Eine weiße Frau aus Mannheim berichtet aus dem "engsten Kreis der größten Band der Welt": verrückte Einsichten in ein dysfunktionales Familiengebilde.

New York (dani) - Eine Berufseinsteigerin im Musikmarketing, eine weiße Frau aus Mannheim, obendrein Hardrock-Fan, die mit Hip Hop nichts am Hut hat, bekommt den Auftrag, des Wu-Tang Clans Debüt-Album international zu promoten. Fast dreißig Jahre später, den Respekt der Crew hat sie da längst errungen, arbeitet sie mit einigen Clanmitgliedern noch immer zusammen. Die Geschichte ist einfach zu gut und zu absurd, um sie nicht aufzuschreiben. Gut, dass Eva Ries es getan hat. In "Wu-Tang is forever" (Benevento Publishing, 240 Seiten, gebunden, 28 Euro) berichtet sie, der Untertitel verrät es, aus dem "engsten Kreis der größten Band der Welt".

Geschäftsmäßige Nüchternheit, zwischenmenschlicher Irrsinn

Minimale Kritik vorab: Ich habe schon sprachlich Eleganteres gelesen. Man merkt, dass Eva Ries das Musikgeschäft eher von der Business- als von der künstlerischen Seite aus beackert. Die eine oder andere Floskel ("Aber der Reihe nach") oder inhaltliche Wiederholung hätte ihr ihre Co-Autorin, Journalistin Annette Utermark, vielleicht besser austreiben sollen, dem Lesegenuss wäre das förderlich gewesen. Andererseits: Ries' nüchterne Sprache kontrastiert den zwischenmenschlichen Wahnsinn, den sie schildert, dann auch wieder ziemlich wirkungsvoll, und dass bestimmte Situationen wieder, wieder und wieder in ähnlicher Weise eskalierten ... das war wahrscheinlich einfach so.

Enter The 36 Chambers

"Wu-Tang is forever" lässt keinen Zweifel offen: Eva Ries war ganz nah dran, sie war mittendrin in den 36 chambers. Ihren Einfluss auf das Geschehen redet sie dabei nirgends klein. Wenn sie etwa erzählt, wie sie sich in künstlerische Entscheidungen einmischte, dass ohne sie zum Beispiel Xavier Naidoos gemeinsame Single mit dem RZA, "Ich Kenne Nichts ...", gar nicht erst zustande gekommen wäre, oder dass auf "8 Diagrams" nur ihretwegen George Harrisons "My Guitar Gently Weeps" Eingang fand, dann wirkt das stellenweise schon ganz schön eingebildet.

Apropos Naidoo: Ich hätte durchaus angemessen gefunden, nicht nur dessen "unverkennbar melodisch-samtige Stimme" zu bejubeln, sondern in dem Zusammenhang auch auf seine inzwischen offen zutage getretene bedenkliche Durchgeschossenheit einzugehen. Wenigstens in einem Nebensatz. Aber vielleicht auch ganz gut, dass dieser Typ nicht allzu viel Raum zugesprochen bekommt.

Grenzenlose Hochachtung

Vorherrschend weckt Eva Ries jedenfalls von der ersten bis zur letzten Seite das Gefühl grenzenloser Hochachtung. Wie konnte jemand das bei offensichtlich guter geistiger Gesundheit überleben? Wie konnte sie diesen Höllenjob überhaupt übernehmen? Neun mehr oder weniger kriminellen, eher mehr als weniger paranoiden Straßenjungs, die ihre Hood bis dahin noch nie wirklich verlassen hatten, die Welt und der Welt den Clan zu zeigen, klingt herausfordernd genug. Wenn dann noch ein aufgeblähtes Umfeld von Verwandten, Homies, Wichtigtuern dazukommt und allenthalben riesige Egos aufeinandercrashen, macht das die Angelegenheit nicht gerade einfacher.

Selbst für jemanden wie Eva Ries, die zuvor Nirvana zusammengeschissen hatte und auf der "Use Your Illusions"-Tour für Guns N' Roses tätig war, bedeutete die Arbeit mit dem Wu-Tang Clan einen Kraftakt bis dahin nie gekannten Ausmaßes. Allein schon die bürokratischen Hürden, die sich vor der ersten Europa-Tournee auftaten: "Die meisten Clan-Mitglieder besaßen zu der Zeit noch nicht einmal einen Reisepass, um ins Ausland zu reisen", schreibt Ries. "Warum auch? Sie hatten zuvor nie einen Pass gebraucht. Keiner der neun hatte vor 1994 je amerikanischen Boden verlassen, und einige von ihnen durften nicht mal offiziell ausreisen, weil sie wegen irgendeiner Straftat auf Bewährung waren."

