Musikfans, Techniknerds, spirituell interessierte Zeitgenossen: Mit seinen klugen und unglaublich lustigen Memoiren kriegt Hancock sie alle.
Los Angeles (dani) - Musiker schreibt Buch. Das gerät oft genug langweilig, wirkt sprachlich holprig oder wie ein allzu durchsichtiger Versuch, die Zielgruppe ein weiteres Mal abzumelken. Im schlimmsten Fall kommt alles zusammen. Im besten Fall kann es aber auch hochgradig unterhaltsam, informativ, erhellend und dabei noch unglaublich lustig zugehen. In diese erfreuliche Kategorie fallen Herbie Hancocks Erinnerungen, festgehalten unter dem Titel "Möglichkeiten" (Hannibal, Hardcover, 336 Seiten, 28 Euro).
Die Übersetzung des Originaltitels "Possibilities" mag ein wenig ungelenk anmuten, abgesehen davon leistet Alan Tepper, der Hancocks Memoiren aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertrug, aber gute Arbeit. Seine Übersetzung der unter Beihilfe von Sachbuchautorin Lisa Dickey zusammengetragenen Erinnerungen, Geschichten und Anekdoten liest sich so locker, luftig und unpretentiös, wie man sich vorstellt, dass Herbie Hancock sie erzählen würde, barfuß, im Schneidersitz, vom Sofa herab.
"Oh, Scheiße!"
"Möglichkeiten" entpuppt sich von der ersten Seite an als ein einziger Glücksfall. Hier erinnert sich Hancock mit spürbarem Schaudern an einen Auftritt mit Miles Davis, irgendwann in den Sechzigerjahren in Stockholm, bei dem er sich nicht mit Ruhm bekleckert hatte:
"Miles beginnt seinen Part, baut das Solo auf und holt kurz Luft, bevor er sich gehen lässt. Und exakt in dem Moment spiele ich einen Akkord, der unglaublich falsch ist. Ich weiß gar nicht, woher er kam - es ist ein falscher Akkord an der falschen Stelle, und er liegt nun wie der Geruch von fauligem Obst in der Luft. Oh, Scheiße!"
Diese winzige Passage lässt schon durchschimmern, was Herbie Hancock zu bieten hat: über mehrere Jahrzehnte Erfahrung im Musikgeschäft, erworben an der Seite der ganz Großen. Unbarmherzige Fähigkeit zur Selbstreflektion. Selbstkritik. Selbstironie. Sprachgefühl. Witz. In der Kombination: schlicht ein Traum für jeden musikbegeisterten Leser. Oder für jeden Techniknerd. Oder für spirituell interessierte Zeitgenossen. Herbie Hancock kriegt sie alle.
(We've got) Jazz
Am Ende von "Möglichkeiten" angelangt, weiß ich eine Menge mehr über Jazz, seine Entwicklung und einige seiner Protagonisten als vorher. Außer mit dem bereits erwähnten Miles Davis spielte Hancock mit Donald Byrd, der ihn einst unter seine Fittiche nahm. Er spielte mit Wayne Shorter, Chick Corea, Tony Williams, Wynton und Branford Marsalis und unzähligen anderen. Für jeden seiner Wegbegleiter findet er treffende, niemals aber respektlose oder gar verletzende Worte.
Es geht in "Möglichkeiten" aber nicht nur um Jazz. Herbie Hancock wäre es viel, viel zu langweilig gewesen, sich auf ein Genre festnageln zu lassen. Es geht auch um Ambient- und Weltmusik, Electronica, Funk und um die Anfänge von Hip Hop.
Nerdish by nature
Ich weiß nun eine Menge mehr über Musiktheorie und einiges mehr über Technik: Neben Musik hatte Herbie Hancock einst eine Weile lang Elektrotechnik studiert und sich das Interesse an technischen Spielereien, Entwicklungen und den immer neuesten Gadgets bewahrt. Dieses Faible transportiert er in seinen Erinnerungen überaus lebendig, ohne dabei in nerdiges Dozieren zu verfallen.
Eine kleine Synthesizer-Warenkunde gibt es als Sahnehäubchen, die Kirsche obendrauf: Ich wette, ihr wusstet nicht, dass sich Hancock und Stevie Wonder bei den Herstellern der jeweils neuesten Geräte Wettrennen um das Teil mit der Seriennummer 1 lieferten? Jetzt wisst ihrs.
Nam Myoho Renge Kyo
Ich erfahre eine ganze Menge über Buddhismus und die Praktik des Chantens, ohne dass es auch bei diesem Thema jemals unangenehm missionierend zuginge: Hancock teilt vielmehr nüchtern die Erfahrungen seiner eigenen spirituellen Sinnsuche mit und überlässt jedem selbst, daraus seine Schlüsse zu ziehen - oder eben nicht.
This Boy's Life
Ganz nebenbei zeichnet "Möglichkeiten" ein sicher verzerrtes, weil subjektives, aber dennoch ungemein interessantes Bild vom Aufwachsen eines schwarzen musik- und technikbegeisterten Jungen. Hancock fängt Geschichte und Zeitgeist ein, zeigt sich dabei nahbar, sympathisch, menschlich und gesegnet mit unerschütterlichem Optimismus, mit dem er selbst den unerfreulichen Episoden seines Lebens noch etwas Positives abringt.
Herbie Hancock, so scheint es, führte und führt ein erfülltes Leben: ein schlauer und ein glücklicher Mann, dessen Erinnerungen so vielgestaltig, schillernd und inspirierend ausfallen wie seine Musik. Lest das!
5 Kommentare mit einer Antwort
Bedankt, klingt interessant!
Ehrenmann. Sein Konzert auf der Avo Session 2006 mit Colaiuta an den Drums ist bei mir seit Jahren fest in der Playlist verankert.
Buch interessiert mich zwar nicht, aber gute Besprechung. Nachdem du Kollegah lesen musstest, war das hier sicher ein Balsam.
oh, ja! der komplette gegenentwurf.
Guter Tipp lese Biografien sowieso gern wird dann mein 100.001 Buch
Hab schon locker 120k Biografien gelesen und es würde mich doch sehr überraschen, wenn diese hier mir etwas Neues böte.
Danke für die Empfehlung, habs gerade durch. Beeindruckende Vita tatsächlich, auch für einen Genrerandständigen wie mich, dazu sehr angenehm erzählt. Nur mit der häufig zumindest implizit, hier und da auch explizit behaupteten Kausalität zwischen Buddhismus und einzelnen Schicksalsentwicklungen kann ich mich als dauerskeptischer Eso-Hasser natürlich nicht so recht anfreunden. Seis drum, ist zwar erst meine 67.322ste Bio, aber trotzdem seit Born to Run locker die beste. Ich bin dann mal ein paar Alben nachholen...