laut.de-Kritik
100 Stücke zeugen von einem ereignisreichen Leben.
Review von Giuliano BenassiWillie Nelson hat seine Martin-Akustikgitarre so oft gespielt, dass unterhalb der hohen E-Seite ein großes Loch klafft. Der Klangkörper ist mit Schrammen und den Autogrammen von vielen Weggefährten bedeckt.
Das Instrument mit dem Kosenamen "Trigger" erzählt eine lange Geschichte von zahllosen Auftritten und fast ebenso vielen Platten, von Freuden und Leiden, von Lebenden und Toten. Vor allem aber von einer musikalischen Leidenschaft, die Nelson seit seiner Kindheit prägt.
Pünktlich zu seinem 75. Geburtstag am 30. April 2008 erscheint diese üppige Retrospektive mit hundert Liedern auf vier CDs. Die Zusammenstellung berücksichtigt nicht nur die berühmten Stücke, sondern auch kaum bekanntes Material.
Am wertvollsten in dieser Hinsicht ist der Beginn von CD 1. Nelson war 21, als er sich 1954 ein Tonband im kleinen texanischen Radiosender schnappte, für den er als DJ arbeitete, und die Eigenkomposition "When I've Sang My Last Hillbillie Blues" einspielte. Die Tonqualität ist nicht überragend, aber das kann man auch nicht verlangen.
Mit seiner damaligen Frau zieht Nelson anschließend nach Portland, Oregon, wo er sich als Hillbillie-DJ lokal einen Namen macht. Das 1957 entstandene "No Place For Me" zeigt, dass er sich zu diesem Zeitpunkt noch stark an Hank Williams orientiert. Die selbst aufgenommene Single verkauft sich 3000 Mal und ermutigt den jungen Musiker, nach Nashville umzusiedeln.
In der Garküche des Country fährt Nelson in den sechziger Jahren doppelgleisig. Als Songwriter feiert er große Erfolge, zum ersten Mal 1961 mit "Crazy" in der Version von Patsy Cline.
Wie einfach er hochwertige Kompositionen aus dem Ärmel schüttelt, beweist "Hello Walls", das er zu Papier bringt, während sein Mentor Hank Cochran telefoniert. Wie "Funny How Time Slips Away", das später zu Elvis' Repertoire gehört, wird es zu einem Hit – allerdings in der Interpretation Faron Youngs.
Nelson selbst ist der Erfolg unter eigenem Namen nicht vergönnt. Zwar erhält er 1964 einen Plattenvertrag beim Major RCA, doch seine Alben erhalten im gesamten Jahrzehnt außerhalb von Texas wenig Aufmerksamkeit, obwohl er regelmäßig in der legendären Radioshow Grand Ol' Opry auftritt.
Dabei bedient er sich des ganzen Spektrums des Country, mit Balladen ("Good Times", "You Ought To Hear Me Cry", "It Should Be Easier Now", "You Left A Long, Long Time Ago"), religiösen Stücken ("Kneel At The Feet Of Jesus", "Family Bible"), Honky Tonk-Krachern ("I Gotta Get Drunk") und persönlichen Erfahrungen ("Me And Paul"). Die Livekonzerte mit seiner Family arten regelmäßig zu mehrstündigen Sessions aus.
Äußerlich unterscheidet sich Nelson mit Anzug, gepflegtem Haar und Bauchansatz kaum von seinen Kollegen. Sein Grundstück in der Nähe von Nashville verwandelt sich jedoch bald in eine Art Kommune, in der Familienmitglieder, Musiker und Gäste zwanglos miteinander leben. Als das Haus 1970 abbrennt, zieht die Truppe nach Texas in die Nähe von Austin. Weit entfernt von der Hitmaschine Nashville beginnt hier die zweite Phase in Nelsons Karriere.
Haare und Bart werden immer länger. Mit dem unangepassten Waylon Jennings beginnt eine fruchtbare Zusammenarbeit. Gemeinsam prägen sie das Bild des Cosmic Cowboy, eine Art Mischung aus Hippietum und Südstaatentradition, die sie in Form von Saufliedern und Mörderballaden hochleben lassen.
Dazu gehören "Good Hearted Woman", "Mamas Don't Let Your Babys Grow Up To Be Cowboys" oder "I Can Get Off On You". 1973 bestreiten sie gemeinsam Nelsons ersten 4th of July-Picnic, der seitdem jährlich stattfindet und sich zu einer Legende entwickelt hat.
Das sarkastische wie bittere "Sad Songs And Walzes" beweist im selben Jahr jedoch, dass Nelson dem Erfolg nach wie vor hinterher rennt. Der Durchbruch kommt erst 1976 mit seinem ersten Album für Columbia, "Red Headed Stranger". Diesmal lässt er die rockigen Elemente heraus und nimmt nur einen kleinen Teil seiner Band mit ins Studio.
