ihr erzählt. Es gibt viele lustige Anekdoten, traurige, berührende und verrückte Momente und ganz viel herzliche Bewunderung. Am Ende vermisst man Françoise noch ein bisschen mehr, aber ihre Stimme, ihr einzigartiger Charakter, ihre Inspiration und die Musik von Stereo Total wird bleiben.

Warst du schon mal hier auf der Dachterrasse?

Brezel: Nein, noch nie. Ich bin zum ersten Mal hier.

Schön, dass es geklappt hat.

Brezel: Das ist jetzt auch das erste Mal, dass ich ein Telefon habe. Vorher hat Françoise für mich immer alles organisiert.

Ah, also jetzt hast du ein Smartphone und vorher wahrscheinlich so einen alten Knochen?

Brezel: Nee, gar kein Handy. Ich bin immer gut damit ausgekommen. Françoise hat sich zwar manchmal darüber aufgeregt und gesagt, sie sei nicht meine Sekretärin, wenn Leute, die mich sprechen wollten, bei ihr anriefen. Aber eigentlich hat das immer gut geklappt.

Wie hast du dann kommuniziert? Per E-Mail?

Brezel: Ich hatte noch einen Festnetzanschluss. Mails eigentlich auch weniger.

Weil du auch mal Solo-Gigs hattest?

Brezel: Ich bin regelrecht im Chaos versunken. Einmal bin ich ein Jahr zu früh zu einer Veranstaltung gekommen. Da habe ich mit einem Orchester in Kolumbien gespielt und wir haben auch noch ordentlich Druck gemacht, weil wir dort vorher proben wollten. Ich glaube, die haben dann auch noch extra die Flüge geändert und dann war das aber erst ein Jahr später (lacht). Ich habe öfter mal was verpasst oder doppelt belegt. Und jetzt läuft natürlich gar nichts mehr.

Weil Françoise leider nicht mehr da ist. Wie geht es dir überhaupt?

Brezel: Mir? Wegen Françoise? Naja, sagen wir mal so. Am meisten ärgert mich eigentlich dabei, dass sie gerne weitergelebt hätte und dass sie noch Spaß gehabt hätte. Dass es die Band jetzt nicht mehr gibt, da kann ich eigentlich nur die Schulter zucken. Ich versuche halt klarzukommen. Ich habe die Wohnung aufgegeben und bin woanders hingezogen. Alles aufgelöst und ihre Sachen geordnet und gesammelt. Ich habe ein riesiges Regal bauen lassen, wo jetzt so eine Art Françoise Cactus-Archiv enthalten ist. Mit ihren ganzen Tagebüchern, chronologisch sortiert, alles was sie geschrieben hat, riesige Bilder- und Fotosammlungen. Die ganze Kunst. Also alles ist da.

Da hat sich in den vielen Jahren sicherlich einiges angesammelt.

Brezel: Sie hat alles aufgehoben und war da auch sehr akribisch. Eines Tages wird jemand kommen und sich damit vielleicht beschäftigen. Darüber hinaus gibt es jetzt noch diese Box von uns: "Chanson Hystérique 1995-2005". Das hatten wir noch zusammen geplant und insofern ist das auch ganz schön. Das ist jetzt ein Abschluss von der Band. Es gibt zwar noch wahnsinnig viele Stücke, über die sie gesungen hat und die wir zusammen gemacht haben, aber das war jetzt auch nicht unbedingt ihr Wunsch, dass da noch neue Platten erscheinen. Das lasse ich jetzt mal alles so liegen, wie es da ist und kümmere mich ... naja, um das Grab.

Auf dem Friedhof war ich auch schon. Der ist sehr schön und da liegt sie auch in guter Gesellschaft.

Brezel: Ich habe auch einen schönen Grabstein. Den habe ich mit allen Freundinnen und Freunden zusammen ausgesucht. Der wird jetzt nach so alten französischen Grabsteinen bearbeitet. Eine Steinbildhauerin macht das jetzt mit dem Spruch von Françoise. Das hat auch die Friedhofsverwaltung genehmigt: "Hier liegt sie, so wie sie zu liegen pflegte. Nur dass sie, so lange sie lebte, den Po dazu bewegte." Ein stilisierter Kaktus wird noch darauf gemeißelt, also, es wird ein ganz hübsches Objekt. Die Farbe des Steins ist in Champagner-Rosé, was ihr glaube ich auch ganz gut gefallen hätte. Wie so ein kleines Monument. Da bin ich sehr froh. Ich habe auch noch eine riesige Sammlung VHS-Kassetten aus den 1990ern Jahren, die ich aufgehoben habe. Da habe ich noch ein paar Konzertaufnahmen und Interviews mit ihr rausgesucht. Das ist schon historisches Material. Mir ist auch aufgefallen, Syd Barrett ist da vielleicht die große Ausnahme, der ist auch zu Lebzeiten nur als Jugendlicher abgebildet worden, aber bei allen anderen, solange die leben, werden die Bilder immer aktualisiert, aber sobald sie gestorben sind, schwupp, springt das wieder zurück, als wären sie ewig jung gewesen.

