2. Februar 2022
"Wir sind heute eine andere Band"
Interview geführt von Michael SchuhGroßartige Kritiken für ihr neues Album, zahlreiche ausverkaufte Konzerte: Es läuft für die wiedervereinigten Madrugada. Jetzt muss nur noch Omikron mitspielen. Ende März beginnt ihre Europa-Tournee.
Mit "Chimes At Midnight" ist gerade das erste Madrugada-Album seit 14 Jahren erschienen. Daran war lange Zeit nicht zu denken, bis die norwegische Band 2018 eine Live-Reunion zum 20. Jubiläum ihres Debütalbums "Industrial Silence" ankündigte und auf unerwartet riesigen Zuspruch stieß. Eher still und heimlich entschied man sich anschließend, das Projekt Studioalbum in neuer Besetzung anzugehen - die Band trennte sich 2008 infolge des tragischen Todes ihres Gitarristen Robert Burås. Wir sprachen mit Sänger Sivert Høyem, der sich aus seinem Haus im Süden Oslos zugeschaltet hat sowie Drummer Jon Lauvland Pettersen, der bei Warner Records im Stadtzentrum sitzt.
Eure Rückkehr auf die Bühne habt ihr 2019 damit begründet, dass ihr die Erinnerung an die Band für euch persönlich ins Positive umwandeln wollt. Ist hinter "Chimes At Midnight" ein ähnlicher Gedanke?
Sivert: Also die Tournee und das Album hängen auf jeden Fall eng zusammen. Als die Tour zu Ende ging, wollten wir gar nicht aufhören, hatten aber auch kein Interesse, jetzt einfach mit dem zweiten Album neue Konzerte zu spielen. Wenn man relevant bleiben will, muss man auch neue Musik veröffentlichen. Die Energie von der Bühne erfasste uns dann im Proberaum, es ging einfach nahtlos weiter.
Jon: Am Ende dieser langen Tour waren wir richtig gut auf der Bühne und wollten diese Intensität unbedingt ins Studio weitertragen. Daher blieb auch keine Zeit, großartig herumzutrödeln. Es musste alles sehr schnell gehen mit dem Songwriting. Und das hat auch geklappt: Der Entschluss, eine Platte aufzunehmen, fiel im November 2019. Vier Monate später standen wir schon im Studio. Erst in Oslo, dann in den Berliner Candy Bomber Studios und in Los Angeles. Bis zur Pandemie. Wir waren also kürzer in L.A., als wir es geplant hatten und stellten das Album in Norwegen fertig.
Auf L.A. komme ich später noch zu sprechen. Lasst uns noch bei der Tour bleiben: Buchstäblich in jedem Interview haben euch damals Journalist*innen nach der Wahrscheinlichkeit einer neuen Platte gelöchert. Eure Antwort war stets: Nein.
Sivert: Okaaaay, ich fürchte das war eine Lüge. Aber zu unserer Verteidigung, wir hatten lange Zeit wirklich keine Pläne. Erst im Herbst kam langsam so eine Gewissheit bei uns auf.
Wer von euch war der aktive Part, der das Ganze vorangetrieben hat?
Sivert: Das Thema kam schleichend immer öfter bei uns allen auf, im Tourbus zum Beispiel. Die Publikums-Reaktionen auf dieser Tour waren einfach so fantastisch, dass sich jeder von Gedanken machte, wie es danach weitergehen könnte.
Jon: Und da keiner von uns dem Ende der Tournee entgegen fieberte, war die Idee einer neuen Platte praktisch der einzig logische Weg, um so etwas noch mal zu erleben.
Madrugada ist immer populärer geworden, während die Band nicht existierte, was auch an den Zuschauerzahlen eurer Konzerte vor drei Jahren abzulesen war. Hat das nicht zu mehr Druck im Studio geführt?
Jon: Überhaupt nicht. Ich kann mich zwar an ähnliche Situationen in der Vergangenheit erinnern, wo das so war. Diesmal setzte aber niemand Erwartungen in uns, alles ging ja zurück auf unsere eigene Initiative.
Ursprünglich hattet ihr eine Clubtour gebucht, am Ende waren es fast schon große Hallen in Europa. Wie habt ihr das erlebt?
