laut.de-Kritik

Electro-Tektonik aus einem verwundeten Land.

Review von

Nach ihrer Arbeit mit Madonnas Mitstreiter Mirwais fand die Exil-Libanesin Yasmine Hamdan in Marc Collin von Nouvelle Vague einen neuen Arbeitspartner. Das ist ein Weilchen her: 2012 legten die beiden los. Als Collin und Hamdan anfingen, stand ihre Stimme viel mehr im Mittelpunkt. Die Gesänge waren klar im Wortlaut zu verstehen, schieben sich heute hingegen unter thrillvolle elektrotektonische Klangwände einer mysteriösen wie auch zugleich luziden Atmosphäre. Seither sind insgesamt nur zwei Alben von Yasmine entstanden, und so wird sich manche:r auch bezüglich der Künstlerin denken: "I Remember I Forget"!

Ich hatte das Glück, sie bei einem Open-Air-Festival bereits zu Beginn ihrer Solo-Zeit gesehen zu haben, finde sie aufgrund dessen unvergesslich und fragte mich schon länger, was sie eigentlich treibt. Man muss beim Wiederhören ziemlich umschalten. Denn heute, so sagt sie uns, sei sie verzweifelt über die Weltlage und insbesondere die Rolle ihres klitzekleinen Landes darin, des Libanon, den sie nicht vergessen kann und dem sie diese LP widmet. Es gebe jedoch auch andere bedeutende Konfliktzonen außerhalb unseres Radars, meint sie - den Kongo zum Beispiel.

All ihre Gefühle und Schlussfolgerungen rund um die Nachrichtenlage schwingen in "I Remember I Forget" mit, und doch ist es keineswegs ein deskriptives oder erläuterndes Album und erzählt auch keine konkreten Stories, sondern vertont die Innenansicht: Wie paranoid man sich fühlt, wenn die eigene Heimat von einer kaum lösbaren Misere in die nächste schlittert und quasi unbewohnbar wird. Musik spendet Yasmine Trost. Ihre eigene war immer nachdenklich und kleinschrittig aufgebaut, nun ist sie reichlich düster geworden.

Der Song "Abyss" absorbiert die Gräuel des libanesischen Bürgerkriegs, der zu einer Kindheit in verschiedenen Ländern zwang, bis der Golfkrieg sie mit 14 Jahren auch dazu brachte, mit ihren Eltern den Zufluchtsort Irak wiederum zu verlassen. Krieg schwebte stets über ihr. "Sie schlachteten einander ab (...) / zermarterten mir das Hirn" Entsprechend brodelnd und wie die Weiterentwicklung des Weltschmerzes von Trickys Cello-Album 2020 lässt sich das Album an. Es demonstriert auch eine bemerkenswerte persönliche Weiterentwicklung der Künstlerin, die sich immerhin Trip Hop-Pionierin nennen darf.

Die extremsten Stücke sind der Anfang und der Schluss. Die Mitte wagt einen Balance-Akt. Gerade der Closer wirft am meisten Fragwürdige auf: "Reminiscence" sorgt auf dem Album für ein unruhiges, unschönes Ende, dystopisch, düster. Wie in einer Höhle mutet die unscharf geformten Klanglandschaft an. Flächig, polyphon wabernd, ungewiss wabbelnd zieht der Track durch graue und bleierne Tristesse. "Reminiscence" versinnbildlicht auf dräuendem Verstärker-Summen den Nebel im Außen und mentales Chaos im Inneren. Eskapismus ist der Wunsch der Song-Antiheldin, deren Stimme sich nur mühsam gegen die grummelnde Elektronik behauptet. Der Eskapismus, die Flucht nach vorne, konkurriert wie in einem Tauziehen mit der körperlichen Erschöpfung, die aus dem Erlebten resultiert und den Blick nach vorne dann letztlich doch blockiert.

Richtig finster wölben sich auch mit elektronisch unterstütztem Tunnelblick die Störgeräusche in "Vows" um die Worte aus dem Refugee-Blickwinkel: "Wir sind hier um zu bleiben, lieben das Leben (...), versuchen, dass es funktioniert." Immer wieder schiebt sich diese Perspektive der Diaspora, also der in die weite Welt Verstreuten, in den Vordergrund. Am musikalischen Gegenpol befinden sich "Daya3" und "Shadia". Der Song "Shadia" kreuzt das Feeling von Detroit-Soul - ganz in der Ferne verborgen - mit besagtem Mirwais-Sound von einst und erinnert aufgrund einer weirden Genre-Kreuzung an so etwas wie "Bou Jeloud" von den Kastrierten Philosophen. Es überwiegt das ein-impfend Repetitive. Das Clashende der crackenden elektronischen Sound-Strukturen dominiert heftig. Trip Hop erlebt hier eine sehr scheppernde Variante.

Beim betörenden "Shmaali" mag man an die besten Kraftwerk-Momente denken, Songs wie "Computerwelt" und "Trans-Europa-Express". Das rhythmische Format erinnert an Dabke-Tanz, in Elektro-Gewand eingekleidet, der uns wiederum wegen syrischer Asylbewerber:innen teils ein Begriff geworden sein mag. Syrien ist das Nachbarland des Libanon, viele Syrer:innen leben dort heute in Camps.

Der Anfang des Album ist ziemlich advanced, ist zwar schick, macht es aber auch schwer, den Einstieg zu finden und sei deshalb abschließend gewürdigt: Clicks- und Cuts-Technik in "Hon" schlägt einen experimentellen Weg ein. Clicks'n'Cuts sind in diesem Zusammenhang symbolisch interessant. Sie stehen fürs Zerklüftete, gleichzeitig hat der Song aber auch eine sehr feste Struktur. Um diese Spannung aus den Kräften der Dekonstruktion (Vertreibung der Bevölkerung in viele Himmelsrichtungen) und doch festen Zusammenhalt (also Heimatbindung) geht es in der sogenannten Diaspora, also dem Radius der weltweit Verstreuten förmlich auf allen Kontinenten. Bei den Libanes:innen lebt die Mehrheit woanders, zweieinhalb bis drei Mal so viele wie im Land verblieben sind.

Hamdan residiert in Frankreich, reist aber regelmäßig in den Libanon, wurde zuletzt Zeugin existenzbedrohender Preissteigerungen aller Alltagsgüter. Vor diesem Hintergrund darf man manche Glitch-Seltsamkeiten des Albums und vor allem des Openers als künstlerisches Echo wahrnehmen und als Versuch mit der Tragik und damit, wie gaga und perspektivlos die harsche Realität ist, in angemessenen Klängen umzugehen. Die dekonstruierende Technik macht diesen Background auch für jeden direkt spürbar, der diese Situation nicht kennt.

Das Album liefert zwar schwere Kost, ist aber doch von einer so essenziellen Traurigkeit, Erschütterung, so voller Entsetzen, dass man es alternativ zum Nachrichtengucken auflegen sollte. Yasmine Hamdan hilft mit ihren gewitzten und kompakten Soundscapes dabei, ein Gespür dafür zu bekommen, wie es sich anfühlt, wenn man over-newsed ist und doch zugleich kaum selber Einfluss nehmen kann. Darauf präsentiert sich "I Remember I Forget" als sci-fi-delische Parabel.

Trackliste

  1. 1. Hon
  2. 2. Shmaali
  3. 3. Shadia
  4. 4. The Beautiful Losers
  5. 5. I Remember I Forget
  6. 6. Vows
  7. 7. Abyss
  8. 8. Mor
  9. 9. Daya3
  10. 10. Reminiscence

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