Und wo lagerst du jetzt das ganze Material und ihre Sammlung?

Brezel: In unserem Proberaum. Den haben wir ja schon ewig und der ist auch groß und sehr hoch. Da habe ich dieses stabile Regal einbauen lassen und jetzt ist das auch ein bisschen wie in Las Vegas mit einem roten Samtvorhang davor.

Da hast du sicherlich auch viele Sachen entdeckt, die du vorher gar nicht kanntest.

Brezel: Ja, sehr viel. Ihre Tagebücher bin ich nicht durchgegangen, aber ich habe ein Buch gefunden, was sie sehr beeindruckt hatte. Als wir uns kennenlernten erzählte sie davon. Normalerweise habe ich auch alles gelesen, was sie mir empfohlen hat, aber das aus irgendeinem Grund nicht. Es ist ein französisches Buch: "Obsession. Enquête sur les délires amoureux" (von Jean-Luc Hennig). Eine Untersuchung über die amourösen Delirieren oder wie auch immer man das übersetzt. Das ist so Anfang der 1980er Jahre rausgekommen und enthält Interviews mit allen möglichen Leuten, die ungewöhnliche Sexpraktiken oder auch bestimmte Wünsche haben. Als ich das gelesen habe, war das wie als wäre ich in einer Zeitmaschine. Françoise hat da einige Sachen unterstrichen, nicht ganze Sätze, sondern eher Worte. Da müsste ich mal schauen, ob die Wörter irgendwo in Texten von den Lolitas oder woanders wieder auftauchen. Auf jeden Fall waren bestimmte Ausdrücke unterstrichen. Bei den Aussagen der interviewten Frauen standen einem manchmal auch die Haare zu Berge. So total extremes Zeug, wie zu Buñuel-Zeiten, was heutzutage niemand mehr von sich geben würde. Bei vielen Äußerungen im Buch habe ich Françoise aber sofort wiedererkannt. Sie war nie so extrem, aber trotzdem habe ich da bestimmte Sachen wiederentdeckt, von denen sie mir auch erzählte, aber die ich auch schon wieder vergessen hatte.

Das ist schön, wenn man solche Sachen wiederentdeckt. Diese Erinnerungen, die für immer bleiben. Aber natürlich schwankt man da auch zwischen Glücksgefühlen und dieser tiefen Trauer, dem Verlust des geliebten Menschen.

Brezel: Das ist schon schwer, sich das alles anzuschauen. Auch die ganzen Videos, mit den Interviews. Darauf ist auch eins mit Wollita ...

Wo hast du die Wollita-Puppe? Sitzt die auch im Regal?

Brezel: Die ist bei mir. Aber alles andere nicht. Ich brauche keine Erinnerungsstücke oder Bilder, um ständig daran zu denken. Deshalb habe ich nur die Puppe mitgenommen.

Du hast auf Radioeins, die Sendung von Françoise übernommen, kurz nach ihrem Tod. Das war eine wirklich schöne und herzzerreißende Sendung. Du sprichst über ihre Freunde, die bis zum Schluss an ihrer Seite waren. Jeder geht anders mit dem Tod um. Viele können damit nicht umgehen und ziehen sich zurück. Bei dir hörte sich das eher alles positiv an. Alle Freundinnen und Freunde waren bei ihr und konnten sich verabschieden, soweit Corona das zugelassen hat. Sind da alle noch mal näher zusammengerückt?

Brezel: Als sie noch da war, sind schon alle gekommen und haben nach ihr geguckt und geholfen. Sie haben Essen gekocht oder sind vorbeigekommen und haben sie zum Lachen gebracht mit irgendwelchen Sachen. Das war schön. Als sie dann gestorben ist, war das für alle der totale Zusammenbruch. Wahnsinnig viel Verzweiflung und ganz unterschiedliche Arten von Trauer. Bei ganz vielen ist es aus den unterschiedlichsten Gründen schwer gewesen. Das ist oft dann auch schwierig, die Trauer zu koordinieren, weil ich natürlich auch ganz andere Sachen betrauere. Viele wissen nicht, wohin damit. Das ist oft für Außenstehende auch kein Begriff, was das für ein Verlust ist. Ich gehe im Moment nicht viel aus, weil ich keinen Spaß daran habe, aber wenn ich jemanden treffe, dann merke ich schon noch, wie sehr es viele beschäftigt und sie immer noch nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen.

