laut.de-Biographie
Yasmine Hamdan
Der Libanon ist schon sehr lange nicht mehr das Land, in dem viele Libanes:innen leben, auch Yasmine Hamdan nicht. Sie kennt das Leben in Europa, seit sie Kind ist. Aufgewachsen ist sie als Flüchtling: Ihre Familie seilte sich rechtzeitig aus dem langen Bürgerkrieg ab, der erst in Yasmines Teenager-Jahren eine Rückkehr erlaubt. Sie lernt andere arabische Länder kennen, Kuwait, Abu Dhabi, die Vereinigten Arabischen Emirate, aber auch Griechenland. Sie ist mit einem Filmregisseur verheiratet, wohnt und arbeitet in Paris.
"They robbed each other / they fooled each other / they slaughtered each other", fasst Yasmine in ihrem 2025er Song "Abyss" (auf arabisch) sehr alte Wunden der Boomer-Generation und der Älteren zusammen. Aber auch sie betrifft das. Der Bürgerkrieg tobt bis 1990. Yasmine ist damals 14 und befindet sich mit ihren Eltern im Exil im Irak. Unfreiwillig packen sie zu Beginn des ersten Golfkriegs Hab und Gut zusammen und wählen den risikoreichen Weg über die Grenze, um abermals zu migrieren - diesmal zurück in die Heimat. Dort wird der zähe Wiederaufbau des Landes erforderlich, in einer weltpolitisch unruhigen Zeit. "I Remember I Forget" - schwer das alles zu vergessen, und so dient das gleichnamige Album 2025 der Erinnerung und Auseinandersetzung mit diesem Trauma, ein heimatloses, vom Krieg verfolgtes Kind zu sein, das doch nie wurzellos war. Auf der anderen Seite legt Musik als Mittel, um sich an etwas zu erinnern, oft ungeahnte Kräfte frei.
Ihre Odyssee erlaubt Yasmine während ihrer Jugendjahre, irakisches Arabisch, das ägyptische, das kuwaitische und das der Golfregion und das der Beduinen, libanesisches und viele weitere Spielarten aufzusaugen. Als Poetin lernt sie damit spielerisch umzugehen. Dabei kommt ihr ein Genre zupass, das dem Flow der Wörter einen hohen Stellenwert beimisst: Trip Hop. Yasmine wird dessen Pionierin im arabischen Sprachraum.
1997 ist sie 21, als sich der bassschwere, melancholische Sound von Massive Attack in Yasmines Seele eingräbt. Sie ist fasziniert, aber hat nicht den Plan Musikerin zu werden, sondern studiert Psychologie. Im Juni 1997 verlässt der Trip Hop England. Er schwappt zunächst ein bisschen nach Versailles über, wo Étienne de Crécy und Air ihre erste EP "Premiers Symptômes" droppen. Im Oktober sorgt Yasmine Hamdan für eine arabische Variante und schließt sich mit ihrem Beatmaking-Partner Zeid zusammen. Zeid Hamdan ist kein direkter Verwandter von ihr, der Name kommt einfach häufig vor. Die beiden nennen sich Soap Kills.
Je nachdem, wie weich, schroff, dramatisch, komisch, ernst, geheimnisvoll die Vocals klingen und zur Stimmung der Tracks beitragen sollen, wählt die Sängerin, Texterin und Sound-Tüftlerin mal diesen, mal jenen Dialekt für ihre inspirierten Worte. Das Duo bleibt acht Jahre zusammen und gestaltet drei Longplayer. Danach gehen sie getrennte Wege, bleiben der elektronischen Musik aber beide treu. Die Songs erscheinen in einer Ära, als die großen Zeiten von Drum'n'Bass, Acid-Jazz, Big Beat, Two-Step, Spoken Word-Dub und weitere Geschwisterchen des Trip Hop nachhallen.
Nach dem Ende von Soap Kills erkennt die Künstlerin im Kosmopoliten und Madonna-Produzenten Mirwais ("Music") einen passenden Klangarchitekten. Das temporäre Projekt der beiden heißt Y.A.S. und gipfelt im einzigen Album "Arabology". Als Yasmine 2012 solo loszieht, übernimmt sie selbst die Regie über ihre Produktion, findet aber in Paris einen Sidekick bei der namhaften Cover-Gruppe Nouvelle Vague: Marc Collin. Mit ihm tüftelt sie an einer zeitgemäßen Rezeptur.
Ihre verhinderte Heimat, der Libanon, bleibt ein großes Thema ("Beirut"). Ab 2015 ist die Bevölkerungsentwicklung dort wieder drastisch rückläufig, und die Lage büßt an Stabilität ein, gleichzeitig strömen extrem viele Flüchtlinge ins Land, kurdisch-irakische, palästinensische und syrische. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen nennt 2024 die Zahl 700.000 Refugees aus Syrien, die CIA berichtet von 1,1 Millionen, dabei fasst der Libanon insgesamt nur noch 5,4 Millionen Einwohner:innen. Die Inflation gipfelt am Ende der Corona-Pandemie in Preissteigerungen von 220 Prozent in einem Monat - Themen, die Yasmine beschäftigen. Lange vernimmt man öffentlich nichts von ihr. Zwischen 2017 und 2025 erscheint lediglich ein Remix-Album mit DJ-Versionen der Tracks ihres "Al Jamílat"-Albums, wobei beides als britisch-französische Produktion bei ihrem Eigenlabel Hamdanistan erscheint.
Geld verdient Hamdan nach der Pandemie mit Gesangskursen in Paris. Neue Kompositionen gären sehr lange in ihr. Sie will sie auch nicht übers Knie brechen. Was ihr zu schaffen mache, sei der Lauf der Dinge in der Welt und wie Nachrichten und Social Media sie darstellen, filtern, zuspitzen. Social Media-Chroniken saugten ihr oft jede Zuversicht ab. Ausflüge in die Natur würden ihr helfen, sagt sie, an Küsten insbesondere, und dann wäre da noch die Musik mit ihrer heilenden Wirkung. Nach langer filigraner Studioarbeit erscheint mit "I Remember I Forget" ein stimmungs- und geheimnisvolles Album im September 2025. Das belgische Vintage-Label Crammed Discs sorgt für die Verbreitung.
Die Auslegung von Trip Hop im Track "Shadia" knüpft dabei an ihre Soap Kills-Vergangenheit an, "Daya3" schmiegt sich ein bisschen an Pop-Muster an, doch unterm Strich passiert viel Experimentelles. Im Februar 2026 spielt Yasmine Konzerte in Deutschland.
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