Die Ballade "Blue Eyes Crying In The Rain" schießt auf Platz eins der Country-Charts, gefolgt von der Platte. Sein altes Label RCA stellt eine Compilation mit dem Titel "Wanted! The Outlaws" zusammen, die sich als erstes Country-Album überhaupt mehr als eine Million Mal verkauft.
Anstatt sich auf dem Erfolg auszuruhen, überrascht Nelson 1978 durch eine Zusammenarbeit mit dem Soul-Sänger Booker T. Jones. Das Ergebnis, "Stardust", hält sich über zwei Jahre in den US-Top 200 und fast zehn Jahre in den Country-Charts. Die darin enthaltenen "Georgia On My Mind" und "City Of New Orleans" gehören nach wie vor zu seinen bekanntesten Stücken.
Es ist die erfolgreichste Phase in Nelsons Karriere. Neben Robert Redford tritt er im Kinostreifen "Electric Horseman" auf, zu dem er auch den Soundtrack beisteuert. Im Privatjet des Hollywood-Produzenten Sydney Pollack schreibt er 1980 für dessen Film "Honeysuckle Rose" sein wohl bekanntestes Stück, "On The Road Again". Mit einer Mischung aus eigenen und fremden Liedern bringt er wie am Fließband neue Alben auf den Markt, die sich millionenfach verkaufen.
Dabei setzt er nicht nur auf den gewohnten Country, sondern probiert sich auch an anderen Genres, etwa durch Zusammenarbeiten mit dem Schnulzensänger Julio Iglesias ("To All The Girls I've Loved Before") oder Ray Charles ("Seven Spanish Angels"). Eher konventionell klingen dagegen die Konzerte und Platten mit Johnny Cash, Kris Kristofferson und Waylon Jennings, die sich von Mitte der 80er bis Anfang der 90er zusammen tun und mit "Highwayman" ihren größten Hit feiern.
Wenn er nicht auf Tour ist, begibt sich Nelson in sein Studio in Austin und nimmt Stück nach Stück auf. Ganze Alben entstehen in wenigen Stunden, was für die Qualität nicht unbedingt förderlich ist.
1990 fordert die Steuerbehörde 10 Millionen Dollar nach, was Nelson vorübergehend aus der Bahn wirft. Die Einnahmen des Albums "Who'll Buy My Memories: The IRS Tapes", hier vertreten durch "Country Willie", dienen einzig dem Schuldenabbau.
Doch wandelt Nelson weiterhin auf neuen Wegen, etwa mit Paul Simons "Graceland" oder Louis Armstrongs "What A Wonderful World". Mit U2-Stammproduzent Daniel Lanois entsteht 1998 die Platte "Teatro" ("My Own Peculiar Way"). 2005 nimmt der bekennende Kiffer mit "Countryman" sogar ein Reggae-Album samt Hanfblatt auf dem Cover auf (Jimmy Cliffs "The Harder They Come").
Zu gelungenen Stücken wie der Ballade "Valentine" und dem jazzigen Instrumental "Nuages" mischen ab der Mitte der neunziger Jahre aber auch kaum anhörbare wie "Living In The Promiseland", "Still Is Still Moving To Me" oder "Mendocino County Line". Da scheint es schon fast bedrohlich, dass Tausende Aufnahmen im Keller seines Studios schlummern.
Dennoch bleibt Willie Nelson einer der Größten in seinem Metier. Nicht nur wegen seines Erfolgs, sondern auch wegen seines Mutes, immer wieder etwas Neues auszuprobieren.
Und wegen seines Sinns für Humor: "I gotta get drunk, and I sure do dread it cause I know just what I'm gonna do: I'll start to spend my money calling everybody honey and wind up singing the blues. I'll spend my whole paycheck on some old wreck, brother I can name you a few. Well I gotta get drunk and I sure do dread it cause I know just what I'm gonna do". So sang er 1969, und sagte damit eigentlich schon fast alles.
Begleitet von einem ausführlichen Booklet und einer umfangreichen Diskographie mit Fotos und den Covern vieler seiner Platten, ist "One Hell Of A Ride" mehr als ein Sammlerstück für Fans: Es ist das gelungene und abwechslungsreiche Abbild der Karriere eines Mannes, der Musik und Freundschaft stets in den Mittelpunkt seines Lebens gestellt hat.
Wenn er in den nächsten Jahren die Energie beibehält, die ihn bislang ausgezeichnet hat, könnte es noch für Teil zwei reichen. Ob sein treuer Weggefährte Trigger das überlebt, ist allerdings fraglich.
8 Kommentare
(kniet nieder und huldigt)
(huldigt weiter)
<- blue eyes cryin´in the rain
(huldigt immer noch)
Willie Nelson verdammte Scheisse!
Der hat doch mal bei Monk mitgespielt.
zu 'crazy' habe ich in gta san andreas immer gerne wahllos menschen über den haufen gefahren.
hach...
edit: die kompilation werde ich mir irgendwann mal kaufen, denn country ist ja nunmal gott.
(huldigt immer noch)