Sivert: Wie du schon sagtest: Die Band wurde in unserer Abwesenheit populärer. Ich hatte anfangs zwar schon so ein Gefühl, dass da einige Leute auf uns warten würden. Wie sich das dann entwickelte, konnte aber wirklich niemand ahnen. Im Vergleich zu den frühen 2000ern haben wir jetzt in doppelt so großen Hallen gespielt. Ich will nicht lügen: Das war schon eine unglaublich inspirierende Erfahrung. An manchen Abenden entstand ein fast spiritueller Vibe. Die Menschen haben die Band wirklich vermisst und wir spürten diese Liebe. Ich habe so etwas früher nicht gespürt, das war wirklich speziell.
Jon: Und es ist einfach toll zu sehen, dass auch neue Generationen auf die Konzerte kommen. Wir hatten zwischen 16 und 70 Jahren wohl so ziemlich alles. Eine sehr komplexe Mischung.
Gibt es für dieses gestiegene Interesse eine Erklärung?
Sivert: Als wir damals anfingen, gab es keinen Trend, dem wir gefolgt sind. Für mich ist das einer der Gründe, warum Musik unter bestimmten Umständen zeitlos werden kann. Unsere Songs passten Ende der 90er Jahre nicht zu den angesagten Sachen. Ich wüsste auch nicht, welches Album von 1999 so klingt wie "Industrial Silence". Gleichzeitig wurden wir auch nicht als super relevante Band angesehen, über die man viele tolle Artikel schreiben müsste. Dadurch entstand ein persönliches Verhältnis zu unseren Fans - wie bei einer Kultband. Fans mussten uns selbst entdecken und teilten ihre Freude dann wiederum mit ihren Freunden und Bekannten und so weiter.
Jon: Ich bin mir sicher, dass unsere Popularität viel damit zu tun hat, dass Sivert in all den Jahren mit seiner Soloband auch weiterhin unsere Songs in Europa gespielt hat. So wurde das Interesse an Madrugada aufrecht erhalten.
Sivert: Vielleicht auch das.
"Unser Produzent wollte einen dichten, kompakten Sound"
Jon, was hast du und Frode getrieben, während Sivert sich in seine Solokarriere gestürzt hat? Wart ihr auch in Bands tätig oder habt ihr der Industrie den Rücken gekehrt?
Jon: 2004 habe ich noch eine Platte veröffentlicht, aber ansonsten war ich viele Jahre lang raus aus dem Geschäft. Ein paar Jahre habe ich hinter den Kulissen bei einem Veranstaltungsort gearbeitet. Frode führt einige Bars und Clubs. Sein Business ist über die Jahre immer größer geworden und etwas kompliziert zu erklären. Er arbeitet auch für eine Tech-Firma, die Spiele entwickelt.
Nicht alle Songs auf der Platte sind neu, zwei davon sind noch gemeinsam mit Gitarrist Robert Burås entstanden. War es nach der langen Zeit einfacher, sich auf solche Aufnahmen mit ihm einzulassen?
Sivert: Ja, es ist einfach viel Zeit vergangen seit damals. Von daher hast du wohl recht. Man kann es einfach nicht ändern. "The World Could Be Falling Down" ist aus der Zeit von "Industrial Silence" und "Slowly Turns The Wheel" kam ein paar Jahre später. Beide Songs hätten wir damals eigentlich aufnehmen müssen, aber wir haben sie einfach nicht in der vorhandenen Zeit fertig gekriegt.
Jon: "The World Could Be Falling Down" klang uns damals zu sehr nach dem Song "Shine" auf "Industrial Silence". Umso schöner, dass wir uns jetzt noch mal drangesetzt haben. Im Moment ist es sogar mein Lieblingslied auf der Platte.
Wo habt ihr diese Songs gefunden? Gibt es ein Band-Archiv mit unvollendeten Songs?
Sivert: Ich glaube, Frode hat beide vorgeschlagen. "The World Could Be Falling Down" haben wir dann sogar aus dem Gedächtnis gespielt, oder?
Jon: Ja, wir haben kein Demo angehört.
Sivert: Und den anderen Song doch auch nicht ...?
