laut.de-Biographie
The Gossip
Arkansas, Spielwiese von Johnny Cash und Bill Clinton. Ausgerechnet in der Heimat eines berühmten Country-Sängers und eines Hobby-Saxophonisten braut sich 1999 ein queeres Rock-Gewitter zusammen, als die nach Schul- und Kirchenchören mit einem mächtigem Stimmvolumen ausgestattete Beth Ditto (Jahrgang 1981) im nördlich gelegenen Searcy County auf Drummerin Kathy Mendonca und Gitarrist Nathan Howdeshell alias Brace Paine trifft. Zusammen mit Kathy entdeckt Beth früh ihr Interesse für feministische Theorien, was sie später folgendermaßen rekapituliert: "Ich hatte wirklich nur eine vage Vorstellung des Begriffs Feminismus. Ich wusste allerdings, dass ich bestimmt keine Kleider tragen oder die Flöte spielen würde."
Außerdem war sie sich sicher, dass die Trantütigkeit ihrer Dorf-Umgebung wenig zur Entwicklung ihrer Persönlichkeit beitragen würde. Das geht doch eher in der Großstadt, wo es bestenfalls sogar eine Homosexuellen-Szene gibt. Gesagt, getan: Mit ersten Demos im Gepäck zieht es das Trio nach Olympia/Washington, wo nicht nur Feminismus-Queen Kathleen Hanna musiziert, sondern auch das renommierte K Records-Label (Beck, Dub Narcotic Sound System, Make Up, Kimya Dawson) mit einem Deal winkt.
Nach einer Single (1999) und dem Debütalbum "That's Not What I Heard" (2000) wächst der explosive, bluesige Garage Punkrock-Sound mit Dittos charakteristischer Powerröhre bald über die engen Proberaum-Mauern hinaus. Minimalismus is King: Kathy verzichtet auf ein Hi-Hat, Nathans Gitarre hat vier Saiten und Beth entledigt sich on stage gerne ihrer Klamotten. Auf Konzertreisen, u.a. mit Sleater-Kinney, den White Stripes und The Kills, erspielt sich die Truppe denn auch eine wachsende Fangemeinde.
Bis heute besteht die Band auf einem gültigen Existenz-Leitspruch, der auch fett auf ihrer Homepage prangt: "Wir gründeten damals eine Band, weil uns langweilig war. Wir haben die Mission, euch auf die Tanzfläche zu treiben und wenn ihr das nicht tut, bleibt gefälligst zu Hause, macht das Radio an und hört Oldies." Unter dem Begriff Dance ist laut Howdeshell sowieso einiges zu subsumieren, wie er gegenüber einem Chicagoer Online-Mag ausführt: "Man sollte das Wort nicht allzu politisch nehmen. Du kannst zu Justin Timberlake und Missy Elliot genauso tanzen wie zu The Gossip. Man tanzt, wenn man es fühlt." Neben den teilweise expliziten Texten des an Pussy Galore gemahnenden Noise-Rock sorgt auch das Band-Engagement gegen eine Wiederwahl von Präsident George W. Bush und Dittos Aussage, homosexuell zu sein, schnell für einigen Wirbel in amerikanischen Musikkreisen. Zwischendruch erscheint 2003 das zweite Gossip-Album "Movement" und kurz darauf eine Liveplatte auf Howdeshells Label Fast Weapons Records.
Bevor mit "Standing In The Way Of Control" im Jahr 2006 der dritte Longplayer erscheint, in Deutschland als Debüt beim Lado-Label, tut sich einiges bei dem Rock-Dreier. Drummerin Mendonca sagt dem Rock-Lotterleben Servus, um sich dem Nachwuchs zu widmen: als Hebamme. Für sie stößt die aus Hawaii stammende Hannah Blilie (Ex-Chromatics, Shoplifting) zur Band, die ihre Vorgängerin in Sachen Technik laut Ditto etwas übertrifft.
Mit Ex-Fugazi-Gitarrist Guy Picciotto als Produzent und Kim Gordon als Ratgeberin des Cover-Artworks überließ man nichts dem Zufall. Mehr noch: Für die Aufnahmen reiste man vom neuen Zuhause Portland extra nach Seattle in dasselbe Studio, in dem Schnulzier Lionel Richie einst seinen Evergreen "Dancing On The Ceiling" aufnahm. Die Definition von Dance scheint bei The Gossip also tatsächlich weit ausgeprägt zu sein.
Während sich das Trio auf ausgedehnter Welttournee befindet, meldet zunächst ihr deutsches Label Lado Konkurs an, dann entdecken verzückte DJs (Soulwax, Headman) das mächtig funkige Ausgangsmaterial und nehmen "Standing In The Way Of Control" und "Listen Up" in die Remix-Mangel. Kurz darauf tanzen tausende Menschen zur US-Dance Explosion, die vorher noch nie etwas von Gossip (nun ohne "The") gehört haben. Der NME nennt Ditto die neue "Queen Of Cool" und nimmt sie nackt (allerdings von der Seite) aufs Cover.