Es ist auch noch nicht lange her. Und dann kommt auch noch diese Pandemie dazu, in der man Kontakte einschränken und Abstand halten musste ...

Brezel: Das ist alles schlimm gewesen, auch, dass das noch dazu kam. Allerdings war das dann die kleinere Katastrophe.

Klar, du hattest auf jeden Fall andere Sorgen.

Brezel: Ein Freund von mir hat gesagt: "Alles klar, wir müssen jetzt sofort anfangen, die Sachen aufzuräumen". Sie hatte auch noch so eine riesige Klamottensammlung. Ein Teil ist zum Filmfundus gegangen, Freund und Freundinnen haben was bekommen. Wir haben in einem Monat diese Wohnung leergeräumt und dann bin ich für drei Monate nach Frankreich gezogen. Da war ich erstmal richtig raus und das war auch gut. Ich habe dann erstmal zwei Wochen am Stück durchgeschlafen, weil ich so wenig Schlaf hatte, in der Zeit, als sie noch lebte. Ich habe viel nachgedacht und gelesen und war dann auch viel allein. Als ich nach Berlin zurückkam, war ich in einer anderen Wohnung. Da war dann alles ganz anders. Neulich habe ich mir ein Foto angeguckt. Wir hatten Françoise ins Bett gelegt und alles schön dekoriert. Dann habe ich darauf noch mal unsere Wohnung gesehen. Die ganzen Farben und wie sie es eingerichtet hatte. Das ist jetzt auch alles verloren und ich sitze hier in einem weißen Raum. Ich hätte das nicht alles erhalten können, aber in solchen Momenten fällt mir erstmal auf, was für eine Welt untergegangen ist.

"Auf den Tod selbst hätten wir alle lieber verzichtet"

Das tut mir wirklich sehr leid. Sagt man jetzt noch herzliches Beileid?

Brezel: Ja. Ich weiß nicht, ob das noch üblich ist, aber manchmal kommen immer noch Leute und sagen das.

Da gibt es sicherlich auch keine zeitliche Regelung. In deiner Radiosendung für Françoise hast du auch erzählt, dass sich Andreas Dorau bei dir gemeldet und "Herzliches Beileid" gesagt hat und dann hinterher: "Mehr fällt mir auch nicht dazu ein." Das war mir sehr sympathisch.

Brezel: Ich fand das ganz süß. Die ganzen Telefonate. Es hat unentwegt das Telefon geklingelt. Also, auf meinem Festnetz.

Und für jemanden, der sowieso nicht so oft telefoniert. Bist du an alle ran gegangen?

Brezel: Ich habe mit allen gesprochen. Auch mit entfernten Leuten, die nur mit Françoise befreundet waren. Wo die Freundschaften schon auseinander gegangen sind, die haben sich gemeldet und wollten sich, naja, nicht aussöhnen, aber irgendwie war es denen noch mal ein Bedürfnis, mit mir über sie zu sprechen und sich zu melden. Das waren viele angenehme Gespräche. Ich hatte mir auch einen Zettel zurechtgelegt und interessante Formulierungen notiert. Manchmal hatten Leute dann auch was gesagt, womit ich nicht gerechnet habe. Unsere Steuerberaterin hatte sich auch erkundigt, wie alles passiert ist und dann hatte sie den schönen Satz, sie ist eine Alt-Berlinerin, als ich sagte: "Dann ist das auch noch passiert", meinte sie: "Immer ruff aufs blaue Auge." (lacht)

Dann gab es sicherlich auch viele Briefe. Gab es auch Reaktionen, auf die man lieber verzichtet hätte?

Brezel: Auf den Tod selbst hätten wir alle lieber verzichtet, aber der Rest war eher angenehm. Der ganze Zusammenhalt und die ganze Hilfe, die Solidarität und die Freundschaft, das war schon super. Ich war eigentlich nie allein, also, nachts schon in der Wohnung, aber es kamen immer Leute vorbei und haben geholfen. Unsere Wohnung war ja pickepacke voll. Körbeweise ungeöffnete Briefe und so.