Jon: Den habt ihr angefangen, nachdem ich schon weg war. Das musst schon du wissen.
Sivert: Hmm, ich kann mich an kein Demo erinnern. Meine Güte, wir sind ja so intelligent.
Ich finde es erstaunlich, dass man die zwei alten Songs als Außenstehender nicht sofort benennen kann. Die Platte klingt wie aus einem Guss.
Sivert: Ja, das ist vielleicht ein bisschen seltsam. Aber ich sehe schon eine direkte Verbindung von diesem Album zu "Industrial Silence". Wenn du zwei Jahre deines Lebens darauf verwendest, den Sound deines Debütalbums auf der Bühne nachzustellen und anschließend direkt in ein Aufnahmestudio gehst, wäre es ja verrückt, wenn dich das nicht irgendwie beeinflussen würde.
Jon: Wir waren ja mit unserer Liveband in L.A. im Studio und haben dort alles live aufgenommen, einfach weil wir so eingespielt waren. Dadurch kommt sicher auch dieser kohärente Höreindruck zustande. Wir sind nach den 80 oder 90 Konzerten 2019 zu einer Einheit geworden. Das beantwortet auch ein bisschen deine Frage mit Robert: Wir sind heute eine andere Band als damals.
Euer Gitarrist Cato ist ja ein langjähriger Freund von euch und spielte schon in Siverts Soloband.
Sivert: Cato und Christer sind beide in meiner Soloband. Cato kennen wir schon ewig, er war auch eng mit Robert befreundet und spielte 2008 mit uns nach Roberts Tod. Wir liebten damals alle seine Band Cato Salsa Experience. Wir waren damals alle Teil einer Szene, naja, Szene vielleicht nicht, aber wir hingen alle in derselben Bar ab. Dadurch entstand ein enges Band und es ergab einfach Sinn, dass er dabei ist.
Wie schwer fiel es ihm, in Roberts Fußstapfen zu treten?
Sivert: Für die Tournee war es uns sehr wichtig, die Stimmung so eng wie möglich an die Originale zu binden. Cato ist diese Aufgabe mit viel Respekt angegangen und hat einen wunderbaren Job gemacht, ohne zu versuchen, Robert zu imitieren. Uns ist bewusst, dass wir nicht mehr so klingen können wie damals. Wir haben auch gar nicht versucht, Robert zu ersetzen. Cato und Christer bringen beide eigene Impulse ein und sind fantastische Keyboarder und Organisten, was den neuen Sound der Band auch von früher unterscheidet.
In L.A. wolltet ihr nach den eigentlichen Aufnahmen noch die Overdubs machen, als die Pandemie einsetzte. Daher musstet ihr überstürzt abbrechen und habt diese Arbeit von Norwegen aus mit eurem US-Produzenten über Zoom gemacht. Wie lief diese neue Erfahrung ab?
Jon: Man muss dazu sagen, dass wir die Platte zu diesem Zeitpunkt fertig eingespielt hatten. Wir wussten also schon recht gut, in welche Richtung wir gehen wollen. Unser Produzent fügte beim Overdubbing dann Synthie- und Gitarrenspuren und einige Layers hinzu, die wir teilweise wieder wegnehmen mussten. Er wollte einen sehr dichten, kompakten Sound und wir im Prinzip das Gegenteil.
Das war sicher eine gute Entscheidung. Gerade "Nobody Loves You Like I Do" lebt von dieser Kargheit. Die minimale Struktur kommt sehr mühelos und unverkopft rüber, aber wahrscheinlich sitzt man gerade an solchen Momenten sehr lange, bis man diese spezielle Atmosphäre hinbekommt, oder?
Jon: Dieser Song kam zu uns wie in den alten Zeiten. Frode brachte das Bassriff ein, und wir beide jammten eine Weile dazu. Dann hatte Sivert eine Idee für eine Gitarrenspur. Der Song ist also tatsächlich mühelos entstanden. Ich glaube, wir hatten das finale Songgerüst nach gerade mal einer halben Stunde.
Sivert: Am meisten Mühe machte der Schluss. Aber das ist ja bei vielen Songs so. Beim Mixing gab es allerdings einige verschiedene Versionen.