Mitte August 2007 erscheint das dritte Album aufgrund der großen Nachfrage in einer Neuauflage auf dem SonyBMG-Ableger Red Ink, das mit Goose und The Sunshine Underground schon das ein oder andere Mal für Tanzbodeneruptionen sorgte. Mit dabei als Bonustracks die Songs "Standing In The Way Of Control" und "Listen Up" im Remixgewand. Im Rausch des Erfolgs spielen Gossip nicht nur auf dem englischen Glastonbury Festival (wo sie John Peel gedenken), sondern kommen auch noch einmal für Konzerte nach Deutschland.
Derweil ist auch das Mutterland der Band auf den Geschmack gekommen. Der frisch vom Majorlabel Columbia Records als Trendscout verpflichtete Star-Produzent Rick Rubin bestimmt, dass Gossip gefälligst groß rauskommen sollen. Da der Maestro das Trio vor allem als Liveband sieht, schlägt er als erste Veröffentlichung für Columbia ein Livealbum vor - ein ungewöhnlicher Schritt. Da man Rubin aber extra für ungewöhnliche Entscheidungen, die sich irgendwann auszahlen sollen, verpflichtet hat, sind die Worte des Bärtigen schnell in Stein gemeißelt. "Gossip - Live In Liverpool" bringt den Amerikanern Mitte 2008 die vermeintlich aufregendste Band des Augenblicks näher.
Das Paket beinhaltet sowohl eine DVD als auch eine Audio-CD des Konzerts vom 9. Juli 2007 in Liverpool inklusive Coverversionen von Wham!s "Careless Whisper" und Aaliyahs "Are You That Somebody?" Den Konzertfilm drehte Lance Bangs (Sonic Youth, Green Day, Kanye West). Für den Durchbruch sorgen aber erst die folgenden Studioalben "Music For Men" und "A Joyful Noise", auf denen sich die Band der elektronischen Musik öffnet und mit "Heavy Cross", "Pop Goes The World" und "Move In The Right Direction" veritable Hits abliefert.
Die Arbeit mit Rick Rubin soll an dieser stilistischen Veränderung allerdings nicht Schuld sein, wie Beth Ditto 2009 im laut.de-Interview betont: "Er hat uns nie zu etwas gedrängt, aber wir haben viel verändert. Er hat eher ein paar Sachen vorgeschlagen. Der Gesang ist zum Beispiel fast identisch mit unseren Demos." Das Album wird zum Verkaufshit und setzt weltweit 1,5 Millionen Exemplare ab.
"A Joyful Noise" ensteht danach in Zusammenarbeit mit Pop-Spezialist Brian Higgins, dessen Visitenkarte Namen wie Pet Shop Boys, Sugababes und Girls Aloud zieren. Berührungsängste kennen Gossip längst nicht mehr. Dennoch geht die Platte als vorerst letztes Gossip-Album in die Geschichte ein. Nach der Tournee bleibt es lange ruhig um das Trio.
Dann veröffentlicht Beth Ditto ihre Memoiren unter dem Titel "Coal To Diamonds", gründet eine Modelinie und heiratet 2013 ihre langjährige Freundin Kristin Ogata. In einem Interview mit Pitchfork verrät sie 2016 eher nebenbei, dass Gossip kein weiteres Album mehr aufnähmen, da man sich getrennt habe. Stattdessen beginnt 2017 Dittos Solokarriere mit dem Debütalbum "Fake Sugar".
Zwei Jahre später (und gerade rechtzeitig vor Corona) hat man sich aber doch wieder lieb, denn alle drei Gossips erinnern sich an den 10. Jahrestags ihres Erfolgsalbums "Music For Men" und befinden, dies sei ein guter Anlass, um wieder gemeinsam in Europa auf Tournee zu gehen. Deutsche Fans kommen mit einem Konzert in Berlin auf ihre Kosten.
Danach beschließt die Band hinter verschlossenen Studiotüren, nochmal einen neuen Anlauf zu wagen. Gemeinsam mit Rubin entsteht das sechste Studioalbum "Real Power", das im März 2024 erscheint. Als Vorbote fungiert das eingängige "Crazy Again". Das dazugehörige Video erinnert auch die nachgewachsene Generation daran, dass die Band aus Arkansas schon in den Nullerjahren das Thema Body Positivity maßgeblich in den Fokus ihres Schaffens rückte und für LGBTQIA+-Rechte kämpfte. "Als wir begannen, ging es bei Gossip viel darum, wegzulaufen - das war immer Teil der Musik. Wir haben überlebt. Wir kamen aus dem Nichts, und wir haben uns da rausgeholt. Und jetzt, 20 Jahre später, immer noch gemeinsam Musik zu machen, ist einfach unglaublich", freut sich Ditto über das Comeback.
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