laut.de-Kritik
Zorn & Sarkasmus treffen auf Poesie und sensible Zärtlickeit.
Review von Ulf KubankeLust auf eine herausragende deutschsprachige Platte? Kein Problem! Vier Jahre nach dem ebenfalls wundervollen "Mondpunk" machen Strom & Wasser den Sack richtig zu. Ihr neues Album "Anticool" bietet sinnliche Musik zu perfekten Lyrics. Für mich schon jetzt mit weitem Abstand die beste deutsche Scheibe des gesamten Jahres. Egal, was noch kommen mag.
Gern sortiert man Heinz Ratz und sein virtuoses Quartett in die Sparte des Liedermachers ein. Diese Schublade ist spätestens mit "Anticool" Geschichte. Jeder Song ist für sich genommen schon instrumental ein echtes Hörereignis. Egal ob Rock-, Pop-, Klassik-, Punk-, Jazz- oder Ska-Anleihen: Alles verschmilzt zum perfekt eigenständigen Strom & Wasser-Klangkosmos. Ganz egal ob man auf den Schinkengott of Liedermaching, Konstantin Wecker steht, auf Element Of Crime, Rammstein oder Jan Delay. Hier dürfte jeder ein paar angenehme Überraschungen erleben.
Ratz' Texte sind einen Kniefall wert. Kein unausgegorener Protest-Salat, sondern ebenso leidenschaftliche wie empathische Analyse übler Politik, oberflächlicher Gesellschaft und eine brennende Fackel für die Liebe in all ihren Facetten. Zorn & Sarkasmus treffen auf Poesie und sensible Zärtlickeit. Hier geflüstert, dort gebrüllt. Dabei gibt er immer das animalische Bühnenmonster mit nicht erlernbarem Charisma. Geile Schnidde, geiler Hecht!
Der oberflächliche Materialismus unserer endzeitkapitalistischen Tage erhält im Titeltrack die verdiente Verachtung "Samt und Seide, Schlangenleder. Ja, ich weiß, das hat nicht jeder. Wenn das so ist - geiler Stuhl! - bleib ich lieber anticool." Ähnlich kompromisslos wie Hans Söllner hauen die Nordlichter Satz für Satz einen Klopper nach dem anderen raus. "Es ist schwer genug auch ohne so ne frisch frisierte Bohne. So nen durchgestylten Affen; ohne euch könnte mans schaffen"
Ähnlich gut auch ihr Anti-Nestle-Song "W.A.S.S.E.R.", der neben ironisierenden Goth-Metal-Zitaten auch die Geheimwaffe der Band - ihr Klavier - unterstreicht. Pianist Enno Dugnus haut nicht nur hier ein Kunststück nach dem anderen heraus. Egal ob als zurückhaltende Begleitung oder Duellant mit Ratz Gesang. Immer inspiriert und pointiert. Sehr schön auch im Dialog mit den teils sehr funky angelegten 70ies Flöten ("Cafégespräche").
Auch die romantische Seite für die Freunde von Tom Waits oder den Tindersticks ist als Kontrastmittel zu den derberen Nummern auf einem neuen Zenit angelangt. "Aus Mondperspektive", "Philosophischer Irrtum", "In jedem Gesicht" oder "Glück" zeigen Heinz Ratz als perfekten musikalischen Begleiter für Rotwein getränkte Mondnächte. Glück ist auch, wenn nach langem Touren die Kilometer schwinden zwischen uns. Und hinterm Ticken kalter Uhren ein Lächeln wartet; deines schönen Munds."
So löst eine Superlative die andere ab. "Anticool" ist eine dieser seltenen Platten, über deren Lieder man ganze Bücher schreiben müsste, um jede Nuance zu benennen. Mein ganz persönlicher Lieblingstrack ist hingegen das fabelhafte "Innere Dämonen". Totale Eleganz in kruder Kombination: Mit schickem Beat, wavigem Gary Numan-Keyboard und rebellischem Saxofon geben sich Ratz' Dämonen als Yin & Yang in seiner Seele aus. "So seid ihr das Harte und Kalte in mir. Grad wenn ich zärtlich und lieb bin zu ihr. So sind wir das Edle und Stille in dir, just wenn du tobst und schreist wie ein Tier."
Klingt das Album dann aus, ist eines gewiss: Man muss die fünf Verrückten einfach direkt ins Herz lassen oder man hat keines. So muss Kunst sein!
3 Kommentare mit 7 Antworten
Kann man stehen lassen. Gut getroffen, Herr Anwalt.
Wobei es mich insgeheim gewundert hat, daß Du nicht auf den "Wunschliedfabrikanten" eingegangen bist - ich dachte, das Dingens dürfte Dir gefallen.
Gruß
Skywise
da ist was dran, sky. gut erkannt. aber wenn man über jedes lied schriebe, würde der text ja viel zu lang....und hier könnte man zu jedem track doch 5 seiten schreiben. schönes luxusproblem bei der platte
Der gute Mann hat ja auch den Luxus gehabt, aus Material auszuwählen, das sich über drei Jahre gesammelt hat, die er mit den Refugees verbracht hat, die größtenteils ihr eigenes Material auf den beiden erschienenen Scheiben bzw. auf der Bühne umsetzen sollten; das macht 'ne Menge aus. Im Vergleich zu früheren Werken fällt "Anticool" sehr viel harmonischer und eingängiger aus, ohne Ausreißer nach unten oder oben.
Vielleicht schaff' ich's am Sonntag auf ein Konzert von denen und höre mir die Lieder live an. Eigentlich verwunderlich, daß sie immer noch in derselben Studentenkneipe Auftritte absolvieren, in denen ich sie vor elf Jahren zum ersten Mal gesehen habe, aber - mir soll's Recht sein.
Gruß
Skywise
Immer wenn ich denke, dass die deutschsprachige Musik jetzt kreativ so langsam wirklich am Ende sein muss, greift so ein unverschämter Anwalt in seinen Zylinder und dreht mir lässig schmunzelnd eine lange Nase während ich das Kaninchen mit großen Augen bestaune. Hmpf.
ich hab genau so gestaunt, wie du, als ich die das erste mal hörte. ...für solche kunst nen text zu schreiben ist das größte. dafür hab ich dann gern die kanzlei dicht gemacht
Klingt interessant, Tab ist mal gespeichert.
"Ja, in jedem Gesicht ist ein
schönes Gesicht/nur kann man's nicht immer
erkennen/denn das Leben ist zwar aus Liebe
und Licht/doch es kann auch verblüh'n und
verbrennen." Autsch, prätentiös bis hintengegen...
Prätentiös vielleicht als geschriebenes Wort. Bei Musik kommt es aber mehr auf die Performance an, und hier klingt es überhaupt nicht so.
Ich finde es musikalisch gelungen. Immerhin hat der große Benny Greb mal mit denen gespielt, das allein bürgt schon für Qualität. Aber die Texte...naja. Ich bleib dabei.
Weil die Texte deutsch sind, misst Du sie vielleicht auch an deutschen Kriterien. In deutschsprachiger Musik war seit 60 Jahren der Text wichtiger als die Musik, also werden auch die Texte wichtiger bewertet als die Musik oder die Kombination aus beidem.
Bei Strom & Wasser ist es die Kombination aus beiden. Da Ulf schon Tom Waits erwähnte, passt auch der Vergleich hier ganz gut. Waits ist in manchen Texten auch urkitschig oder "prätentiös", aber seine Performance bringt den Schmalz auf eine ganz andere Ebene. Bei Ratz verhält es sich so ähnlich.