Ich hatte euch schon mal für ein Interview zu Hause besucht. Die Wohnung war wirklich sehr voll, aber so schön bunt und gemütlich.

Brezel: Mir hat später auch jemand erzählt, dass Françoise ein schlechtes Gewissen hatte, mich damit allein zu lassen.

Ich weiß noch, dass in eurer Küche sehr viele Kochbücher standen. Ihr habt schon viel gekocht?

Brezel: Françoise war besessen. Sie ist sehr gerne ins Restaurant gegangen. Egal, wo sie gewohnt hat, sie hatte immer gerne ein Lokal in Fußnähe, das sie gerne besuchte und wo sie auch gerne immer dasselbe bestellte und auch alle schon kannte. In unserem Block gab es ein Restaurant und eine Kneipe, und da war sie fast jeden Tag. Sie musste nicht eine Straße überqueren, um dort hinzukommen. Das ist schon eine andere Lebensart. Jeden Abend in diese Kneipe zu gehen und mit allen zu reden und alle zu kennen, die da arbeiten. Dann gab es auch einen kleinen Laden, wo sie immer eingekauft hat. Sie hat sehr gerne gekocht und hatte diese riesige Kochbuch-Sammlung. Das hat ihr immer Spaß gemacht, so wie Literatur zu lesen. Sie meinte auch immer, es beruhigt ihre Nerven, sich mit Kochen zu beschäftigen. Manchmal war sie dann aber so aufgekratzt, dass sie gar keine Ruhe hatte, sich dem Kochen zu widmen. Aber eigentlich schon, ja. Sie war auch eine sehr gute Köchin.

Kochst du jetzt für dich allein?

Brezel: Was soll ich denn kochen? Ich habe keine Ahnung davon.

Hast du Françoise denn nie geholfen?

Brezel: Gar nichts habe ich gemacht. Ich habe gerne gegessen und abgewaschen. Ich habe auch mit größtem Vergnügen eingekauft, aber ich hatte immer Sorge, wenn ich unter Anleitung was umrühren sollte. Da habe ich wirklich gar kein Talent, aber glücklicherweise sind alle um mich herum sehr freundlich und laden mich zum Essen ein. Da lebe ich auch oft wie so ein Hund auf der Straße. Ich freue mich immer, wenn es was zum Essen gibt. Ist dann aber auch nicht so schlimm, wenn da mal längere Durststrecken bzw. Hungerstrecken kommen.

Ich habe mal gelesen, Fenchelgratin wäre eins ihrer Lieblingsgerichte. Das wäre auch eine schöne Idee, alle ihre Lieblingsgerichte zu sammeln und zu veröffentlichen, also würde mich zumindest interessieren.

Brezel: Immer, wenn sie gekocht hat, habe ich sie spaßeshalber gefragt: "Wie heißt denn das?" Dann hatte sie immer tolle Namen für das Gericht, die letztendlich mit Cactus endeten. Ich habe dann mal angefangen, das aufzuschreiben. Ich habe ein ganzes Heft voll mit Rezepten von ihr. Sachen, die sie sich ausgedacht oder bestehende Rezepte, die sie abgewandelt hat. Das hat sie immer sehr ausführlich beschrieben, während es aus den Kochtöpfen dampfte und man eigentlich schon großen Hunger hatte. Sie wollte auch mal ein Kochbuch machen, aber daraus ist nie was geworden.

Schade, aber da gab es sicherlich noch einige unvollendete Projekte. Du erwähntest es schon mit den Songs. Hast du da eine Zahl, wie viele Stereo Total-Stücke es eigentlich gibt?

Brezel: Das hört sich jetzt ganz aufschneiderisch an, aber der Verleger von uns hat das mal zusammengetragen. Unsere Lieder sind ja auch in unterschiedlichen Sprachen veröffentlicht worden, und dann werden die auch noch mal neu gezählt. Und dazu kommen noch die ganzen Sachen, die ich auch für Hörspiele oder Filme gemacht habe. Das waren oft an die 30 Stücke, und nur eins wurde verwendet. Auf seiner Liste ist er auf 2.000 Titel gekommen, die angemeldet sind. Aber was das jetzt alles genau ist? Wenn ich manchmal so Sachen höre, dann weiß ich gar nicht mehr, was das ist. Da habe ich keine Beziehung zu. Das habe ich vor 15 oder 20 Jahren gemacht mit ganz vielen anderen Sachen. Könnte von mir sein, aber weiß ich ehrlich gesagt nicht.

