"Wenn Avantgarde auf der CD-Hülle steht, schrecken die meisten vom Kauf zurück", bringt David Murray das Dilemma auf den Punkt, "Avantgarde ist ein böses Wort geworden."
Wie konnte es soweit kommen? Auch dafür hat Murray eine Erklärung: "In den Sechzigern und Siebzigern haben erfahrene Musiker wie Anthony Braxton oder das Art Ensemble of Chicago mit Sounds und Kompositionsformen experimentiert, die nur selten etwas vom musikalischen Niveau der Spieler verrieten. Dass Avantgarde in jenen Tagen zu einem Synonym für das Experimentelle und oft eben Nicht-Gelungene wurde, ist ein Problem, das bis heute wirkt. Ich kenne heute viele Bands, die immer noch so operieren, leider. Wenn ich das rieche, gehe ich lieber an die Bar oder in den nächsten Hip Hop-Laden, um mich nicht zu langweilen."
David Murray muss es wissen. Der Saxophonist, der in den 70ern die New Yorker Szene betritt, gilt als Vertreter des Modern Creative Jazz, oder Avantgarde, oder experimentelle Musik, oder Neue Musik oder so. Negativ besetzte Assoziation nennt man Murrays Mühsal mit der Schublade "Avantgarde". Denn ursprünglich meint sie etwas Gutes. Sofern einem Erneuerung, Wagnis, (Re-)Inkarnation und Kreativität liegen.
Avantgarde stammt aus dem Französischen und meint eine Gruppe von Vorkämpfern, eine Vorhut. Die Verwendung des Begriffs hat sich im Lauf der Zeit von seinem militärischen Hintergrund entfernt und kommt heute vor allem im schöpferischen Kontext zur Anwendung. Das Lexikon spricht von "künstlerischen Bewegungen zumeist des 20. Jahrhunderts, die eine starke Orientierung an der Idee des Fortschritts gemeinsam haben und sich durch besondere Radikalität auszeichnen."
Mit "Radikalität" assoziiert man schräge Töne, Formloses und Un(be)greifbares. Free Jazz gar. Oder Zwölftonmusik. Man denkt an "radikale" Attacken auf unsere Hörnerven und an Fußnägel, die sich einem aufrollen. Das schlimmste: all das ist wahr!
Was sagt die Enzyklopädie dazu? "Als Avantgarde wird Musik bezeichnet, die sich so weit vom Mainstream entfernt, dass sie in ihrer Andersartigkeit als experimentell empfunden wird." Oder: "Die avantgardistische Kunst tritt vor allem als antibürgerliche, bewusst provokante, betont innovative sowie stark selbstreflexiv orientierte Kunst auf." Pfui!
Im Kontext von populärer Musik treibt Avantgarde hauptsächlich im Jazz- und Rockbereich sein Unwesen. Immer wieder bemühen sich Bands in einem Anfall revolutionärem Erneuerungswillens um wirklich Neues. Es fallen Namen wie Einstürzende Neubauten, Björk, Sigur Rós, Tortoise, Fred Frith, Kraftwerk, die frühen Radiohead, Laurie Anderson, The Notwist, John Zorn, Vienna Art Orchestra, Bill Frisell, Marc Ribot oder Markus Stockhausen. Blickt man ein bis zwei Generationen zurück, stolpert man über Sun Ra, Frank Zappa, John Cage, Steve Reich, Brian Eno oder Philip Glass.
Alle unerwähnten Künstlerinnen und Künstler fallen dem avantgardeimmanenten Schicksal der Nichtbeachtung zum Opfer. Anekdoten von genialen Künstlern, Wissenschaftlern und Musikern, die ihrer Zeit weit voraus waren, sind hinlänglich bekannt. Von einer breiten Akzeptanz meilenweit entfernt und in ihrem Genie nur von wenigen erkannt, bleibt ihnen Ruhm und Ehre zu Lebzeiten allzu oft verwährt. Das Los der Avantgarde, oder wie der französische Schriftsteller Romain Gary es formuliert: "Avantgardisten sind Leute, die nicht genau wissen, wo sie hinwollen, aber als erste da sind."