Ist der Song auch eine Art Gedenken an Robert, da er die Platte eröffnet?
Sivert: Vom Titel her könnte man das annehmen, aber ich verarbeite es danach im Song "Running From The Love Of Your Life", das mit "Chimes At Midnight" ein Shakespeare-Zitat beinhaltet. Es geht darin um Nostalgie, alte Freundschaften und wie man sich gemeinsam an die Vergangenheit erinnert. "We've heard the chimes at midnight", wir haben die Nächte gemeinsam durchgemacht. Solche Sachen. Für mich klang die Zeile sofort nach einem Madrugada-Album. Es passte dann zu all den Themen, die das Album aufgreift: Zeit, Freundschaft, Familie, Kinder, Partys; einfach das Leben im weitesten Sinne.
"Das neue Album ist entstanden, um es live zu spielen"
"Slowly Turns The Wheel" hat mich umgehauen und zählt neben dem Opener zu meinen Lieblingstracks auf der Platte. Dunkel und majestätisch, so wie man euch liebt. Toll auch, wie die reduzierten Strophen dann in diesen bewegenden Refrain münden. Es will mir nicht in den Kopf, wie ihr den damals außer Acht lassen konntet.
Sivert: Vielen Dank. Der Song stammt aus den Aufnahmensessions zum "Grit"-Album. Damals gab es in der Band eine Fraktion, die aus Madrugada eine Punkband machen wollte. Ich liebte den Song damals schon, aber wir hatten einfach sehr viele Songs zur Auswahl. Die Platte hätte, unter diesem Aspekt betrachtet, auch total anders klingen können. Es gab sicher vier oder fünf Songs, die eher diesen Van-Morrison-artigen Soulvibe transportierten, aber die nahmen wir damals gar nicht auf. Dieser Song blieb mir allerdings in Erinnerung.
Norwegen hat eine hohe Impfquote, fast 90 Prozent. Gerade wurde das Verbot des Alkoholausschanks in Bars wieder zurückgenommen. Anfang Februar wollt ihr zwei Konzerte im Spektrum in Oslo spielen, im März wartet Europa. Könnt ihr dahingehend etwas sagen?
Sivert: Die Oslo-Konzerte stehen auf der Kippe. Es sieht nicht so gut aus. Momentan sind 200 Besucher erlaubt, selbst im Spektrum, was sich komisch anhört. (Anm. d. Red.: Nachdem die Regierung Ende Januar neue Regeln für Zuschauerkapazitäten in Innenräumen veröffentlichte, beschloss die Band, beide Konzerte zu spielen. Erlaubt sind im Spektrum demnach immerhin 1.500 Zuschauer.)
Jon: Allerdings hat sich gerade gestern unsere Kultusministerin mit Covid infiziert. Daher müssen wir einfach weiter abwarten.
Sivert: Was die Europa-Tournee im März angeht, sind wir aber weiter optimistisch. Viele Tickets wurden verkauft und wir hoffen, im Rahmen der Möglichkeiten so viele Konzerte zu spielen wie wir können. Aber natürlich liegt es nicht in unseren Händen.
Jon: Aus Deutschland hat unser Tourmanager positive Signale hinsichtlich der Konzerte bekommen. Die Lage kann sich zwar schon morgen wieder ändern, daher warten wir einfach ab.
Würdet ihr die Tournee verschieben, wenn sie jetzt nicht stattfinden könnte?
Sivert: Auf jeden Fall. Das neue Album ist ja gerade entstanden, um diese Songs live zu spielen. Alles andere würde für uns keinen Sinn ergeben.
Jon: Wir sind auch schon seit Wochen in der Vorbereitungsphase und proben. Wie in einem Tunnel. Wir tun so, als sei alles normal und im März geht es dann los. Warten wir es ab.
2 Kommentare mit einer Antwort
Curse hat momentan echt viel zu tun.
madrugada 2005 mitten in der nacht auf der kleinen bühne des greenfield-festivals kennen zu lernen war mir ein nachhaltiges erlebnis...
die stimme von sivert und die gitarre von robert waren einfach beeindruckend!!!
so, dass ich nach der heimreise gleich alle alben bestellen musste...