Ok, aber dein Name steht hoffentlich darunter.

Brezel: Ja, und irgendwann scheinen auch irgendwelche Gelder geflossen zu sein. Ich weiß das nicht.

Das hoffe ich.

Brezel: Wir haben ja seit 25 Jahren denselben Verlag und Management (Flirt 99 Musikverlag). Der kümmert sich da um alles. Françoise hat auch immer gerne mitgemacht. Auch einer ihrer Vorzüge, sie war sehr meinungsstark und stilsicher. Sie hat das immer gerne kundgetan, was sie darüber denkt und alle davon in Kenntnis gesetzt. Mir war das immer egal und ich habe nie verstanden um was es geht.

Die jetzige Auswahl der "Compilation Chanson Hystérique" habt ihr aber noch zusammen ausgesucht.

Brezel: Ja.

Und was genau ist da noch für eine Beilage dabei von Françoise?

Brezel: Ich hätte das doch mal mitbringen sollen. Das ist sehr hübsch geworden. Ich muss von vorne anfangen. Die wollten erst, dass da ein Heft rauskommt. Bei so Boxen ist ja immer ein Booklet über die Band drinnen. Dann meinte ich aber, über die Band Stereo Total gibt es nichts zu berichten. Da gibt es keine Skandale. Wir sind zwar überall auf der Welt unterwegs gewesen, aber das gibt nicht so viel her, dass man daraus jetzt eine Beilage gestaltet. Ich habe dann vorgeschlagen, dass wir ein Heft mit Françoises Kunst machen. Zeichnungen, Gemälde, usw. Damit war sie dann auch einverstanden. Eigentlich hat sie mit dem Malen angefangen, um die Wohnung zu dekorieren. Hunderte von Bildern hingen in der Wohnung. Als sie im Krankenhaus lag, habe ich die alle abgehängt und zum Reproduzieren gebracht. Als sie aus dem Krankenhaus kam, hing dann auch wieder alles. Irgendwann hat sie dann die Ausdrucke bekommen und konnte noch die Reihenfolge festlegen und jedem Bild einen Titel geben. Und das liegt jetzt als kleines Buch der CD bei. Das macht Spaß sich anzugucken und damit versteht man auch noch mal mehr über ihren Charakter. Sie hat eine Freundin, die ist Kunstprofessorin und sie hat sich immer sehr kritisch über ihre Art zu zeichnen geäußert. Sie würde immer auf der Stelle stehen und sich nicht weiterentwickeln. Dieser Freundin hatte ich dann auch mal diese CD-Box mitgebracht und sie war dann doch sehr beeindruckt, als sie durch das Heft blätterte.

Wie ist das denn jetzt für dich durch Kreuzberg zu gehen?

Brezel: Das war noch ganz lustig, als es Françoise schon sehr schlecht ging, hat sie mir den Schlüssel ihres Fahrrads gegeben und gesagt, sie glaubt, dass sie in nächster Zeit nicht so viel fahren würde und deshalb könnte ich das jetzt haben. Aber das habe ich dann auch erst jetzt für mich entdeckt. Ich fahre nur noch Fahrrad. Nach Schöneberg zum Friedhof, nach Charlottenburg, wo meine beiden Tanten wohnen. Aber sonst bewege ich mich nach wie vor in einem sehr kleinen Radius in Kreuzberg. Vom Proberaum und zurück, so ungefähr. Mehr nicht.

"Ein paar ältere Damen kaufen noch CDs"

Reicht doch auch, wenn da dann noch andere nette Leute wohnen. Machst du denn im Moment wieder Musik oder hast du Pläne?

Brezel: Der Rauchhaus-Geburtstag war ja, und wir haben beim 20sten, 30sten, 40sten ... immer gespielt. Jetzt war wahrscheinlich der 60ste, aber das weiß ich gar nicht mehr genau. Auf jeden Fall haben sie mich gefragt, ob ich wieder spiele. Und dann meinte ich, naja, ich habe ja keine Band. Dann habe ich aber eine Italienerin und einen Italiener wieder getroffen, die hatten früher in ihrer Schule in Rom mal ein Konzert mit Stereo Total veranstaltet. Er wohnt fest hier und sie pendelt zwischen Italien und Berlin. Ich habe die beiden dann mal eingeladen, dass wir uns so spaßeshalber im Proberaum treffen. Da haben wir an einem Tag gleich sechs Lieder gemacht. Dann hatten wir auch gleich einen Auftritt beim Rauchhaus-Geburtstag, und gestern haben wir bei einer Kundgebung auf dem Mariannenplatz gespielt. Das hat Spaß gemacht und ich hatte auch vergessen, wie das so ist mit mediterranen Leuten Musik zu machen. Das hat mich dann auch wieder an Françoise erinnert, wie wir früher waren. Anfangs haben wir nur instrumental gespielt, aber dann meinten die beiden, ne, da muss auch Gesang dazu. Dann haben sie das Mikro genommen und sofort irgendwas drüber gesungen. Gar nicht lange über den Text nachgedacht, sondern einfach drauf los. Das war einfach erfrischend. Ich wollte eigentlich meinen Namen ändern in Nebel 3000. Aber jetzt habe ich die Band einfach so genannt.