Nationalität: black

Die Beschreibungen der Odyssee durch die Behörden, bis alle nötigen Papiere zusammengetragen waren (und auf niemandes Antragsformular im Feld für Nationalität mehr "black" stand), treibt einem den kalten Schweiß auf die Stirn. Mit gewalttätigen Ausbrüchen, Randale, Schießereien, Sex-Eskapaden und tausendundeinem gebrochenen Versprechen haben wir da noch gar nicht angefangen. Egal, wie übertrieben selbstbewusst Eva Ries einem in manchen Momenten vorkommt, am Ende möchte man die Worte Raekwons mit fettem schwarzem Marker unterschreiben: "Eva, you went through hell with us", soll der Chef ihr den Ritterschlag erteilt haben. "You've always been a loyal soldier, but you are more than that: you are a general. You truly earned your stripes."

Den Respekt der Clan-Mitglieder hatte sie sich offenbar schon viel früher erarbeitet, wie eine der grotesken Storys zeigt: Auf der ersten Europa-Tournee des Clans rückte Eva Ries lautstark mit Mook aneinander, der als "Manager" der Band mit der Entourage unterwegs war und in seiner Geltungssucht ihre Promo-Arbeit sabotierte. Die Crew vor die Wahl zu stellen, "Er oder ich": mindestens mutig. Dass die Entscheidung zuungunsten des Kumpels ausfallen könnte, erschien schließlich alles andere als sicher. Als Method Man am nächsten Tag den Tourbus an einer Autobahnraststätte halten ließ, Mook aus dem Gefährt komplimentierte und ihn dort stehen ließ - in England, im strömenden Regen - zeigt, dass die Chuzpe der kleinen weißen Frau aus Mannheim doch ziemlichen Eindruck gemacht haben muss.

Kollision der Welten

Ganz offensichtlich schaukelte Ries die Kollision verschiedener Welten professionell, sensibel und mit beeindruckenden Ausmaßen von Improvisationstalent und stoischer Duldsamkeit. Der Lohn der Mühen: Sie gewann intime Einsichten in das Bandkonstrukt, das sie treffend als "dysfunktionale Familie" beschreibt. In "Wu-Tang is forever" skizziert sie, illustriert mit zahlreichen Anekdoten, die einzelnen Crew-Mitglieder und ihr Verhalten und lässt so plastische Charaktere entstehen. Fangirl-Brille trägt Ries keine, sie kehrt auch viele unschöne Züge ihrer Schützlinge nicht unter den Tisch. Trotzdem klingen überall - nicht nur in der liebevollen Darstellung Ol' Dirty Bastards, dem sie als einzigem ein eigenes Kapitel widmet - Zuneigung, Respekt und das ehrliche Bemühen um Verständnis für eine ganz andere Lebensrealität durch.

Anders als bei dem höflich namentlich ungenannt gebliebenen "Journalist, den man nur als Hochstapler bezeichnen kann" (nicht allzu schwer zu eruieren, auf welchen Artikel die Autorin damit abzielt), bestehen an Eva Ries' Glaubwürdigkeit keinerlei Zweifel. Ihre Arbeit für und mit dem Clan ist bestens dokumentiert. Obendrein belegt sie ihr Dabei-gewesen-Sein im (optisch übrigens wundervoll ansprechend gestalteten) Buch mit Unmengen von Fotos.

Kein Wunder, dass es jemanden, der diese Ochsentour überlebt hat, auch nicht mehr schreckt, später Booking für "German Superstar NENA" zu machen, die soll ja auch recht ... herausfordernd sein. Erzählt man sich.

Kaufen?

Eva Ries - "Wu-Tang is forever"*

Wenn du über diesen Link etwas bei amazon.de bestellst, unterstützt du laut.de mit ein paar Cent. Dankeschön!

Fotos

Method Man und Wu-Tang Clan

Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Niko Dittmann) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Niko Dittmann) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Niko Dittmann) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Niko Dittmann) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) Method Man und Wu-Tang Clan,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta)

Weiterlesen

laut.de-Porträt Wu-Tang Clan

Wenn sich überhaupt irgendeine Crew mit dem Titel "Supergroup" schmücken darf, dann der Wu-Tang Clan. Neun Herren aus Staten Island und Brooklyn machen …

laut.de-Porträt RZA

Anfang der Nullerjahre kürt ein amerikanisches Musikmagazin die vierzig einflussreichsten Männer im Musikgeschäft. Wenig überraschend, dass man unter …

laut.de-Porträt Ol' Dirty Bastard

Noch Jahre nach seinem Tod kommt kaum eine Veröffentlichung seiner Wu-Tang Clan-Brüder ohne ihn aus: Ol' Dirty Bastard grüßt derart nachhaltig aus …

Noch keine Kommentare