laut.de-Kritik

Nostalgie durchgespielt: TLC, SMV ... FLO.

Review von

Man muss nicht besonders versiert in Musikgeschichte sein, um zu erkennen, wo Flo ihre Inspiration hernehmen. Selbst wenn man noch nie in seinem Leben einen R'n'B-Song gehört hat, buchstabiert Schauspielerin Cynthia Ervivo das Mission Statement der Girlgroup schon in den öffnenden Sekunden: "A trio, ready to receive the baton passed on by the likes of Destiny's Child, The Sugababes, SWV, and countless other iconic baddies of the past". Die Britinnen halten mit ihren Vorbildern nicht hinterm Berg, sie gehen sogar regelrecht damit hausieren.

Und wieso nicht gleich in das oberste Regal greifen? Ich meine, wie lange ist es her, seit dieses Genre eine echte Girlgroup in der Tradition dieser Legenden zu Gesicht bekam? R'n'B entwickelte sich in der letzten Dekade mehr und mehr zum Solo-Gig, eine Gruppe wie Flo füllt eine Lücke, die seit Fifth Harmony verwaist ist. Wenn ein Genre also den Blick durch die Nostalgie-Brille verdient hat, dann dieses, und da kann ein wenig Selbstbewusstsein auf jeden Fall nicht schaden. Gerade wenn man zuvor mit der ersten EP schon in seinem Heimatland sämtliche Newcomer-Preise abräumte.

Es ist auch nicht schwer zu verstehen, wieso. Schon mit ihrer ersten Single klangen Jorja Douglas, Stella Quaresma und Reneé Downer wie absolute Superstars, und "Access All Areas" manifestiert diese Ambitionen in Form eines Debüt-Albums, das klingt, als hätten die drei 20 Jahre Industrie-Erfahrung auf dem Buckel. Hier ist nichts von Anlaufschwierigkeiten, oder einem 'sich finden müssen' zu hören. Sie wissen genau, welchen Sound sie bedienen möchten, und ihr Produzent MNEK erweckt diese Vision mit erstaunlicher Stilsicherheit zum Leben.

Dennoch verliert ihre Musik nie diese Verspieltheit von drei Freundinnen, die einfach eines Tages den Entschluss gefasst haben, ihre Frustration über ihr Dating-Leben auf gemeinsamen Songs in die Welt zu schreien. Die nicht nur Spaß dabei haben, miteinander Musik zu machen, sondern sich vor dem Videodreh anfeuern, wie gut sie aussehen und sich tatsächlich gegenseitig auf Speed Dial haben, wenn der Ex wieder nervt. Dafür, wie poliert dieses Album klingt, wirkt es erstaunlich authentisch, was die Emotionen umso nahbarer macht. Während viele Newcomer lebendig von der Industrie gefressen werden, schlängeln sich Flo Hand in Hand geschickt an den Bärenfallen dieser Talentmühle vorbei.

Nicht zuletzt, weil Flo, wie die Großen in diesem Genre, früh verstanden haben, dass sie als Trio gerade deshalb so gut funktionieren, weil sie einander ergänzen. Die Stimmen der drei Girls sind oftmals das klare Highlight dieser Songs. Jede der drei glänzt für sich, Momente wie Reneés cocky Verse auf "Walk Like This", oder Stellas Hook auf "In My Bag" sind klare Standouts. An anderer Stelle gleichen die Melodien einem vokalen Staffellauf, bei dem jedes Organ der drei Frauen um die Aufmerksamkeit der Ohrmuschel kämpft.

Aber erst wenn die drei miteinander harmonieren, lassen sich die Verweise zu den Größen dieses Genres nicht mehr von der Hand weisen. Auf Songs wie "AAA", "Check" und "Shoulda Woulda Coulda" verschmelzen Background und Main-Vocals zu einem einigen Mahlstrom an Ear Candy, der sämtliche Endorphin-Rezeptoren unter Starkstrom stellt.

Es ist wirklich erstaunlich, wie die mit Songs wie den schmachtigen "On & On" und "Soft" oder dem grandiose "Shoulda Woulda Clouda" den Vibe der 90er und frühen 2000er aufflammen lassen, ohne wie ein simples Replikat zu klingen. Man hat das Gefühl, diese Songs schon einmal gehört zu haben, nur der Artist fällt einem gerade nicht ein. Als hätten diese Rohlinge seit den 90ern kein Tageslicht mehr gesehen, nur um jetzt blitzeblank poliert ihre erste Runde auf dem Plattenteller zu drehen. Doch "Access All Areas" ist gerade deshalb so gut, weil es sich auf dieser Qualität nicht ausruht. Flo wissen, dass simple Götzenverehrung ein Verfallsdatum hat, und bringen bereits auf ihrem Debüt reichlich eigene Ideen mit, die einem die Nostalgie-Brille aus dem Gesicht watschen.

"In My Bag" webt geschmackvoll Trap-Elemte in den Beat ein, die während des bockstarken GloRilla-Verses kurz in den Jersey-Club abrutschen. "Check" implementiert sachten Drum'n'Bass, der klingt, als hätte man ein PinkPantheress-Preset einmal durch den Douglas geschleift. "IWH2BMX" und "Nocturnal" setzen wiederum noch mehr auf boomende Rap-Drums und Pop-Pomp im Geiste von Rihanna und Usher. Selbst der größte Left-Turn auf dem Closer "I'm Just A Girl", in dem sich plötzlich Arena-reife Gitarren-Riffs an den Vocal-Runs der drei brechen, klingt erstaunlich kompetent, und dürfte jegliche Zweifel beseitigen, dass Flo nach diesem Album noch Benzin im Tank haben.

Man kann jedoch sicherlich darüber streiten, ob dieses Album 16 Songs lang sein muss, denn aller Vielfalt zum Trotz kommt das Trio nicht ganz drum herum, ein paar Ideen in mehrfacher Aufführung aufzutischen, bei denen meist eine dann doch ein wenig abfällt. So wirken Songs wie "Bending My Rules" oder "How Does It Feel?" nicht zwingend essentiell, während "Get It Till I'm Gone" dem letzten Stretch der LP auch nur wenig neues hinzuzufügen hat.

Das ändert ultimativ allerdings nur wenig am Gesamteindruck, dass der R'n'B schon lange nicht mehr ein so kompetentes Debüt zu Gesicht bekam, das ein Bein fest in den Anfängen und eines in der Zukunft verankert hat, ohne sich zu verrenken. Es gibt Artists, bei denen hört man einen Song und weiß sofort, sie sind für Großes bestimmtes. Auch wenn sich Flo seit diesem einen Song reichlich Zeit für ihr Debüt ließen, bestätigt "Access All Areas" diese Annahme einmal mehr. Oder findet ihr nicht, das das Cover wie dafür gemacht scheint, um in ein paar Jahren zwischen "Survivor" und "Crazysexycool" auf der Ladentheke zu stehen?

Trackliste

  1. 1. Intro (feat. Cynthia Erivo)
  2. 2. AAA
  3. 3. In My Bag (feat. GloRilla)
  4. 4. Walk Like This
  5. 5. How Does It Feel?
  6. 6. Soft
  7. 7. Check
  8. 8. On & On
  9. 9. Bending My Rules
  10. 10. Trustworthy (Interlude)
  11. 11. Caught Up
  12. 12. IWH2BMX
  13. 13. Nocturnal
  14. 14. Shoulda Woulda Coulda
  15. 15. Get It Till I'm Gone
  16. 16. I'm Just A Girl

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