Wie kam es eigentlich zu deinem Namen Brezel?

Brezel: Da war ich Teenager. Ich hatte mir verschiedene Künstlernamen ausgedacht und die hatten immer zwei Komponenten. Eine Lächerliche und eine Erschreckende. Irgendwann bin ich dann bei Brezel Göring hängengeblieben. Außerdem dachte ich, dass ist so eine Versicherung für die Zukunft. Mit so einem Namen werde ich nie im Feuilleton landen.

Nennen dich alle Brezel?

Brezel: Da habe ich mich jetzt auch ein bisschen erschreckt. Es sind doch auch ein paar aufgetaucht, die mich immer noch Hartmut nennen.

Du hast ja mehrere Namen.

Brezel: Hartmut Richard Friedrich. Ich weiß auch nicht, was meinen Eltern da durch den Kopp gegangen ist.

Da sind wahrscheinlich die Opas mit dabei. Magst du Berlin immer noch so gerne oder hast du auch mal überlegt wegzuziehen?

Brezel: Ich habe schon das Bedürfnis, wenn ich aus West-Deutschland zurückkomme, den Boden hier zu küssen und freue mich, wieder hier zu sein. Es gibt keine Stadt, die mir so gut gefällt. Ich sehe schon, wie sich das alles verändert und wie hässlich die Veränderung auch ist, aber trotzdem gefällt mir das. Mir gefallen auch die Leute, die hier sind. Ich bin immer wieder beeindruckt.

Und es entwickelt sich ja auch immer wieder was Neues. Independent Musik ist nicht tot. Vinyl hat schließlich auch überlebt.

Brezel: Ich glaube, die ist tot. Erst kürzlich hat mir jemand erzählt, du musst mindestens ein dreiviertel Jahr warten, bis die Pressung angenommen wird und dazu gibt es noch einen Materialengpass, weil es nicht genug Granulat gibt. Also, jetzt müssen wir wirklich auf was anderes umsteigen. Ich habe eine große Schwäche für CDs. Auf der letzten Tournee habe ich den Merchandiser mal gefragt, ob überhaupt noch jemand CDs kauft. Und er sagte: "Ja, auf jedem Konzert sind immer ein paar ältere Damen und die kaufen welche." Seitdem habe ich dieses Format in meinem Herzen wieder eingeschlossen. Ich habe kürzlich auch unsere CD-Box meiner Tante geschenkt. Eigentlich verrückt, weil die sonst nur Klassik hört, aber sie hat sich jetzt durch das gesamte Stereo Total Werk geklickt und lustig war ihr Kommentar: "Also, manche Songs sind schon leicht gesprungen." (lacht) Ich mag aber auch Platten. Ich bekomme viele geschenkt und die höre ich alle gerne an.

Hörst du denn auch aktuelle Musik?

Brezel: Ja, eine aus Berlin die heißen Ponys auf Pump. Wahnsinnig gute Band, und die Platte sieht auch sehr gut aus mit einer Frau auf dem Cover, die eine Halskette aus Maden trägt. Gute Lieder und Texte. (Das Album heißt "Wirt schon wieder" und wurde bei Brezel aufgenommen. Sehr zu empfehlen: https://ponysaufpump.bandcamp.com/album/wirt-schon-wieder). Die Sängerin hatte mir dazu auch noch eine Kassette geschenkt, die sie selbst mit 4-Spur aufgenommen haben. Da ist ein Song drauf "Wie du mir, Sodomie" und das hat den schönen Refrain: "Ich liebe einen Hund, na und."

Ach, herrlich. Die kenne ich gar nicht, aber werde ich auf jeden Fall reinhören.

Brezel: Dann habe ich noch einen Film-Soundtrack geschenkt bekommen und noch eine andere Platte von einem Freund ...

