Porträt

laut.de-Biographie

Hailu Mergia

In den frühen 1960er Jahren legt Äthiopiens Märchenkaiser Haile Selassie I. nach schweren sozialen Unruhen und einem Putschversuch gegen ihn mit liberalen Öffnungen den Grundstein für eine popkulturelle Revolution von ungeheurem Nachhall. Besonders für das bis dato streng staatlich kontrollierte Musikleben erweisen sich seine Maßnahmen als ungeheuer fruchtbar.

Hailu Mergia - Yene Mircha Aktuelles Album
Hailu Mergia Yene Mircha
Einmal vom Star zum Taxifahrer - und zurück.

In der Hauptstadt Addis Abeba besteht das zensierte Repertoire vor dem Putschversuch ausschließlich aus landestypischer Militärmusik im Stile der 1920er. Nur ausgebildete Mitglieder institutioneller Gruppen wie der Imperial Bodyguard Band oder der Army Band dürfen Musik vorführen. Erst mit den im Zuge des Putschversuches eintreffenden US-Friedenstruppen ändert sich das. In ihrem Gepäck bringen sie westliche Popmusik und Jazz in das Land und bereiten damit zusätzlich den Boden für das goldene Zeitalter der zeitgenössischen äthiopischen Musik.

In diesem Klima wächst Hailu Mergia auf. 1946 unweit der Hauptstadt in Debre Berhan geboren, liegen ihm das traditionelle Liedgut der Amhara, der Tigray und der Oromo im Blut. Im Alter von zehn Jahren zieht er mit seiner Mutter nach Addis Abeba. Mit 14 tritt er der Armee bei und erlernt dort das Akkordeonspiel. Zwei Jahre später verlässt er das Militär mit der Überzeugung, dass er musikalisch "alles von diesem Club gelernt hat." Zusätzlich lernt er Keyboard und elektrische Orgel zu spielen. Seine Musikkarriere beginnt er kurz nach dem Ausscheiden aus dem Militär als Sänger und Akkordeonspieler eines losen Kollektivs, mit dem er für ein Jahr durch das Land zieht.

Nach der Auflösung der Wanderband verlagert Hailu Mergia Mitte der 1960er Jahre seinen Lebensmittelpunkt wieder nach Addis Abeba. Dort pulsiert mittlerweile ein außergewöhnlich elektrifizierendes und buntes Musikleben. Ein Mix aus Funk, Soul, Big Band Jazz, militärischen Blaskapellen, Hindi Filmmusik und traditionell äthiopischen Fünftonmelodien bildet den Sound des boomenden Nachtlebens im vibrierenden Swinging Addis. Für Mergia genau die richtige Blase, um sich in lokalen Bars und Nachtclubs als freischaffender Künstler zu verdingen.

Ende der 1960er formt Mergia im städtischen Zula Club seine erste feste Gruppe, die konsequenterweise den Namen Zula Band trägt. Westliche Musik ist plötzlich an allen Ecken verfügbar. Mergia interessiert sich verstärkt für amerikanischen Jazz und Soul-Organisten wie Jimmy Smith oder Booker T. Jones. Saxophonisten wie Maceo Parker, King Curtis und Junior Walker zählen ebenfalls zu seinen Einflüssen. Den Gastspielen im Zula Club folgt einige Zeit später mit wachsender Popularität der Umzug in den berüchtigten Venus Club.

Zu dieser Zeit kehrt auch Mulatu Astatke nach seinen beiden erfolgreich absolvierten Musikstudiengängen am Trinity College Of Music in London und am Berklee College of Music in Bosten wieder zurück nach Addis Abeba. Auf Basis seines Jazztheorie-Studiums hebt Astatke noch vor seiner Rückkehr 1966 in New York mit "Afro-Latin Soul, Volumes 1 & 2" den Ethio Jazz aus der Taufe und schafft damit den Soundtrack für die goldene Zeit der Tanzbands. Beide, sowohl Astatke als auch Mergia wachsen mit dem Ethio-Jazz zu echten Superstars der äthiopischen Populärmusik heran. Im Gegensatz zu Astatke jedoch entwickelt Mergia seine Tonsprache nicht aus akademischen Standpunkten, sondern aus dem Vokabularium und der Formgebung traditioneller äthiopischer Musik. Das erklärte Ziel von Mergia: "Folk Songs in moderne, funky klingende Melodien umformen."

In den frühen 1970ern benennt Mergia seine Gruppe um in Walias Band. Die Inspiration für den Namen liefert dabei ein Vogel, der nur in Nordäthiopien lebt. Zum Line-Up der Band zählen Pianist Girma Beyene, Gitarrist Mahmoud Aman, Bassist Melake Gebre, Drummer Temare Haragy, Trompeter Yohanese Tekola, Tenorsaxofonist Tilaye Gebre und Saxofonist Moges Habte. In dieser Besetzung spielt die Gruppe ihr stark futuristisches Musikgebräu auf zahlreichen Hochzeiten und als Hausband des Hilton Addis Abeba. Als die Staatsführung 1973 Duke Ellington für ein Gastspiel in das Hilton Hotel einlädt, fungieren Walias Band als Vorgruppe. Die Formation avanciert zur bekanntesten Instrumental-Gruppierung des Landes.

