Der Kölner Autor und Liedermacher geht der italienischen Seele in 100 Songs auf den Grund. Ein musikalisch literarischer Kompass.
Luogo del Desiderio (rnk) - Musik und Deutschland. Eine Art Zwangsehe. So nebenher und fast schon zweckgebunden. Auf der Autofahrt zum Büro, im Büro dann als Hintergrundbeschallung. Es ist ja nicht so, dass Deutsche kleine Musik mögen, aber als integraler Bestandteil des Lifestyles doch eher nicht. Anders verhält sich das in einigen Nachbarländern und vor allem natürlich in Italien.
Doch was wissen wir schon über Italiens musikalische Kultur - von aktuell Roy Bianco, dem 80er-Power-Paar Al Bano & Romina und natürlich Schmusesänger Eros Ramazzotti abgesehen? Den Traum aller 90er-Mittelmeer-Urlauberinnen wollte Eric Pfeil erst gar nicht in seine Sammlung der 100 Songs aufnehmen, gelangte später aber zur gegenteiligen Überzeugung. Seine Beziehung zu Meisterregisseur Federico Fellini bleibt jedenfalls erstaunlich, darüber verraten wird an dieser Stelle aber nichts.
Alles mehr am Mittelmeer
Wer dem früheren Viva 2-Programmchef, Musiker und Rolling Stone-Redakteur auf Social Media folgt, kennt seine nie enden wollende, tiefe Liebe zur italienischen Lebenskultur schon lange. Die Follower werden häufig mit "Amici" (Freunde) und "Raggazzi/Raggaze" (Jungs/Mädels) begrüßt. Das Land in Stiefelform steht aber nicht nur für seine Urlaubs-Sehnsucht, sondern inspiriert Pfeil auch.
Im Gegensatz zu Deutschland und seinem Mittelmaß-Fetisch scheint dort viel zu viel oder eben "mehr" zu sein. Mehr Leidenschaft, mehr Essen, mehr Lärm, mehr Schönheit, mehr Leben. Gegensätze wie Queerness und Erzkatholizismus. Alles ist Kunst, und sei es ein Streit, der wie eine Oper inszeniert wirkt. Es ist wohl wie mit dem Humor, der in vielen Ländern als Kunstform ernstgenommen wird. So gilt auch am Mittelmeer das Motto: 'Das Leichte ernstnehmen.'
Von Spatzen und Nachtigallen
Es brauchte am Ende aber doch die Pandemie und einen Fan, der Pfeil auf die Idee brachte, über die Azzurri und ihre Musik ein Buch (Eric Pfeil: "Azzurro", KiWi-Taschenbuch, 368 Seiten) zu schreiben. So erzählt es jedenfalls der Autor zu einem leckeren Menü im Kölner Restaurant Ludari und beißt genüsslich in die Bruschetta. Allein und sich selbst überlassen, erblühen oft die besten Ideen, und dieses Buch ist definitiv eine davon.
Klar könnte auch ein Italiener über sein Land schreiben, aber interessanter kann die Sicht eines Reisenden zwischen den Welten sein, der einem das Land am Mittelmeer näher bringt, das wir zwar jährlich als Alman-Touristen fluten, dessen Kultur uns aber abseits von Sightseeing-Highlights in der Regel wenig interessiert. Einen Türöffner dazu sieht Pfeil im Dichter Lucio Dalla, der seine Nation wie folgt beschreibt: "Wir Italiener sind Spatzen und Nachtigallen. Alle singen bei uns." Schon mal auf den Gedanken gekommen, im Münsterland spontan Tisch und Gitarre herauszuholen und gemeinsam mit den Nachbarn zu musizieren? Und falls ja, Anrufe wegen Ruhestörung dürften nicht lange auf sich warten lassen.
Mit Wolfgang Bosbach zum Papst
Aus allen Gassen tönt Musik, ja, Italien Ist Musik. Doch wann fing das überhaupt an? Ein Anfang findet sich wohl im 19. Jahrhundert mit dem 'Canzone Italiano', das auf Italo Disco und das alljährliche Sanremo-Festival immer noch nachwirkt. Dessen Einschaltquoten übersteigen anscheinend die von "Wetten dass..?" in den besten Gottschalk-Zeiten. Ein nationales Ereignis, so erzählt Eric Pfeil zur Pasta Vongole, schön scharf gewürzt. Möchte man bei diesem kulinarischen Dialog mit Olivenöl und Meeresfrüchten an den aus Talkshows bekannten, rheinischen Politiker Wolfgang Bosbach denken? Nein, aber während ich Venusmuscheln ausschabe, tut es Eric doch, zumal sein Buch an dieser Strelle beginnt.