Du bekommst aber viele Platten geschenkt.

brezel: Naja, ich würde auch in den Plattenladen gehen und dafür Geld ausgeben, aber das ist eben auch das Schöne, dass das dann so zu mir kommt. Ich versuche meinen Geschmack auch immer auszublenden. Ich lese eigentlich auch nur Bücher, die ich auf der Straße finde. Erst neulich habe ich was über Urzeitmenschen gelesen, dass die sehr viel gesünder waren, als wir, weil die nur hier und da mal was gegessen haben. Die haben sich halt nur auf Fleisch und ein paar Getreide- und Gemüsesorten festgelegt. So ähnlich ist es bei mir auch, dass ich mich in einer musikalischen und literarischen Nomaden-Existenz befinde und vieles konsumiere, was ich finde oder geschenkt bekomme.

Es liegen auch genügend Kisten hier rum mit Sachen zum Mitnehmen, wobei ich da immer nur Schrott sehe.

Brezel: Ich habe mehrere Freunde, die mir regelmäßig was mitbringen. Die Jacke hier ist auch von einer Freundin.

Auch aus so einer Kiste? Nicht schlecht. Hier im Karstadt gibt es auch so einen Re-Use-Store. Warst du da auch mal Stöbern?

Brezel: Ich stöbere ja nicht selbst.

Ich lasse stöbern.

Brezel: Eine Freundin hat da auch einen besonderen Blick, muss man sagen. Einmal standen wir vor so einer Kiste und warteten, weil noch eine andere Frau da reingeschaut hat, aber wohl nichts Passendes fand. Dann greift die Freundin in diese Kiste und hat zwei Teile in der Hand. Hält diese an sich und die sahen auch gleich umwerfend aus. Da war die andere Dame ziemlich angepisst, weil sie nicht fündig wurde.

Das ist der Neid.

Brezel: Das ist auch sowas, womit Françoise zum Beispiel zu kämpfen hatte. Sie ist auf die Bühne, stand im Mittelpunkt und hat sich noch nicht mal Mühe gegeben, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Alle haben sie angehört, ohne dass sie große Anstrengungen unternehmen musste. Andere Leute setzen Himmel und Hölle in Bewegung, nur um da hinzukommen, wo sie stand. Das ist das mit diesen besonderen Talenten und Fähigkeiten, die jemand hat. Ich bin dann immer froh, wenn ich das erkenne und mich bei so jemanden in der Nähe aufhalten kann.

Das ist auf jeden Fall eine Bereicherung, nicht nur im materiellen Sinne.

Brezel: Mit Françoise war es ja auch, dass wir uns dadurch ergänzt haben. Ich habe dann auch Sachen gemacht, die sie nicht gerne gemacht hat oder dass ich auch gerne die zweite Violine gespielt habe und eher im Hintergrund stand. Das hat mir auch großen Spaß gemacht.

Das ist doch perfekte Harmonie und so sollte es sein.

Brezel: Bei eBay oder im Internet kann man ja auch alles kaufen, aber da hat Françoise immer gesagt, das würde sie nicht interessieren. Sie geht lieber auf den Flohmarkt und würde gerne das Letzte haben, was sie selbst finden kann, aber nicht das Beste, was sie kaufen kann. Es ging ihr schon darum, es selbst zu finden, und dabei ist sie zu ganz erstaunlichen Ergebnissen gekommen. Es geht nicht darum, etwas Neues zu besitzen, sondern ich setze mich mit der bestehenden Welt auseinander. Sie konnte blitzschnell immer Sachen analysieren und einen gesellschaftlichen Bezug dazu koordinieren.

Ich kannte sie nicht persönlich, aber deine Beschreibungen passen genau in mein Bild von ihr. Solche Persönlichkeiten gibt es auch leider nur selten. Sie hatte ihre eigene Meinung und ließ davon auch nicht ab, aber es war nie herablassend oder unangenehm.

Brezel: Das ist deshalb ja auch, wie ich eben schon erwähnte, dass ich mich immer wieder gerne an ihrem Ofen aufwärmen komme, wenn ich jemanden entdecke, der ähnliche Fähigkeiten hat. Das ist schon gut für mich, so jemanden an meiner Seite zu haben.

Und natürlich braucht es dann aber auch jemanden, der das alles zulässt und diesen Freiraum auch gibt.