1974 ändert sich das politische Klima im Land mit dem Sturz von Haile Selassie I. durch den 'Provisorischen Militärverwaltungsrat' der sozialistischen Derg unter der Führung von Diktator Mengistu schlagartig. Die Walias Band spielt weiter als Hausband des Hilton Hotels Addis Abeba, dem beliebtesten Treffpunkt für Diplomaten, wohlhabende Reisende und der landesweiten High Society. Mergia und seine Kollegen liefern dort allnächtlich das Gegenprogramm zur herrschenden Gewalt auf den Straßen.

Mit der Etablierung der neuen Militärjunta kommt es erneut zu einer Zensur westlicher Musik. In der Folge dürfen die Radiostationen keine westliche Musik mehr spielen. Für Swinging Addis und den Ethio-Jazz bedeutet dies das Aus. Die Staatsführung verhaftet Musiker mit offiziell verbotenen politischen Kontakten und zerstört Plattenläden samt Interieur. Hailu Mergia nimmt zwar eine Kassette mit Revolutionssongs auf, die die Regierung an aus aller Welt kommende Diplomaten verschenkt. Trotzdem spielt er mit der Walias Band weiterhin im Hilton. Da das Hotel nicht unter Staatsführung steht, entgeht er der Zensur mit seiner Instrumentalmusik weitestgehend.

Gemeinsam mit Mulatu Astatke spielt die Walias Band 1977 den Ethio-Jazz-Klassiker "Tche Belew" ein. 1981 tourt die Gruppe als erste moderne äthiopische Band für zwei Jahre durch die USA und spielt dabei hauptsächlich vor Flüchtlingen aus dem eigenen Land. Da die Tour nicht den gewünschten Erfolgt bringt, löst sich die Band 1983 auf. Während ein Teil der Band nach der Auflösung in die Heimat zurückkehrt, nutzen Hailu Mergia, Girma Beyene, Moges Habte sowie Melake Gebre die Gelegenheit zur Flucht ins Exil und verbleiben in den USA. Der Versuch mit seinen drei Mitmusikern die ehemalige Zula Band in der örtlichen Musikszene von Washington D.C. Fuß zu fassen scheitert. Mergia residiert dennoch weiterhin in der Stadt und schafft sich dort seine Exilheimat.

1985 veröffentlicht er in Eigenregie das Tape "Hailu Mergia & His Classical Instrument" auf. Danach nimmt er so gut wie keine Musik mehr auf und muss einen Job als Taxifahrer annehmen. Immer mit dabei: Ein batteriebetriebenes Keyboard im Kofferraum seines Autos, das er in jeder nur möglichen Pause zum Üben auspackt. Für Hailu Mergia ein gewaltiger Schritt vom Star zur vollkommenen Vergessenheit. In seiner Heimat jedoch gilt er aber weiterhin als musikalischer Pionier.

28 Jahre später stolpert der amerikanische Musikethnologe und Inhaber des Labels Awesome Tapes From Africa Brian Shimkovitz in einem Geschäft in Bahir Da, der Hauptstadt der äthiopischen Provinz Amhara, über genau dieses Tape. Elektrisiert von dem futuristischen Mix aus verschiedenen traditionellen Musikstilen, Soul, Funk und Jazz, kontaktiert er den taxifahrenden Mergia und bringt mit ihm noch im gleichen Jahr eine Neuauflage heraus. Die stößt durchweg auf positive Resonanz: für den Musiker der Beginn seiner zweiten Karriere.

Nach über 20 Jahren Veröffentlichungspause erscheint 2018 mit dem gefeierten "Lala Belu" sein Durchbruch-Comeback-Album. Darauf präsentiert er, unterstützt von The Necks-Schlagzeuger Tony Buck, eine nochmals modernisierte Version seines ohnehin schon entspannten, zeitlosen Jazz-Sounds. Die Jahrzehnte in den USA hinterlassen eben auch klanglich Spuren. Das US-Magazin Pitchfork lobt die Platte mit dem Prädikat "triumphal in der Gegenwart". Die New York Times und die BBC erkennen das Album ebenfalls in höchsten Tönen an. Für Mergia zahlt sich das aus. 2019 gastiert er im Rahmen seiner Tour auf dem Festival International de Jazz de Montréal, dem weltweit größten Jazzfestival. Im Frühling 2020 erscheint mit "Yene Mircha" der qualitativ ebenbürtige Nachfolger. Darauf klingt er weniger jazzig, dafür implementiert er mehr Elemente aus Rock, Dub, Reggae, Soul und Funk.

Hailu Mergias Musik lebt von Erneuerungen, Umformungen und Überraschungen. Statt nostalgisch in verklärten Momenten der Vergangenheit des Ethio-Jazz zu schwelgen, wendet sich Mergia lieber selbstbewusst der Erneuerung zu. "Du kannst alles machen mit äthiopischer Musik, sie sollte nicht aus diesem oder jenem Sound bestehen. [...] Ich glaube an Veränderungen in der Musik. Für die Zuhörer ist es gut, dass sie jedes Mal einen anderen Sound bekommen, wenn sie meine Musik hören."

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