laut.de-Kritik

Apokalyptische Steigerung in klangliche Ekstase.

Review von

Wenn der Synthie zu Beginn von "Anymore" wie beim Hochstarten einer Maschine grummelt, machen Alison Goldfrapp und Will Gregory gleich klar, dass das Duo das Licht ausschaltet und den Spot wieder auf die Discokugel richtet. Vergleiche mit den elektronischen Alben "Black Cherry" und "Supernature" drängen sich auf, laufen aber weitgehend ins Leere.

Die Songs auf "Silver Eye" erfahren, bewusst oder unbewusst, eine Zweiteilung. Die eine Kategorie füllen Tracks wie die Vorabsingles "Anymore" und "Ocean", die andere wiederum steht für die balladeske Seite. Das ebenfalls im Vorfeld zu hörende "Moon In Your Mouth" exerziert dies beispielhaft vor.

Die Milchmädchenrechnung "Balladen plus Tanzbares ergeben ein neues Goldfrapp-Album" wäre aber zu einfach. Vielmehr vermengen die Sängerin und ihr Soundtüftler ihre Ideen zu einem herzhaften Konglomerat, das in seiner Einheit und Kompaktheit zu den drei besten Alben der Bandgeschichte zählt. Die Hinzunahme externer Ideengeber (unter anderem The Haxan Cloak) macht sich im völlig homogenen Soundkostüm nicht wirklich bemerkbar. Zwar hört man schon, dass es etwas derber knarzt ("Become The One") oder ungewohnte Texturen zum Einsatz kommen. Die von außen einfließenden Ideen gehen aber zu hundert Prozent im Sound auf, und der hat sich gewaschen.

Manchmal wünscht man sich ja einen Kopfhörerverstärker an die Hand. Zum Beispiel bei "Systemagic". Zuerst ertönt ein Intro, das genauso gut Marschmusik à la Rammstein ankündigen könnte. Wenn Alison aber die Zeilen "Take a ride, light the sky" intoniert und daraufhin eine unfassbar geile Bass-Innenohrmassage vonstatten geht, ist sie wieder da, diese nach vorne schiebende Unwiderstehlichkeit der Goldfrapp'schen Elektronik, mit der sie auf jedem Dancefloor im Nu einen Komplettabriss veranstalten. "Silver Eye" ist mit Abstand das Album der beiden, das am lautesten gehört werden will.

Auch sehr beachtenswert: das famose "Become The One". Alison ließ sich von der Doku "My Transgender Summer Camp" inspirieren. Die Aussage eines Transgender-Mädchens "I'm not changing who I am, I am becoming who I am" übersetzt Alison in Slogan-artige Textversatzstücke, die sie dem Hörer mit verzerrter Stimme hinwirft. Diese Schlagworte kulminieren in ein supersonisches "Become the one, become the one, you know you are".

Auch wenn der elektronische Faktor dominiert, klingt "Silver Eye" in seiner Gänze überaus idyllisch und warm. Mechanische Sounds erzeugen eine natürliche Atmosphäre. Das spiegelt sich im Video zu "Anymore" wider, das auf Fuerteventura entstand. Diesen Eindruck setzen auch die ruhigeren Stücke wie "Faux Suede Drifter" fort, in dem Alison die sehnsüchtig schmachtende Diva mimt.

Das Sahnehäubchen der zurückgenommenen Song-Fraktion heißt "Zodiac Black". Die Stimmung schimmert irgendwo zwischen einer eingängigen Björk und dem Drama und Pathos einer Kate Bush hin und her. Auch hier bereitet Will Gregory seiner Sängerin einen Sound, auf dem diese mit hauchender, säuselnder und flehender Vokalakrobatik eine Pirouette nach der anderen dreht.

Fast schon apokalyptisch steigert sich das Duo in die klangliche Ekstase hinein. Mystisch, dunkel. Düster. Dagegen klingt das mit einem stolpernden Rhythmus versehene "Beast That Never Was" im Anschluss beinahe optimistisch und fröhlich. "Everything Is Never Enough" mit, Obacht, analog klingenden Schlagzeug-Patterns zieht gegen Ende des Albums das Tempo noch einmal an, ehe "Ocean" den knarzigen Abschluss markiert.

Mit "Silver Eye" fügen Goldfrapp ihrer jetzt schon absolut hochwertigen Diskografie ein weiteres Klasse-Album hinzu. Ausfälle gibt es nicht zu verzeichnen. Ganz im Gegenteil: Die Art, wie sich die zwei partner in crime jedesmal wieder neu erfinden, ist erstaunlich.

Trackliste

  1. 1. Anymore
  2. 2. Systemagic
  3. 3. Tigerman
  4. 4. Become The One
  5. 5. Faux Suede Drifter
  6. 6. Zodiac Black
  7. 7. Beast That Never Was
  8. 8. Everything Is Never Enough
  9. 9. Moon In Your Mouth
  10. 10. Ocean

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9 Kommentare mit 21 Antworten

  • Vor 7 Jahren

    da letzte mal notiz genommen von dieser band habe ich 2003. ich glaube, es war ihr durchbruch. zumindest sah man das video hin und wieder bei fast foward.
    ich dachte damals, es wäre geil, wenn sich die alte mal nackt macht. falls sie es noch nicht getan haben sollte, jetzt 14 jahre später, ist mein interesse erloschen.
    Lustiger weise hatte ich zu der Zeit parallel dazu den gleichen gedanken bzgl charlotte roche. der ist aber irgendwie mit ihrer "literarischen" Kariere gestorben... es gab so momente, da dachte ich, "scheisse, die würde nicht mal ich ficken" also roche jetzt. nicht goldfrapp

  • Vor 7 Jahren

    Ich glaub das Album brauch ich. Das könnte ein krasser Orgasmus werden.

  • Vor 3 Jahren

    Verdammt schwer, hier eine albumentsprechende Wertung zu formulieren.

    Die Ideen von Goldfrapp sind anscheinend endlos, wie sie einmal wieder mit "Silver Eye" (ich finde das Gesamtalbumkonzept toll, den Albumtitel jedoch etwas einfallslos und beliebig gewählt) eindrucksvoll beweisen. Das Ganze ist sehr elektronisch und das kalte, wahrscheinlich von Industrie und Maschinen beeinflusste "Systemagic" lässt ordentlich die Hüften kreisen und den Popo wackeln.

    "Anymore" ist wieder so ein Track, der (wie auch "Rocket" auf 'Head First') in etwas beliebige Elektronica-Fahrwasser eintaucht, was mir nicht so ganz gefällt. Richtig schöne (und ungewöhnliche) Tracks sind "Tigermen", "Become The One", "Faux Suede Drifter" (etwas weniger Kitsch wäre auch gut gewesen) und "Moon in Your Mouth".

    Der Rest ist eher unauffällig. Ich wusste bei erster Hörprobe gar nicht, dass da noch weitere Songs existieren. Mein absolutes Highlight ist der Schlusstrack: "Ocean". Mega Track - einer, wie einen übermannende Flutwelle auf der See. Nochmal: ein ganz starker Track!

    Wertung: schwierig. Einerseits sehr modern, andererseits verträumt, deutlich kühler und weniger weich als die Vorgänger. Gäbe es bei laut.de noch halbe Punkte, läge meine Bewertung extrem soliden 3,5/5 Sternen.