Brezel: Das ist meine Sorge, dass ich in manchen Sachen zu viel Zensur geübt habe und dass ich manchmal denke, dass sie in ihrer Musik freier gewesen wäre und dass ich sogar manchmal Sachen gebremst oder in eine bestimmte Richtung gelenkt habe. Ich weiß es nicht, aber das sind so Gedanken, die man dann jetzt hat. Mit dieser Band, mit der ich im Moment spiele, Nebel 3000, die sind manchmal so schlecht, auch wie wir gestern gespielt haben. Alle drei sind wir dann an unterschiedlichen Stellen des Liedes angekommen und dann dachte ich so: Oh man, ich habe Françoise immer so gescheucht, dass wir wenigstens halbwegs gut spielen, und jetzt stehe ich hier und lasse sowas durchgehen.

Ich stelle mir das eh schwierig vor, jetzt mit anderen Personen Musik zu machen, ohne das mit Stereo Total zu vergleichen. Generell, als auch Françoise noch da war, oder? Man ist doch seit Jahren so ein eingespieltes Team.

Brezel: Wir hatten immer so ganz bestimmte Lieder, die wir immer wieder gespielt haben, wie "Miau Miau" oder "Musique Automatique". Bei jedem Konzert, das war wie so ein Räderwerk. Das war einfach zu spielen und die Leute haben sofort reagiert. Das war schon immer sehr angenehm. Ich kann aber nicht mehr zurückdenken. Das ist jetzt so, wie es ist und jetzt muss ich irgendwie weitermachen.

Das ist auch gut und so muss man ja auch denken.

Brezel: Das sind schon nette Leute und es sind immer ganz neue Sachen, die entstehen. Als Françoise schon sehr krank war und die Diagnose bekommen hat, hat sie mir gesagt, dass sie ganz viel neue Musik aufnehmen will. Als sie im Krankenhaus war, habe ich dann in Windeseile Songs aufgenommen. Das hat sie sich auch angehört und über ein paar Sachen gesungen, aber dann das Interesse verloren. Das blieb dann alles so liegen. Aber dann habe ich selbst immer weiter aufgenommen. Ich bin dann nur kurz mal in den Proberaum um fünf Minuten was aufzunehmen und dann schnell wieder zurück. Da war sie schon schwer krank. Als ich dann in Frankreich war, hatte ich das ganze Auto voll von Instrumenten und habe dort weiter aufgenommen. Irgendwann hatte ich dann ganz viele Stücke, wo ich selbst auch die Texte geschrieben habe. Die habe ich dann unserem Manager vorgespielt und er dann so: "Diese Musik darf nie jemand zu hören bekommen." (lacht)

Das ist aber nicht nett.

Brezel: Das war so grässlich, weil es sich auch gar nicht nach Stereo Total angehört hat. Ich habe auch nie daran gedacht, das zu veröffentlichen, sondern das war eher meine eigene Therapie.

Hattest du davon nicht auch was in der Radiosendung gespielt? Das war herzzerreißend, z.B. "Sanfter Wahn".

Brezel: Ja. Und jetzt hat der Manager sich noch ein paar weitere Songs ausgesucht und die sollen dann wohl doch veröffentlich werden.

Also, doch nicht so grässlich.

Brezel: Ich denke, die erste Reaktion von ihm war eher, weil es so entsetzlich für ihn war. Der Tod von Françoise hat ihn einfach sehr getroffen. Das hat ihn textlich wahrscheinlich sehr berührt.

Da sieht man aber auch wieder, dass Musik die beste Therapie ist.

Brezel: Die beste. Manchmal hat mir auch geholfen, wenn ich nur fünf Minuten am Schlagzeug spielte.

Hast du denn schon vor Françoise jemanden verloren? Man kann das zwar nie vergleichen, aber schon mal einen Verlust erlebt?

Brezel: Vor vier Jahren ist etwas überraschend meine Mutter verstorben. Mein Vater hat immer noch versucht den Hut hochzuhalten und was zu machen, aber ist nach 1 ½ Jahren auch sehr krank geworden. Das waren so die zwei größten Verluste, die ich ganz nah miterlebt habe. Ich hatte mit meinem Vater damals auch viele Gespräche über meine Mutter geführt, und dann denkt man ja, man weiß, was da auf einen zukommt. Aber als Françoise dann gestorben ist, wusste ich gar nichts. Man kann sich nicht darauf vorbereiten.

Nein, leider nicht. Brezel, ich danke dir für das offene Gespräch und dass du die vielen Erinnerungen an Françoise mit uns geteilt hast.

Brezel: Ich danke dir. Das war sehr angenehm, auch hier oben sich auf dieser Dachterrasse zu unterhalten.

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