Die katholische Frohnatur organsierte einst eine Busreise von Bergisch-Gladbach nach Rom zum Papst. Schon damals war der Christdemokrat nicht um Aufmerksamkeit um seine Person verlegen und gab den Reiseführer - mit Wortwitzen aus der Hölle. Stundenlange Busfahrten bleiben dann erträglich, wenn wenigstens die Musik stimmt. In diesem Falle kommt Pfeil in Berührung mit "Aida". Nicht die Oper, sondern der Liedermacher Rino Gaetano. Eine Sehnsucht in vier Akkorden, eine große Erzählung über mehrere Epochen. Das Leid, der Krieg, die Politik. Geschmettert voller Inbrunst, die Kehle rau.
Krise ist immer
Alles ist Krise, seit vielen Jahren. Wo Deutsche schon bei temporärer Verknappung von Klopapier und Mehl in Endzeit-Depression verfallen, hat die Überlebenskunst am Mittelmeer lange Tradition. Traurigkeit ist trotzdem in Ordnung, Beispiel Francesco De Gregori: Der italienische Bob Dylan streichelt zart das Klavier und die Seele. Weit weg vom Stampf, den Deutsche von ihren Klischee-Italienern so lieben. Ausgerechnet die Hauptstadt Rom zeigt sich hier weniger expressiv und vergleichsweise reserviert. Wahrscheinlich ein Lied für melancholische Nächte, in denen der Wein das Herz schwer werden lässt. Zum Heulen schön. Pathos mit voller Seele.
Die Zukunft der italienischen Musik
Aber Pfeils Buch beschreibt nicht nur die Klassiker des italienischen Kanons, auch aktuelle Musik ordnet Pfeil ein. Klar, Corona betraf auch uns Deutsche, aber in einem Land voller Leben, dass sinnbildlich für die erste Corona-Zeit stand, befürchtete man von außerhalb fast schon das Ende eines ganzen Lebensstils. Das Getümmel, das Leben und das Chaos des Sanremo-Festivals standen vor dem Aus, seit 1951 zum ersten Mal. Keine fünf Tage voller Musik. Nein, das konnte nicht sein. Und während Deutschland - von den ersten, wenigen Monaten abgesehen - durch die Pandemie stolperte, nahm man in Italien unter strengsten Auflagen und perfekt organisiert das Heft in die Hand.
Am Sonntagmorgen des Festivals ging der Stern einer Band auf: Måneskin, die mit dem Sieg beim ESC schnell zu einem internationalen Phänomen wurde und dieses Jahr sogar das Coachella rockte. Eric Pfeil ist kein Fan der Band, die er für einen 90er-Jahre-Aufguss hält, von den Medien aber als eine Art Revolution angesehen wird. Die 19-jährige Rapperin Madame sieht er dagegen als die wahre Zukunft der italienischen Musik an. Die große Tradition der Azzurri trifft hier auf modernen Trap-Sound. Vielleicht die Zukunft, aber eben auch tief in der großen Musik Italiens verankert.
Der Anwalt in Asti
Aber was bedeutet Zukunft in einem Land, in dem alles gleichzeitig vorwärts und rückwärts läuft? Mit Krümeln im Mund, Kuchen und Espresso wurden gereicht, spricht Pfeil über dieses Phänomen. Alte Gassenhauer und neue Musik vermischen sich zu einem Grundrauschen. Kein Klassiker nur für Omi oder Ramazotti für den Papa, auch der Enkel lebt und liebt die Ikonen. Helden wie Paolo Conte wollte Pfeil trotzdem nicht treffen, dabei könnte man ihn immer noch in seiner Anwaltkanzlei in der Piemont-Stadt Asti antreffen.
Wer möchte, kann die Reise von Comer See bis in den Süden nachahmen. Wer keine Zeit, Geld oder Angst hat, holt sich eben mit "Azzurro" ein Stück Italien nach Hause. Und auch dank des Weißweins fühlt sich alles plötzlich so leicht an, und sogar die Menschenmassen an der Rheinpromenade nerven nicht mehr.
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