laut.de-Kritik
Was reimt sich auf Amour? Du mich auch!
Review von Jasmin LützStereo Total erinnern mit einem prallgefüllten Boxset an die ersten gemeinsamen zehn Jahre ihres Schaffens. Es ist die letzte Veröffentlichung, an der Françoise Cactus noch persönlich mitgewirkt hat. Die Sängerin starb Anfang des Jahres viel zu früh an den Folgen einer Krebserkrankung. Ein herber Verlust nicht nur für Freunde, Familie, den musikalischen Ehe-Partner Brezel Göring, sondern auch für die Musik- und Kunstlandschaft.
Françoise hatte noch viele Pläne, wie Brezel in einem kürzlich geführten Interview besonders betont: "Am meisten ärgert mich eigentlich, dass sie gerne weitergelebt hätte und dass sie noch Spaß gehabt hätte. Dass es die Band jetzt nicht mehr gibt, da kann ich eigentlich nur mit den Schultern zucken".
Cactus hinterlässt nicht nur viele unveröffentlichte Songs, Texte, Bilder, Rezepte und die berühmte Wollita, sondern auch eine große Lücke im Underground-Herz. Ihr wunderbarer französischer Akzent wird fehlen, aber für immer in den Ohren kleben bleiben. Ihre charmante, offene Art bereicherte nicht nur die Fans vor der Bühne, sondern auch alle hinter den Kulissen. "Chanson Hystérique" erinnert mit insgesamt sieben Platten an die monströse Palette der Stereo Total Hits-Tanz-Rumpel-Disko.
Zwischen 1995 und 2005 entstanden die Platten "Oh Ah", "Monokini", "Juke-Box Alarm", "My Melodie", "Musique Automatique", "Do The Bambi" und "Carte Postale And Other Rarities". Darauf finden sich jede Menge Hits und Meilensteine: "Wir Tanzen Im Viereck", "Liebe Zu Dritt", "Schön Von Hinten", "Miau Miau", um nur einige zu nennen.
Überdrehte Sounds und Beats, quietschfidele gute Laune und melancholische Gelassenheit. Da wird auch gerne mal gemotzt, aber immer trés charmant. Inspiriert und fasziniert von Jacques Dutronc schwelgen Stereo Total zwischen Melancholie, Hysterie und viel Liebe und spielen auch nur das, was sie selbst gerne hören würden. Brezel stellt das musikalische Punkrock-Pop-Gerüst im eigenen Studio zusammen, Françoise gibt dem Song den letzten Pfiff mit lockerem Schlagzeugspiel und ihrer Stimme. Letzteres mal in ihrer Muttersprache, mal auf Deutsch mit deutlichem Akzent.
Stereo Totals Songs sind weltweit bekannt und tauchen immer wieder in Filmen oder Serien auf,m zuletzt etwa entdeckt in der Serie "Emily In Paris". Bereits in der ersten Folge fällt sofort die sehr vertraute und harmonische Stimme auf, dieser französische Charme: "Lunatique" und "Touche-Moi". Und ein paar Tränen kullern die Wangen herunter.
Intimitäten und offene Worte kennen bei Stereo Total keine Grenzen: Was Sie schon immer über Sex wissen wollten? Bitte fragen Sie nicht Ihren Apotheker oder den verklemmten Woody Allen, sondern hören Sie sich durch diese zwanglose Compilation voller ominös obszöner Anekdoten und schrillen Höhepunkte. Vom Elektro-dynamischen "C'est La Mort" bis zum fiepsenden "Megaflittchen" wird alles entblättert und der Mut zum Dilettantismus professionell zelebriert.
Was reimt sich auf Amour? Du mich auch. Oder so ähnlich. Liebe Françoise, lieber Brezel, merci und au revoir. Es war ein großes Vergnügen, und am Ende darf man sagen: 'La musique guérit toutes les blessures'.
1 Kommentar
Extrem gelungener Text von Frau Lütz wieder, der mit dem vorliegenden musikalischen Nachlass im Gehör ein Stück weit das gigantische Loch auszumessen vermag, welches Fr. Cactus durch ihren Tod anfang des Jahres in der Indieszene hinterließ. Danke dafür!